Kinder denken anders - Elisabeth Rose

Elisabeth Rose
Kinder denken einfach anders
20 wegweisende Erkenntnisse der psychologischen Forschung, die das Familienleben leichter machen
Kösel-Verlag, München
ISBN: 978-3-466-31171-2
256 Seiten
18,- Euro

Über das Internet informieren sich Eltern zunehmend über wissenschaftliche Studien, aus denen Aussagen zur Entwicklung von Kindern hervorgehen. Das hilft jedoch nicht immer, sondern kann beunruhigen, wenn das Fachwissen fehlt, um diese Studien richtig zu interpretieren. Elisabeth Rose stellt deshalb mit ihrem Buch „Kinder denken einfach anders“

zwanzig vielfach überprüfte Forschungsarbeiten renommierter Entwicklungspsychologen vor, die Einblicke in die wichtigsten Entwicklungsaufgaben der Kinder geben und das andere Denken erklären.

Die Bedeutung des Spracherwerbs und Nachahmens

Alle zwanzig Kapitel des Buches haben ein besonderes Experiment als Aufmacher. Im ersten Kapitel geht es um den vorgeburtlichen Spracherwerb, wie dieser nach der Geburt festgestellt wird und wie sich die Sprache weiterentwickelt. Eine angeborene wichtige Fähigkeit des Kindes ist das Nachahmen anderer. Im zweiten Kapitel wird dies mit seiner umfassenden Bedeutung für die kindliche Entwicklung sowohl für die Sprache als auch für das Denken, das soziale Verstehen und die Selbstwirksamkeit beschrieben.

Wachsen und Lernen in vertrauensvoller Beziehung

Das Lernen aus positiven Konsequenzen und Experimente zur Gedächtnisleistung bestimmen den Inhalt des dritten Kapitels. Darauf folgt zuerst ein Experiment zur Objektpermanenz und dann zum Still-Face-Paradigma, das aufzeigt, wie sehr Babys auf das Anschauen und Wahrnehmen durch die Bezugsperson angewiesen sind. Das wird bestärkt im sechsten Kapitel mit Studien zur sozialen Bezugnahme und geteilten Aufmerksamkeit. Damit legt die Autorin den Eltern nahe, sich ihrer sozialen Referenz bewusst zu sein und authentisch in Beziehung zu ihren Kindern zu treten, damit diese ein gutes Gespür für die eigenen Fähigkeiten entwickeln können.

Ein zentraler Punkt in der frühen Entwicklung ist die gelungene Bindung des Kindes an seine Eltern, die mit der Fremdensituation experimentell zu erfassen ist. Darüber berichtet die Autorin in Kapitel sieben. Sie setzt dabei die Bedeutung des entwicklungsfördernden Explorationsverhaltens der Kinder im zweiten und dritten Lebensjahr mit der sicheren Eltern-Kind-Bindung in Beziehung. Die Rituale im Alltag, die Kindern Sicherheit geben, werden in Kapitel acht unter Bezugnahme auf Experimente zur klassischen Konditionierung als implizites Lernen eingeordnet.

Über den Sinn von Wutanfällen für die Eltern-Kind-Beziehung

Dem Rouge-Test zur Bestimmung des Selbsterkennens, von dem Zeitpunkt an, an dem das Kind also weiß, dass es sich selbst im Spiegel erblickt und kein anderes Kind ihm da entgegen schaut, ist Kapitel neun vorbehalten. Das Kind reagiert manchmal mit Wutanfällen auf die damit zusammenhängende Erkenntnis, ein eigenständiges Wesen zu sein. Die Autorin beschreibt, welche Bedeutung diese Wutanfälle für die Eltern-Kind-Beziehung haben.

Soziale Entwicklung – Empathie, Perspektivübernahme

Wie die Gefühlsansteckung am Beginn später in die Empathiefähigkeit übergeht und dann zum sozialen Handeln wird, ist Inhalt des zehnten Kapitels. Hier wird die Frage diskutiert, ob die Gene oder die Erziehung die vorwiegende Rolle bei diesem Entwicklungsprozess spielen. Die Autorin hebt die Bedeutung der Eltern-Kind-Interaktion dabei hervor, die trotz der vielen Stunden, die Kinder heute in Kitas verbringen, den größeren Einfluss auf die soziale Entwicklung hat.

Zum sozialen Lernen gehört ebenfalls die kognitive Fähigkeit zur sozialen Perspektiveübernahme, die Inhalt von Kapitel elf und zwölf ist. Das sogenannte Smartie-Experiment und das Marshmallow-Experiment zeigen, was Kinder in welchem Alter leisten können. Hierzu gehört die Entwicklung der Theory of Mind, die Elisabeth Rose an Laborergebnissen und Alltagssituationen aufzeigt. Sie stellt zum Schluss klar, dass die Feststellung der Fähigkeit im Experiment keineswegs bedeutet, das Kind verfügt bereits darüber. Die Entwicklung ist dann noch lange nicht abgeschlossen, vgl. S. 150.

Lernen am Vorbild von Mutter und Vater

In Kapitel dreizehn geht es um die bahnbrechenden Forschungen des Psychologen Albert Bandura zum Vorbildlernen. Die zentrale Rolle der Eltern wird hier ausführlich diskutiert, die für alle Entwicklungsbereiche wesentlich ist. Damit dieses Vorbildlernen funktionieren kann, ist allerdings mehr Familienzeit der Eltern notwendig, als dies heute die doppelte Berufstätigkeit zulässt. Mit dem dialogischen Vorlesen, bei dem Kindern Fragen zum Inhalt gestellt werden, befasst sich Kapitel vierzehn. Hier thematisiert die Autorin, ebenso wie bei den meisten anderen herangezogenen Studien, das Studiendesign. So können Erziehende die Ergebnisse besser einordnen.

Die Entwicklung der Motivation – Loben, Teilen und Helfen

Für das große Thema der moralischen Entwicklung bezieht sich Elisabeth Rose mit Kapitel fünfzehn auf die Forschungen von Jean Piaget und Lawrence Kohlberg. Zu diesem Bereich gehören das angemessene Loben sowie das Teilen, das nicht erzwungen werden sollte, damit sich die intrinsische Motivation zum Teilen und Helfen entwickeln kann.

Die Kapitel sechszehn bis zwanzig behandeln die Bereiche, die auch für die spätere Kindheit von Bedeutung sind. Die Entwicklung der Motivation und des Fähigkeitsselbstkonzepts gehören dazu, die Bedeutung der gesprochenen Worte in der Eltern-Kind-Interaktion, die Entwicklung von Resilienz und die Effekte der inneren Erwartungshaltung. Zur Resilienz hebt sie hervor, wie wichtig die sichere Bindung an die Eltern dafür ist, wie stark dieser Schutzfaktor ist und Risiken im Lebenslauf abfedert. Es können auch andere wichtige Bezugspersonen, die dauerhaft für das Kind zur Verfügung stehen, diesen Schutzfaktor ermöglichen.

Diskussion

Elisabeth Rose hat mit all den Studienergebnissen in ansprechender Weise dargestellt, wie sich dies im Alltagsverhalten der Kinder zeigt.

Es wird in jedem Kapitel deutlich, wie und warum Kinder anders denken.

Unterschiedliches Verhalten aufgrund des Temperaments berücksichtigt sie ebenso wie sie vereinzelt auf Einschränkungen in der Aussagefähigkeit bei manchen Studien hinweist.

Es liegt jedoch in der Natur der Sache, dass Aussagen der Säuglingsforschung auf Interpretationen der Forschenden beruhen und damit unzutreffend sein können. Bei der Bestimmung von Gedächtnisleistungen der Säuglinge z. B. bleiben wichtige Aspekte unberücksichtigt; insbesondere, dass die gefühlsmäßigen Erinnerungen bei Babys noch keine kognitiven Anteile haben, also die Forschungsergebnisse nichts über das Denken aussagen. Ebenso lassen die Experimente zur Objektpermanenz außer Acht, dass Babys von Beginn an unbewusst auf Neues und Interessantes fixiert sind. So sollten von den Forschenden dem längeren Schauen bei Neuem und Interessantem keine weiteren Ursachen zugeordnet werden.

Objektpermanenz, also die Fähigkeit des Kindes, Gegenstände in Erinnerung zu behalten, ist erst am Ende des ersten Lebensjahres vorhanden. Das Erinnern an einen Gegenstand ist dann zwar kurzzeitig möglich, es gibt aber noch keine zusammenhängenden Erinnerungen. So stellt die Autorin auf S. 56 die Frage, warum Kinder zwischen 8 und 15 Monate heftig reagieren, wenn die Eltern den Raum verlassen. Die Antwort lautet: Die Kinder haben dann noch keine fest verankerten Erinnerungsbilder von den Eltern im Kopf. Sie verfügen noch nicht über ein Vorstellungsgedächtnis, sondern lediglich über ein Wiedererkennungsgedächtnis, also erkennen die Eltern nur wieder, wenn sie erneut auftauchen. In der Zwischenzeit werden sie je nach Temperament von Trennungs- und Verlassenheitsängsten überflutet.

Bewegliche Objekte und Personen benötigen mehr Zeit zur Speicherung im Gehirn als unbewegliche. Das dauert bis zum Ende des zweiten Lebensjahres oder darüber hinaus, wenn ein Kind häufig Stress erlebt.

Zur Sprachentwicklung wäre zu beachten, dass es beim „unbedingten Sprechen mit Babys“ [S. 25] durchaus ein Zuviel geben kann. Gerade in den ersten Monaten liegt die Wahrnehmung der Kinder weitgehend im emotionalen und sensorischen Bereich. Da sie gleichzeitig hoch ablenkbar sind, könnte ein ständiges Sprechen stören. Hier sollte das intuitive Elternverhalten der Maßstab sein und auf Empfehlungen für Eltern verzichtet werden. Auch die als besonders geeignet empfohlene Form des „dialogischen Vorlesens“ [S. 171] lässt außer Acht, wie die Phantasietätigkeit das Denken der 2- bis 4-jährigen Kinder beim Vorlesen ausweitet; entsprechend dem Reifevorgang im Gehirn. Dieser Prozess kann durch häufiges Fragenstellen während des Vorlesens gestört werden.

Erst ab fünf Jahre kann dialogisches Vorlesen das Denken und Sprechen voranbringen, weil dann das vorlogische langsam in das logische Denken übergeht.

Bei den hier durch die Autorin herangezogenen Studien handelt es sich wie üblich um die unstrittigen Vorteile solcher Vorgehensweisen bei Kindern aus dysfunktionalen Familien. Für alle anderen gilt das nur eingeschränkt. Dies beeinträchtigt die gesamten Ausführungen der Autorin jedoch keineswegs.

Das andere Denken der Kinder geht derzeit immer wieder unter durch unser hoch beschleunigtes Leben. Das Buch von Elisabeth Rose rückt diese, von Jean Piaget im letzten Jahrhundert bereits erforschte Tatsache erneut in den Vordergrund. Der von ihr zu Grunde gelegte Ansatz mit den ausgewählten Studien der Entwicklungspsychologie und deren Bezug auf den Familienalltag ist geeignet, das Verständnis für kindliches Verhalten auszuweiten. Die Autorin geht mit ihren Erklärungen über das andere Denken der Kinder sehr einfühlsam auf die Eltern ein, so dass diese und alle, die mit Kindern im Kontakt stehen, das Buch gewinnbringend lesen können.

von Erika Butzmann

Elisabeth Rose © Andreas Schönberger

Über die Buchautorin: Dr. Elisabeth Rose

Universitätsdozentin für soziale Arbeit und Kindheitspädagogik, Psychotherapeutin für Kinder und Jugendliche. Elisabeth Rose lebt mit ihrem Mann und den beiden gemeinsamen Söhnen in Nürnberg.