Offensichtlich ist das Verhalten eines einjährigen Kindes im Umgang mit Gleichaltrigen meilenweit von dem eines Drei- oder Vierjährigen mit stark gleitenden Übergängen entfernt. Demzufolge ist der Spruch: „Kinder brauchen Kinder“ für soziales Lernen in den ersten drei Lebensjahren äußerst fragwürdig, da Kinder in dieser Altersspanne für die grundlegenden Reifungsschritte auf die Beziehung zu einem reifen Erwachsenen angewiesen sind.
Anfangs nimmt der Aufbau des Selbstwertgefühls und überhaupt die Wahrnehmung des Selbst und eines „Gegenübers“ viel Zeit in Form von Zuwendung in Anspruch. Erst im Gegenüber erkennt das kleine Kind sich selbst. Martin Buber beschrieb es so:
Das Ich entwickelt sich in der Begegnung mit dem Du.
Die Entdeckung einer anderen Person mit eigenem Willen, Handlungen, Gefühlen und Empathie sowie die Fähigkeit, sich in ein Gegenüber hinein zu versetzen und deren Gefühle und Absichten zu erkennen (Theory of Mind) entwickelt sich ständig und zunächst durchaus parallel zur Selbstfindung, dann aber als eigenständiger Prozess, da im Gehirn allmählich Verbindungen zwischen unterschiedlichen Gehirnregionen hergestellt werden.
Bereits kleine Kinder freuen sich oft über ihresgleichen. Spielzeiten und Begegnungen mit anderen Kindern können anregende Erfahrungen sein. Es können sich auch schon deutliche Sympathien entwickeln. Für das kleine Kind ist dabei die achtsame und liebevolle Begleitung einer vertrauten Bezugsperson als sicherer Rückhalt noch wichtig. Sind dagegen die Kleinen weitgehend sich selbst überlassen, wenn sie sich mit ihren unreifen Emotionen und Bedürfnissen begegnen, sind sie häufig überfordert. Denn sie haben z. B. noch kein Gefühl dafür, was es für ein anderes Kind bedeuten kann, wenn sie ihm ein Spielzeug wegnehmen, es umstoßen, beißen oder sich auch nur von ihm abwenden.
Kleine Kinder sind egoistisch und unsozial
Ein Kind unter 3 Jahren ist noch in der Phase der Identitätsentwicklung d. h. hier geht es in erster Linie um die Entwicklung und Erfahrung seines „Selbst“. Es ist dabei naturgemäß noch ganz auf seine eigenen Empfindungen und Vorstellungen fixiert, denn es ist ja gerade dabei, sich erst einmal selbst zu erfahren. Es ist daher noch ganz egoistisch. In der Psychologie spricht man vom entwicklungsgemäßen, gesunden „primären Narzissmus“.
In den ersten drei Lebensjahren hat das Kind noch kein Einfühlungsvermögen und kann sich noch nicht in eine andere Position hineinversetzen. Daher ist es auch noch nicht sozial.
Es kann also noch kein echtes soziales Miteinander geben. Gleichaltrige erleben sich daher tendenziell als Konkurrenten.
Statt Mitgefühl mit anderen wird es selbst angesteckt von deren Gefühlen und statt echtem Zusammenspielen gibt es meist paralleles Spielen.
Das tröstende, hilfreiche Verhalten, das manchmal bei Kleinkindern beobachtet werden kann, wird häufig bereits als soziales Verhalten interpretiert. Es ist jedoch noch kein reifes soziales Verhalten, das auf Empathie oder Einfühlung in eine andere Person beruht, sondern noch eine völlig unbewusste Handlung, die auf unwillkürlicher Nachahmung und über die Gefühlsansteckung bzw. die Spiegelneuronen ab und zu funktioniert.[1,2]
Kinder brauchen Orientierung
Wenn sich Kinder weitgehend selbst überlassen sind, gilt bei Konflikten untereinander das Recht des Stärkeren. Er setzt sich durch und nimmt z. B. dem andern das Spielzeug weg; dasjenige muss sich notgedrungen damit abfinden und lernt dabei Unterwerfung.
Manchmal wird von Eltern berichtet: „Mein Kind freut sich so auf die Kinder in der Krippe, es geht da gerne hin!“ Kinder arrangieren sich, sie passen sich an und machen das Beste daraus! Ihre Orientierung wendet sich notgedrungen von den Erwachsenen ab und den Kindern zu, denn sie sind auf Nähe angewiesen. Dadurch entsteht eine verstärkte Abhängigkeit der Kinder untereinander, was Auswirkungen für die weitere soziale Entwicklung hat. So leiden sie im Kindergarten-, Schul- und Jugendalter dann umso mehr unter den wechselhaften, unreifen Beziehungen unter den Gleichaltrigen. Gleichzeitig agieren sie unbewusst an anderen aus, was ihnen selbst widerfahren ist. Aufgrund von eigenen Trennungserfahrungen und Mangel an Mitgefühl grenzen sie sich verstärkt auch gegenseitig aus. Das um sich greifende Mobbing kann auch in diesem Zusammenhang gesehen werden.
Über die Entwicklung der Sozialkompetenz
Die Basis von späterer „Sozialkompetenz“ sind in den ersten drei Lebensjahren Beziehungen zu wenigen vertrauten, zuverlässigen und einfühlsamen, reifen Bindungspersonen (s. a.: Kindliche Grund- und Bindungsbedürfnisse).
Mit den zumeist vertrautesten Menschen – ihren Eltern – lernen die Kleinen sich selbst kennen und bauen ein gesundes Selbstwertgefühl auf, indem sie sich verstanden und angenommen fühlen. Alleingelassen sind sie ihren Emotionen und Bedürfnissen noch hilflos ausgeliefert, was emotionaler Stress bedeutet. Mit reifen, zugewandten Erwachsenen können sie Trost und emotionale Stabilisierung erfahren. Mit ihnen können sie zunehmend lernen, wie angemessen mit Gefühlen umgegangen werden kann.
Der Umgang mit den Kindern selbst wird zum Modell dafür, wie sie später mit anderen umgehen werden.
Auf diese Weise können die Grundlagen eines guten sozialen Umgangs gelernt werden – von Gleichaltrigen können sie das nicht lernen.
Da sich kleine Kinder tendenziell durch Gleichaltrige gestresst fühlen, sollte man darauf möglichst Rücksicht nehmen. Angemessene Spielsituationen können kleine Eltern-Kind-Gruppen oder Treffen im privaten Rahmen sein. Das sind ganz andere Situationen als die übliche, wechselhafte Krippen-Gruppensituation, wo die Kinder über einige Stunden oder gar den ganzen Tag mit einer Fülle von Eindrücken und Begegnungen konfrontiert und dabei weitgehend auf sich selbst gestellt sind (s. a.: Zur Situation in Krippen). Für die Verarbeitung der vielen Eindrücke, die Regulation ihrer Emotionen und die Selbstbehauptung in der Gruppe sind sie noch nicht reif.
Wie sich in vielen zuverlässigen Untersuchungen und Forschungen darstellt, entstehen durch die Krippenbetreuung daher häufig Stress, Überforderung und tendenziell langfristige Schwächen im Sozialverhalten neben anderen Störungen, wie z. B. emotionale und Konzentrationsstörungen.
Erst mit ca. 3 bis 4 Jahren beginnen Kinder über Einfühlungsvermögen und Kooperationsbereitschaft zu verfügen, vorausgesetzt, dass entsprechend mit ihnen umgegangen wurde. In diesem Alter kommen sie ins sogenannte „Spielalter“ und eigenständige Beziehungen zu anderen Kindern sind angemessen und werden immer wichtiger.
Wenn sich die Kleinkinder schon früh und verstärkt an Kindern orientieren – aus Mangel an verlässlich verfügbaren erwachsenen Bindungspersonen – kann die natürliche Orientierung am Erwachsenen verloren gehen. Das hat u. a. auch Folgen für die Erziehung zu Hause (sie hören nicht auf die Eltern) und später in der Schule (Respektlosigkeit gegenüber den Lehrern). In der Peergroup herrscht dann das Recht des Stärkeren mit Mangel an sozialer Kultur wie Mitgefühl, Hilfsbereitschaft, Konfliktfähigkeit und Kooperationsbereitschaft, was eben nur von reifen Erwachsenen gelernt werden kann, gerade in den äußerst prägenden ersten Lebensjahren.[3]
von Gisela Geist
weitere Informationen
Links zum Thema
Jesper Juul zu Beziehung statt Erziehung, familylab
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Fehlende Mutterliebe und fehlende Bindungen an vertraute Personen führen zu Persönlichkeitsstörungen im Erwachsenenleben. Oftmals gelingt es den Betroffenen später nicht, sich von dieser Belastung aus der Kindheit ganz zu befreien. Doch bedeutet eine unglückliche Kindheit wirklich ein unglückliches Erwachsenenleben zu führen?
Persönlichkeitsentwicklung in früher Kindheit, Interview mit Dr. Nicole Strüber vom Institut für Hirnforschung, Uni Bremen, und Autorin des Buchs: Die erste Bindung (Rezension)
Kinder denken einfach anders, 20 wegweisende Erkenntnisse der psychologischen Forschung, die das Familienleben leichter machen, Elisabeth Rose, Kösel-Verlag
Broschüre „Bindung vor Bildung“
Schon Einjährige in die Kita? „Risiko für eine gesunde kindliche Entwicklung“, Gisela Geist, Kinderpsychotherapeutin, News4teachers.de – Das Bildungmagazin, abgerufen am 16.11.2024