Stille Kinder im Trubel des Alltags - Foto iStock © JuanmoninoIntrovertierte, sinnliche oder stille Kinder passen oft nicht in die schnelllebige Routine unseres Alltags aus Erwachsenensicht. Sie benötigen mehr Zeit, um ihre Gefühle und Bedürfnisse klar auszudrücken. Fehlen ihnen Nähe und Verständnis von ihrer wichtigsten Bindungsperson und weiteren Bezugspersonen, kann sich ein Gefühl der Einsamkeit und des Verlorenseins breitmachen. Wie sich ein Kind fühlen mag, wenn es zusätzlich mit den Sorgen und Erwartungen der Familie und anderer belastet wird, zeigt die nachfolgende Empathiegeschichte „Ein Tag in meiner kleinen Welt“, die übrigens auf wahren Begebenheiten beruht, von Beate M. Dapper.

von Redaktion fürKinder

Ein Tag in meiner kleinen Welt

Heute Morgen geht es mir nicht so gut. Manchmal bin ich ein bisschen traurig und weiß nicht genau warum. Und manchmal bäumt sich etwas in mir auf wie eine riesige Walfischflosse im Meer. Da möchte ich am liebsten alles sagen, was ich möchte oder was ich nicht möchte. Doch bevor ich die richtigen Worte finde – und vor allem so schnell, wie die anderen es brauchen –, verschwindet das Gefühl auch schon wieder so wie die Walfischflosse im Meer.

Beim Frühstück

Es gibt Kakao zum Frühstück und einen Toast mit irgendwas. Mama lächelt mich liebevoll an. Es ist ein kurzes Lächeln. Ein Lächeln, das man nicht auffangen und auch nicht richtig nicht erwidern kann. Es war so schnell wieder vorbei, wie es gekommen war. Ich lächle sie auch an, aber eigentlich wissen wir beide nicht mehr, warum. Zwischen der Kaffeemaschine, dem Butterbrot für die Schule und dem Fertigmachen im Badezimmer, tanzt Mama wie ein vom Sturmwind getragenes Herbstblatt hin und her – scheinbar ohne Ziel. Ich kann den schnellen Bewegungen meiner Mama kaum folgen. Schließlich schaute ich in die Kakaotasse und erkenne wundervolle Bilder – wie in den weißen, langsam vorbeiziehenden Wolken am Himmel.

„Hast du deine Zähne geputzt, Liebes? Dein Gesicht? Ist es gewaschen? Du wirkst noch so müde. – Ich habe gleich einen wichtigen Termin. Kämmst du noch deine Haare?“

Zu viele Fragen. Ich schaue weiter versonnen in meinen Kakao. Manchmal klingen Mamas Worte wie ein Kilogramm Smarties, die in eine Blechdose fallen. Aber wenn sie fragt: „Schmeckt es dir, mein Schatz?“, klingt es so, als würde eine der kleinen Schokolinsen neben die Dose auf das Setdeckchen aus Stoff fallen. Wie auf eine weiche, weiße Wolkenschicht. Doch dann donnert eins dieser Smarties auf den harten Blechboden und schreit: „Wir müssen los! Ach Mensch, es ist schon wieder so spät!“ Sie bemerkt, dass ich mich erschreckt habe und nun vom Tisch aufspringe. Da sagt sie: „Ich weiß, dass du das alles verstehst. Weißt du, Ich habe früher immer gut gelernt und durfte studieren. Deshalb habe ich heute eine wichtige Arbeit. Das Leben da draußen braucht mich. Am Wochenende kuscheln wir mal so richtig.“ – „Mama hat mich lieb“, denke ich, ziehe Schuhe und Jacke an, zerre meinen Ranzen aus der Ecke und trotte hinter ihr her zum Auto.

In der Schule

Stille Kinder im Trubel des Alltags - Foto photocase © epertWie jeden Tag bin ich eine Viertelstunde zu früh in der Schule. Aber ich genieße diese Zeit der Ruhe. Meine Lehrerin mag mich, weil ich, wie sie sagt, aufmerksam bin, immer meine Aufgaben schnell und ordentlich erledige und fast immer meine Hausarbeiten habe. Und weil ich ihr oder auch anderen Kindern helfe, wenn ich mit meinen Sachen fertig bin. Dann habe ich Zeit für Dinge wie die Tafel wischen, den Boden kehren, die leere Milchkiste zum Hausmeister bringen und neue Kreide aus dem Lehrerzimmer holen. – Ab und zu widerspreche ich und sage, dass ja auch noch andere Kinder für diese Arbeiten da wären. Doch dann lobt mich die Lehrerin ganz besonders, lächelt hintergründig und sagt, wie wertvoll ich für sie bin. Ich bin nicht sicher, ob sie das wirklich so meint, aber die anderen brauchen eben länger für ihre Aufgaben. Sie schaffen es nicht so leicht. Sie brauchen Zuspruch und Hilfe.

Manchmal schlendere ich nachdenklich auf dem Weg zum Hausmeister. Ich wüsste gern mehr über viele Dinge und habe so viele Fragen. – Aber dazu ist keine Zeit, weder zu Hause noch hier; vielleicht am Nachmittag in der Betreuung. Aber jetzt? Es gibt Kinder, denen geholfen werden muss.

In der Betreuung

Nach der Schule gehe ich in die Betreuung. Dort mache ich zu allererst meine Aufgaben. Doch auch hier hat niemand Zeit für meine Fragen, zum Beispiel: „Warum sehen Bienen anders? Wo wohnt Gott? Warum sind Walfischflossen so groß?“

Es gibt Mittagessen. Dann Spiele aus dem Regal. Und wenn die Sonne scheint, ist Kollektivtoben angesagt. Das ist schön anzusehen, aber selbst mag ich nicht toben. Manchmal darf ich auch in der Küche helfen oder verlorene Spielsteine suchen, weil ich so geschickt bin, sagt die Betreuerin. Das muss gefördert werden, sagen dann alle. Das ist auch schön.

Erstes Zwischenspiel: Im Theater

Am Nachmittag gehen wir ins Theater. Es ist ein Stück über eine Prinzessin, die sich verlaufen hat und nur unter Bewältigung vieler Aufgaben und Gefahren den Weg nach Hause findet. Mithilfe einer Knallerbse, eines sprechenden Regenwurms und des Geistes der guten Wege schafft sie schließlich alle Hürden und fällt den Eltern erschöpft, aber glücklich in die Arme.

Das war auch schön. – Aber in Wirklichkeit gibt es keine sprechenden Regenwürmer, keine Wünsche erfüllenden Knallerbsen und auch keinen Geist der guten Wege.

Zweites Zwischenspiel: Ein leiser Sturz

Stille Kinder im Trubel des Alltags2 - Foto iStock © JuanmoninoWieder in den Betreuungsräumen angekommen, stolpere ich und falle. Ich weine ein bisschen, ganz leise und in mich hinein. Jemand kommt vorbei und hilft mir auf. „Gut, dass nicht viel passiert ist“, sagt der Jemand und geht weiter. Ich weine noch immer ein bisschen – ganz leise. Dann schaue ich mutig mein Knie an und summe ein kleines Heillied, das mir Mama vorgesungen hat, als ich noch ganz klein war. Dann stehe ich auf, nehme ein Buch und kuschele mich in eine Ecke.

Plötzlich schreit ein anderes Kind laut auf. Es wurde von jemandem geboxt. Es schreit so laut, als hätte es einen schweren Unfall gehabt. Ich beobachte, wie sich drei Menschen gleichzeitig um das Kind kümmern, es trösten, es über den Kopf streicheln und ihm etwas zu trinken geben. Ein größeres Kind läuft in die Küche und besorgt ein Kühlpack, ein anderes bringt einen nassen Waschlappen.

Ich lese weiter in meinem Buch und denke: „Vielleicht muss ich ja nur lauter schreien? – Vielleicht beim nächsten Mal …“

Wieder zu Hause

Schließlich ist der Tag fast vorbei und meine völlig erschöpfte Mama kommt, um mich abzuholen. Ich spüre genau, dass es ein anstrengender Tag für sie war.

„Hast du deine Hausaufgaben gemacht?“, fragt sie. Ich nicke und zeige ihr mein Knie. Es hatte sich noch keine Kruste gebildet. Man konnte ganz genau sehen, wo es geblutet hat. – Sie ist bestürzt, ganz kurz, und sagt: „Oh, du bist gefallen? Na ja, es ist ja schon wieder gut. – Komm, lass uns nach Hause fahren. Ich habe Hunger. Wir kochen uns etwas Leckeres, und dann gehst du früh ins Bett. Ich bin völlig fertig. – Aber eine Geschichte lese ich dir noch vor. Eine ganz kleine …“

Gerade will ich etwas sagen. Doch genau in diesem Moment versinkt dieses Gefühl – wie die Walfischflosse – im tiefen, dunklen Meer.

von Beate M. Dapper

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