„Um ein Kind zu erziehen, braucht es ein ganzes Dorf“, so ein afrikanisches Sprichwort. Dies trifft auf Kinder in Familien mit Alkoholproblemen wohl ganz besonders zu. Wobei es in diesem Fall weniger um die Erziehung, sondern um eine sichere und stabile Unterstützung durch Personen von außerhalb geht. Denn betroffene Kinder sind häufig von klein auf völlig schutzlos einem oftmals zerstörerischen Familiensystem ausgeliefert.
Viele Erwachsene konsumieren Alkohol regelmäßig in einem sehr schädigenden Ausmaß, viele davon sind Mütter, viele davon sind Väter. Kinder von alkoholbelasteten oder -abhängigen Eltern (Elternteile) wachsen in einem erkrankten Familiensystem auf, an dessen Folgen sie häufig ihr ganzes späteres Erwachsenenleben lang leiden müssen. Derzeit geht man von etwa zwei Drittel betroffener Kinder aus, die später selbst suchtkrank werden oder an psychischen Belastungen beziehungsweise Erkrankungen leiden. [1]
Das Kind – aus dem Blick verloren
Manchmal müssen die kleinen Kinder in Familien mit Alkoholproblemen sehr schnell regelrechte Überlebensstrategien für sich entwickeln und verlieren dabei etwas ganz Wichtiges – ihre Kindheit. Sie übernehmen unbewusst „Rollen“, um das Familienleben wieder in Balance zu bringen. Die für das Kind so wichtige Eltern-Kind-Bindung ist in solchen Familien häufig nur wenig oder gar nicht gegeben. Auch wenn suchtkranke Eltern(teile) für ihre Kinder da sein wollen, so können sie dies aufgrund ihrer Erkrankung oftmals nicht. Dreht sich bei einem Elternteil meist alles um die Sucht, so richtet sich die Aufmerksamkeit des anderen Elternteils (auch Co-Abhängige genannt) häufig komplett auf den Süchtigen. Wie eine zusätzliche Schwester, ein zusätzlicher Bruder, fordert der Alkohol die gesamte Aufmerksamkeit der Eltern – da bleibt oftmals keine Zeit übrig für die tatsächlich anwesenden Kinder. Und diese leiden. Sie erleiden manchmal schwere psychische und physische Schäden, die sie ihr ganzes restliches Leben lang belasten können.
Kinder in alkoholbelasteten Familien brauchen ein ganzes Dorf …
In unserer Gesellschaft, in der wirtschaftlich zum Beispiel allein der Weinsektor der wertvollste Exportmarkt der EU im Bereich Agrar und Lebensmittel ist [2] und Alkohol nach wie vor als legale Droge gilt, benötigen Kinder in alkoholbelasteten Familien unbedingt unsere ganz besondere Aufmerksamkeit, unsere bestmögliche Unterstützung, unser ernst gemeintes Wohlwollen und unseren uneingeschränkten Glauben an sie. Um ihnen so die Chance zu geben, zu stabilen Erwachsenen heranreifen zu können.
und wohlwollende, stabile Bezugspersonen.
Gerade Menschen im nahen sozialen Umfeld betroffener Familien wie zum Beispiel Großeltern, Tanten, Onkel, Nachbarn, Lehrerinnen und Lehrer, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sozialer Einrichtungen, Mitglieder von Vereinen wie z. B. Trainerinnen und Trainer etc. können mithelfen, den derzeit häufig vorherbestimmten Weg der Kinder in Familien mit Alkoholproblemen zum Besseren zu ändern. Vielleicht sind genau diese Leute in der Position, um eine wohlwollende, stabile Bezugsperson zu sein. Laut aktuellen Forschungen geht derzeit nur zirka ein Drittel der Kinder aus alkoholbelasteten Familien relativ unbeschadet aus deren vergangener Familiensituation hervor. Diese Kinder werden auch als resiliente Kinder bezeichnet. Resilienz ist die Fähigkeit, belastende Einflüsse abprallen zu lassen und sich trotz der krank machenden Widrigkeiten gesund zu entwickeln. Ihre höhere Widerstandsfähigkeit verdanken betroffene Kinder häufig erwachsenen, beständigen, stabilen Bezugspersonen an ihrer Seite, denen sie vertrauen können und durch die diese Kinder eine sehr wichtige Erfahrung machen: Sie werden gesehen. Und sie dürfen bei solchen Personen das sein, was eigentlich ganz normal sein sollte – einfach Kind.
Sie dürfen spielen. Sie dürfen toben. Sie dürfen laut sein. Sie dürfen lachen. Sie dürfen wütend sein. Sie dürfen Angst haben. Dies alles gibt ihnen die Bestätigung, dass sie genauso angenommen werden, wie sie sind und haben so eine gute Chance, sich stabil und gesund zu entwickeln.
Auch können Nahestehende immer wieder versuchen, den Fokus des co-abhängigen Elternteils und der Kinder auf sich selbst und auf sich gegenseitig zu lenken. Sie können versuchen, Betroffene zu ermutigen, mehr auf die eigenen Bedürfnisse zu achten, über die eigenen Befindlichkeiten, Wünsche sowie Ängste zu sprechen und können bei Bedarf vielleicht auch helfen, dass Betroffene weitere Unterstützung annehmen. Bei Unsicherheit ob eines richtigen Verhaltens, sollte man sich in sozialen Einrichtungen informieren oder die Polizei verständigen, wenn es innerhalb einer Familie zu bedrohlichen Situationen kommen könnte.
Mach mit: Schau hin und sei da!
Die aktuelle Entwicklung aufgrund der Corona-Pandemie kann für Kinder in alkoholbelasteten Familien zu noch mehr psychischen und physischen Belastungen führen. Arbeitslosigkeit, Angst und Unsicherheit nehmen zu. Dies kann auch den Alkoholkonsum und die damit immer wieder verbundene Ausübung von Gewalt bis hin zu sexuellem Missbrauch erhöhen. Daher ist es wichtig, immer wieder auf die „vergessenen Kinder“ hinzuweisen, auf sie aufmerksam zu machen und – wenn möglich – zum unterstützenden, stabilen und wohlwollenden Dorf zu werden.
Als ehemaliges – durch einen alkoholabhängigen Vater – betroffenes kleines Kind ist für mich dieses Thema eine Herzensangelegenheit. Ich will mit meiner Website besonders für die kleinen Kinder in alkoholbelasteten Familien Stimme sein und wünsche mir, dass betroffene Kinder genau dort die so sehr notwendige Unterstützung erhalten, wo die Ursache vieler späterer belastender Folgen liegt – in deren Kindheit.
von Sabine Schütz
Links zum Thema
Weitere Informationen, Beiträge, Empfehlungen und noch mehr zum Thema rund um Kinder in und aus Alkoholiker:innen-Familien finden Sie auf www.fingerzeig.at | E-Mail: kinder@fingerzeig.at
Heimweh… von der unerkannten Sehnsucht der belasteten Kinder, Waltraut Barnowski-Geiser
Der Jugend-Gewalt vorbeugen
Familienkrankheit Alkoholismus – Im Sog der Abhängigkeit, Ursula Lambrou, Rowohlt-Verlag
Resilienz – Das Geheimnis der psychischen Widerstandskraft, Christina Berndt
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