Wenn Babys weinen und niemand mehr zuhört 1 - Foto AdobeStock © Ursula Deja Götz Eisenberg, Gefängnispsychologe, Sozialwissenschaftler und Publizist, beschrieb bereits 2011 gesellschaftliche Entwicklungen, die heute noch deutlicher zutage treten. Kinder wachsen in einer Welt auf, die sie mit Reizen überflutet, in digitale Kommunikationsblasen zieht und früh an Bildschirme bindet. In seinem nachfolgenden Essay kritisiert Eisenberg eine Gesellschaft, die emotionaler Zuwendung den Rücken kehrt und sie durch Funktionalität ersetzt – mit tiefgreifenden Folgen für die kindliche Seele.

Warum Kinder heute an emotionalem Mangel leiden

Im letzten Frühjahr saß ich auf dem Balkon und genoss die Sonne. Von der Straße drang das Schreien eines Kleinkindes herauf. Eine junge Mutter schob ihr Kind in einem Designer-Kinderwagen vor sich her. Sie trug ihre Haare zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden und eine großflächige Sonnenbrille. Sie telefonierte mit ihrem Handy. Das Schreien des Kindes wurde immer wütender und lauter. Die Mutter hielt an, beugte sich hinab und nestelte aus einem Einkaufsnetz eine Süßigkeit hervor, die sie dem Kind in den Mund stopfte. Gierig lutschte es die Süßigkeit in sich hinein. Die Frau schob den Wagen weiter und setzte ihr Telefonat fort. 150 Meter weiter begann das Schreien von neuem. Wieder folgte der Griff ins Einkaufsnetz, wieder bekam das Kind „das Maul gestopft“. Lachend sagte die Mutter etwas in ihr Telefon und ging weiter.

Missachtung der Kinder

Auf die Idee, dass das Kind weint, weil es sich einsam fühlt und das Telefonieren als Missachtung empfindet, kam diese Mutter offensichtlich nicht. Man muss ja nur für einen Moment die Perspektive wechseln und sich vorstellen, man ginge als Erwachsener mit jemandem spazieren, der unablässig in sein Handy hineinredet. Man würde es kein zweites Mal tun. Kinder haben nicht die Wahl, und so sitzen sie ratlos und verstört in ihren Wagen, während Mutter oder Vater mit anderen Menschen sprechen. Nie sind sie wirklich bei ihrem Kind. Was sollen diese Kinder machen?

Sie schreien sich die Seele aus dem Leib, weil die erfahrene Bindungslosigkeit sie in einen Zustand der Angst versetzt.

Vorbei die Zeiten, da Mütter den Kinderwagen schoben und dabei mit ihrem Kind plapperten oder Kinderlieder sangen, zum Beispiel „Nur wenn du den Blick hebst, kannst du die Sterne sehen. Nur wenn du den Blick hebst, kannst du nach vorne gehen.“ Die Sterne des Kindes sind – im Sinne Heinz Kohuts – die Augen der Mutter – und der Glanz des Glücks in ihnen, der auf das Kind zurückfällt und von ihm als Glücksversprechen und Gewissheit des eigenen Werts verinnerlicht wird.

Das Kind spiegelt sich im Gesicht der Mutter

Wenn Babys weinen und niemand mehr zuhört 2a - Foto iStock © MarkoNOVKOVDie Mutter und die Welt sind anfangs eins, die Mutter gibt dem Kind im Rahmen dessen, was Margaret Mahler als „die psychische Geburt des Kindes“ bezeichnet hat, also in einem Akt fortgesetzter Schöpfung, seine Realität.

Der Säugling erfährt sich selber über das Gesicht der Mutter, das ihn anschaut und das sein erster Spiegel ist.

Die Mutter leiht ihm ihre Augen. Wenn das Kind seinen Blick um sich herum schweifen lässt, spiegeln ihm die Dinge den mütterlichen Blick wider. Der Augenkontakt der Mutter zu ihrem Baby stellt die intersubjektive Urform bereit, eine Art Matrix für alle späteren Beziehungen und Kommunikationen. Eine Mutter, die ihre Augen hinter einer Sonnenbrille verbirgt und ständig „anderswo ist“, beraubt das Kind seines Realitätsbezugs und damit seiner Wahrheit.

Die archaische Zeit des Stillens

Wenn Babys weinen und niemand mehr zuhört 3a - Foto iStock © DrazenMütter und Väter sollten also, wenn sie mit ihrem Kind zusammen sind, mit ihm im Dialog und einem regen emotionalen Austauschprozess und nicht mit anderen Dingen beschäftigt sein. Die liebende Aufmerksamkeit der Eltern und die sichere Bindung an diese offenbaren dem Kind sein Leben als eine Bewegung auf ein Ziel hin:

Das Kind ist, wie Jean-Paul Sartre im ersten Band seines Werkes „Der Idiot der Familie“ schreibt, „der bewusste Pfeil, der mitten im Flug erwacht und zugleich den fernen Bogenschützen, das Ziel und den Rausch des Fliegens entdeckt.

Wenn es wirklich die erste Pflege, die ihm durch das vielfältige Lächeln der Welt gewidmet wurde, in seiner ganzen Fülle empfangen, wenn es sich in der archaischen Zeit des Stillens absolut souverän gefühlt hat, dann werden die Dinge weitergehen.“

Anklopfen für mehr Zuwendung?

Wenn Babys weinen und niemand mehr zuhört 4 Foto AdobeStock © IrynaDie Krux ist, Liebe und Zuwendung lassen sich nicht verordnen. „Vor allem aber“, schrieb Adorno in seinem berühmten Aufsatz „Erziehung nach Auschwitz“ aus dem Jahr 1966, „kann man Eltern, die selber Produkte dieser Gesellschaft sind und ihre Male tragen, zur Wärme nicht animieren. Die Aufforderung, den Kindern mehr Wärme zu geben, dreht die Wärme künstlich an und negiert sie dadurch.“

Um noch einmal auf die Ausgangsgeschichte zurückzukommen: Vielleicht muss das Kind warten, bis es über ein eigenes Handy verfügt. Dann kann es vom Kinderwagen aus, wenn es nach Aufmerksamkeit und Zuwendung dürstet, mal bei seiner telefonierfreudigen Mutter „anklopfen“.

Frühförderungs-Stress

Kurz nach dieser Szene traf ich im botanischen Garten eine Bekannte, die vor kurzem Mutter geworden ist und ihr Kleinkind im Kinderwagen vor sich her schob. Vor dem Gesicht des Kindes schwebte ein Mobile. Als ich fragte, warum das Kind nicht einfach das Gesicht der Mutter, die Wolken, die Bäume und die Eichhörnchen betrachten dürfte, bekam ich von der jungen Mutter zu hören: „Das Mobile regt die Synapsenbildung an!“ „Oh je“, sagte ich und erschrak.

Vertrauensvolle Atmosphäre

Eltern betrachten ihr Kind offenbar nicht mehr als Geschenk, sondern als eine Art Bio-Aktie, von der eine gute Performance erwartet wird. Seit die Bergwerke stillgelegt sind und keine Kohle mehr gefördert wird, hat man die kindlichen Gehirne als „Ressource“ und „Humankapital“ entdeckt. Schon wird von Frauen berichtet, die ihre schwangeren Bäuche mit Kopfhörern beschallen. Schluss mit dem zweckfreien Spiel am Bach und im Sandkasten, die Konkurrenz schläft nicht: Andere Kinder haben mit zwei Jahren bereits 600 englische oder chinesische Wörter aufgesogen und dabei ihre „Synapsen optimal vernetzt“.
Es erscheinen Ratgeber, die propagieren: „Ein Leben lang für Vorsprung sorgen.“ Mutterliebe und eine vertrauensvolle Atmosphäre sind nicht länger um ihrer selbst willen da, sondern fördern die Herausbildung einer leistungsfähigen neuronalen Struktur. Liebe regt die Dopaminproduktion an und fördert die Herausbildung neuronaler Autobahnen.

Früher Burnout

Sie habe, berichtete meine Bekannte stolz, Amelie bereits für einen bilingualen Kindergarten und ein Tanzprojekt angemeldet, damit ihre emotionale Intelligenz nicht zu kurz komme. „Na, dann passt mal auf, dass Euer Kind nicht noch vor Schuleintritt mit einem Burnout zusammenbricht“, sagte ich und wandte mich zum Gehen.

Freude am Kind-sein

Der Stundenplan der Kinder wird strukturiert wie der Tag eines Managers – genau darauf sollen die Kinder ja vorbereitet werden. Kein Wunder, dass viele Kinder hektisch und getrieben wirken. Sie werden mehr und mehr von elektronischen Geräten sozialisiert und einem Frühförderungsstress überantwortet, der ihnen jede Freude am Kind-sein austreibt und elterliche Zuwendung mit Leistungsanforderungen verbindet. Heutige Familien sind längst keine Orte der Ruhe mehr, an dem Kinder vom Lärm und der Hektik der Welt abgeschirmt werden. Sie werden Belastungen und Erregungen ausgesetzt, die zu groß und stark für sie sind und ihre noch unfertigen Wahrnehmungs- und Verarbeitungsfähigkeiten überfordern.

Strampeln wie die Frösche

Die Folge ist ein irisierendes, flackerndes Bewusstsein, dessen Kern die Unruhe selbst ist. Die rasend gewordene Weltzeit und die Rhythmen der entfesselten Ökonomie dringen in die Kinderzimmer vor und überlagern und zerstören die Zeitmaße, in denen ein Kind heranwachsen und seine „psychische Geburt“ vollenden kann. Wie der ins Milchglas gefallene Frosch so lange strampelt, bis aus der Milch Butter geworden ist und er das Glas verlassen kann, zappeln diese Kinder in der vagen Hoffnung, dass jemand kommen möge, der sie hält und beruhigt und so die Bedingungen dafür herstellt, dass sich in ihrem Innern eine angstmindernde und identitätsstiftende psychische Struktur herausbilden kann.

Chemische Bravmacher

Viele Eltern wollen, dass ihre Kinder dennoch „brav“ sind und funktionieren, aber sie sind nicht bereit, durch Bereitstellung geschützter Räume und persönlichen Einsatz von Nerven und Lebenszeit dazu beizutragen. Sie überlassen die anstrengende Erziehungsarbeit den Erzieher:innen und Lehrer:innen und vertrauen ansonsten auf den großen „Bravmacher“ Ritalin. Diese psychoaktive Substanz – der Wirkstoff Methylphenidat gehört zu den Amphetaminen – wird einer ständig wachsenden Zahl von Kindern beinahe wie ein Nahrungsergänzungsmittel täglich verabreicht.

Zeitgenössische Entbehrungen

Wenn Babys weinen und niemand mehr zuhört 5 - Foto iStock © matspersson0Man kann angesichts der beschriebenen Prozesse fast den Eindruck gewinnen, dass das Ganze Methode hat: Charakterliche Prägungen und halbwegs stabile Identitätsstrukturen sind nicht mehr erwünscht, weil sie Flexibilität und Fungibilität einschränken, die von Industrie und Märkten als neue Kardinaltugenden propagiert werden. Arthur Rimbauds einst skandalöse Behauptung: „Ich ist ein anderer“, mit der er seinen Ausbruch aus dem Gefängnis des bürgerlichen Ich vorbereitete, gehört heute zu den Verhaltensanforderungen des neoliberalen Zeitalters und zur psychischen Grundausstattung des „flexiblen Menschen“ (Richard Sennett).

Es mag sein, dass heutige Kinder weniger geschlagen und körperlich gezüchtigt werden, aber dafür haben sie unter neuartigen Entbehrungen zu leiden, die womöglich nicht minder grausam sind. Nietzsches Satz: „Welches Kind hätte nicht Grund, über seine Eltern zu weinen?“ hat offensichtlich nichts an Aktualität eingebüßt.

von Götz Eisenberg

Erstveröffentlichung im Stiftungsmagazin „für uns“ Ausgabe: geliebt

Links zum Thema

Kleinkinder sind voller Hingabe und Vertrauen – aber egoistisch

Generation lebensunfähig, Wie unsere Kinder um ihre Zukunft gebracht werden, Rüdiger Maas, Münchner Verlagsgruppe – Yes Publishing

Das Selbstwertgefühl von Kindern stärken