Gibt es so etwas wie einen Mutter-Baby-Dialog, einen wirklichen Austausch zwischen Mutter und Kind? Was wird da ausgetauscht und in welcher Sprache? Und schließlich, welche Bedeutung haben diese Zwiegespräche für die Entwicklung des Babys, für sichere Bindung, Sprachen lernen etc.?
Prof. Ursula Horsch, Säuglingsforscherin, lehrte Früh- und Sonderpädagogik an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg und hat die Vorgänge bei diesem Hin und Her zwischen Mutter und Baby erforscht. Sie und ihr Team haben hunderte solcher Mutter-Kind-Dialoge, aber auch Vater-Kind-Dialoge in Videos festgehalten und analysiert mit überraschenden Beobachtungen und erstaunlichen Ergebnissen. Hier ihr Bericht:
Der frühe Eltern-Kind-Dialog als Grundlage für den Spracherwerb
Bereits vor der Geburt spätestens vom ersten Lebenstag an stehen Eltern mit ihrem Kind in einer sehr engen Beziehung. Für außenstehende Betrachter stellt die Mutter so etwas wie einen Motor dar, der den Prozess initiiert und am Laufen hält. Sie erzählt dem Baby, was sie beide gerade tun, was sie dabei jeweils fühlen und lässt dadurch das Kind an ihrem gemeinsamen Tun und ihren Emotionen teilnehmen. Sie nimmt sensibel wahr, was das Baby ihr zeigen oder sagen möchte, und spricht den Part ihres Kindes, das dazu noch nicht in der Lage ist.
Anders als Jerome Seymour Bruner, einer der bekanntesten Kinderpsychologen, der meint, dass das Kind in dieser Phase noch Zuschauer ist und dann erst Schritt für Schritt zu einem Teilnehmer werden soll, unterstützen die Ergebnisse meiner Studien diese These nicht:
Tatsächlich ist das Kind schon vom ersten Lebenstag an Partner dieses Dialoges. Es ist nicht passiv den Angeboten der Mutter gegenüber, sondern es antwortet ihr durch Strampeln, Lächeln durch Gurren usw. Das Kind ist folglich nicht passiv, sondern von Anfang an Mitgestalter des gemeinsamen Dialogs und der Beziehung. Hand in Hand entwickeln sich darin grundlegende dialogische Kompetenzen, die für den Spracherwerb und den Bildungsprozess von Bedeutung sind.
Das Forschungsprojekt „Dialogische Entwicklung bei Säuglingen“, das wir sowohl in Deutschland, in einigen Staaten der USA sowie in Afrika durchgeführt haben, untersucht den dialogischen Entwicklungsprozess zwischen Eltern und Kind im ersten Lebensjahr mit dem Ziel, den frühen Eltern-Kind-Dialog zu beschreiben und dessen Bedeutung für Sprachentwicklung und Bindung und damit auch für frühkindliche Bildungsprozesse aufzeigen zu können.
In der gegenwärtigen politischen Diskussion spielt frühe Bildung eine ganz zentrale Rolle. Kinder scheinen eine Lobby zu haben, die sie als Zukunftsträger und somit als einen wichtigen Teil unserer Gesellschaft ausweisen. Wie aber sehen diese frühen Bildungsangebote aus und wer macht sie?
Bildungskompetenz beginnt dort, wo Menschen in Beziehung treten
Wird über Bildung gesprochen, werden oftmals klassische Bildungselemente wiedergegeben und nicht immer wird der Unterschied zwischen Bildung und Wissen transparent gemacht. Soziale Kompetenzen wie Empathie, Zuneigung oder Geduld stehen dabei eher selten im Zentrum der Diskussion. In einer Welt, in der jedoch aufgrund der zunehmenden Globalisierung ein enormer Informationszuwachs in fast allen Bereichen zu erkennen ist, muss die Aneignung von Wissen im Sinne von Einzelinformationen in seiner Relevanz in Frage gestellt werden. Um sich in dieser Welt orientieren und zurechtfinden zu können, um darin subjektiv Sinn erfüllt in der Gemeinschaft mit Anderen leben zu können, bedarf es weitreichender Kompetenzen, welche die Kinder dazu befähigen, ihr Leben subjektiv Sinn erfüllt und in der Gemeinschaft mit anderen gestalten zu können.
Der erste und wesentliche Schritt, um diese Kompetenzen zu erwerben, besteht darin, mit der Welt und ihren Menschen in Beziehung zu treten. Erst in der Beziehung mit Menschen, im Dialog und der Welt, werden Menschen und Welt erfahrbar. Dieser erste Schritt in den Dialog vollzieht sich wie oben bereits beschrieben zwischen Eltern und Säugling im alltäglichen Austausch auf der Grundlage ihrer Bindung zueinander. Sind wir Menschen deshalb auf gelingende Beziehungen hin angelegt, und sind Eltern und Säugling folglich von Anfang an auf dieses Miteinander ausgerichtet? Ist der Kern aller Motivation zwischenmenschliche Wertschätzung, Anerkennung, Zuneigung und Zuwendung zu geben und zu finden, in diesen grundlegenden Dialogen gegeben?
Die Basis frühen Lernens sind Bindungsprozesse
Die Vorstellung, dass Bindung und Bildung mit der Geburt beginnt ja, dass Bindung bereits vorgeburtlich entsteht wird heute, im Gegensatz zu früheren Publikationen, in vielen Veröffentlichungen vertreten. Dieses Umdenken wurde nicht zuletzt durch vergleichende internationale Bildungsstudien sowie durch Ergebnisse aus unterschiedlichen Forschungsrichtungen, z. B. der Neurowissenschaften, der Säuglingsforschung oder der Hirnforschung in Gang gesetzt. Wie allerdings diese ersten Bindungsprozesse aussehen und wodurch sie möglich werden, ist immer noch eine offene Frage. Wir wissen zwar viel über Lernschritte im kognitiven, motorischen, sprachlichen und emotionalen Bereich, also hinsichtlich der Inhalte „was gelernt wird“; dieses Wissen genügt jedoch nicht, um bewerten zu können, wie frühe Bindungsprozesse aussehen, die ja die Basis dieses frühen Lernens bilden. Es fehlen noch weitestgehend forschungsbasierte Daten hinsichtlich des Wie von Lernen und Bildung. Auch wenn das Kind sich selbst bildet, sind es die Eltern, die Bildungsanlässe im Dialog schaffen. Die Kernfrage lautet folglich:
Wodurch wird der Dialog zwischen Eltern und Kind gesichert und welche Bildungschancen sind darin enthalten, um für das Kind die bestmögliche Entwicklung zu sichern? Und welcher Faktor spielt die Bindung dabei?
Was verstehen wir unter Dialog?
In den Medien ist heute der Begriff des Dialogs allgegenwärtig und dadurch wird nahegelegt, dass wir alle wissen, was darunter verstanden wird. Politiker suchen den Dialog, um Entspannung zu erreichen, Vertreter der Wirtschaft treten in den Dialog, um auf der geschäftlichen Ebene etwas auszuhandeln, Kulturen treten miteinander in den Dialog, um sich besser zu verstehen, Vertreter von Religionen tun dies ebenso, um sich einander anzunähern oder auch um sich abzugrenzen. Es heißt nicht:
„Die Politiker suchen die Kommunikation.“ oder „Die Politiker suchen die Interaktion.“ Was sie suchen ist der Dialog.
Schon diese wenigen Beispiele zeigen, dass mit Dialog nicht nur gemeint sein kann, dass man miteinander spricht. Offensichtlich gehört mehr dazu, um von einem Dialog sprechen zu können. Es müssen noch bestimmte Haltungen hinzukommen.
Wenn wir nochmals das Beispiel des Dialogs der Kulturen aufgreifen, dann gehen wir doch davon aus, dass sich hierin eine Bereitschaft zeigt, sich mit dieser Kultur auseinander zu setzen, sie verstehen zu wollen, die Werte dieser jeweils anderen Kultur anzuerkennen. Diese Haltungen müssen nicht voll entwickelt sein, wobei sich dieses auch schwer prüfen ließe, aber sie dürfen auch nicht fehlen, sonst ist der Dialog zum Scheitern verurteilt, er würde zum Monolog der Betroffenen, in unserem Beispiel zum Monolog der Kulturen.
Motherese führt das Baby behutsam in die Muttersprache ein
Halten wir also für unsere Überlegungen fest, dass der Dialog mehr ist als der sprachliche Austausch.
Bezogen auf den Dialog zwischen Eltern und Säugling meint sich dialogisch dem Kind zuzuwenden, es beispielsweise auf der Gefühlsebene anzusprechen und den Emotionen einen Raum und auch einen Namen zu geben, d. h. Interesse für das Kind zu zeigen und es ernst zu nehmen, Zärtlichkeiten mit ihm auszutauschen und ebenso seine Angebote wahrzunehmen, im Dialog aufzunehmen und ihm zu antworten. Die Sensibilität der Eltern zeigt sich vor allem in diesen Bereichen.
Unsere Forschungsergebnisse belegen, dass Mütter und Väter vom ersten Lebenstag ihres Kindes an grundlegende dialogische Fähigkeiten zeigen, welche die Bindung zwischen ihnen und ihrem Kind zunehmend stabilisiert wie z. B. es anzusprechen. Und zwar nicht so, wie ich meine Nachbarin oder meinen Freund anspreche, sondern in einer ganz spezifischen nur auf das Kind ausgerichteten Sprache, der Motherese.
Motherese ist eine Sprache, die durch die Sprachmelodie sowie einer grammatisch oftmals verkürzten Sprache – in der das Wichtigste der aktuellen Situation mehrfach wiederholt wird, das Kind ganz feinfühlig in seine Muttersprache einführt.
Gemeinsam auf dem Weg in die große weite Welt
Keine Mutter bekommt Motherese gelehrt und dennoch tun es weltweit nahezu alle Mütter wenn auch auf landesspezifische Weise. Die Bindung zum Kind setzt diesen Prozess in Gang, der dazu führt im Kind einen Partner zu sehen, es willkommen zu heißen, Gefühle mit ihm zu teilen, sich ihm uneingeschränkt zuzuwenden, Emotionen erlebbar zu machen. Babys suchen ebenfalls den Dialog mit der Mutter / dem Vater aber auch schon sehr früh mit anderen Menschen, z. B. mit Oma, Opa und dabei helfen ihnen zahlreiche Kompetenzen wie z. B. die Neugierde und das Interesse an Neuem, den Willen zur Verständigung oder die Fähigkeit, Emotionen wie Freude oder Traurigkeit mit einem Partner zu teilen.
Babys zeigen uns auf ihre Weise: Ich will mitmachen! Mitmachen, etwas miteinander machen, miteinander in den Dialog treten. Das ist das Ziel.
In den von Eltern und Kind gemeinsam erlebten und gestalteten wechselseitigen Begegnungen erwirbt das Kind prozesshaft übergeordnete Kompetenzen und Haltungen wie z. B. Liebe, Akzeptanz und Verantwortung auszubilden oder auch das Wahrnehmen von Glück. Glück, welches das Kind im Dialog mit seinen Eltern erstmals erfahren, selbst erleben und dann wiederum weiterzugeben vermag. Schritt für Schritt wird in dialogischen Interaktionen mit den Eltern der Bildungsprozess vorangebracht. Bildungskriterien werden sichtbar wie z. B. die Bereitschaft und der Wille sich zu verständigen, tolerant zu sein. Ich habe sie oben bereits beschrieben. Dialogfähigkeit ist somit Weg und Ziel früher Bildung gleichermaßen. Sie haben ihre Wurzeln bereits in den frühen Eltern-Kind-Dialogen und ihren Ausgangspunkt in der Bindung zwischen Eltern und Kind.
„Dialogische Entwicklung bei Säuglingen“
Elterliche Haltungen hinsichtlich der Bindungs- und Bildungsrelevanz
Um wirklich bildungsrelevant zu sein, muss noch mehr dazu kommen. Es genügt nicht, über die Anzahl beobachtbarer Dialogelemente auf Bildungsanlässe zu schließen. Es müssen bindungsrelevante Haltungen im Spiel sein, die dem Kind über die bereits genannten Dialogelemente hinausgehend signalisieren, dass es die Eltern z. B.
lieb haben und gerne mit ihm schmusen, mit ihm lachen, Kitzel- und Pustespiele mit ihm machen, in ihm einen Partner sehen, mit dem sie gerne gemeinsam etwas tun, mit dem sie verhandeln, mit dem sie Gefühle teilen – und dies wieder und wieder.
Es muss folglich eine Gleichförmigkeit elterlichen Verhaltens gegeben sein, die dem Kind vermittelt:
„Du bist der wichtigste Mensch für mich, wir gehören zusammen, wir entdecken gemeinsam die Welt, wir teilen Gefühle miteinander.“
Es entsteht ein „Zwischen“ zwischen Eltern und Kind auf das ich oben bereits verwiesen habe, das von
Vertrauen, Nähe und Liebe geprägt ist und das dem Kind die nötige Sicherheit gibt, sich darauf einzulassen und so zu erfahren, dass es geliebt wird, dass es ernst genommen wird, dass es ein Partner ist, mit dem sich die Eltern austauschen, mit dem sie verhandeln, mit dem sie gemeinsam etwas tun.
Diese Haltungen spiegeln ein positives, im wahrsten Sinne liebevolles Menschenbild wider, das im konkreten Handeln und im Dialog mit dem Kind sichtbar und erfahrbar wird. Beziehung und Dialog, Liebe und Haltung zum Kind bilden folglich einen engen unmittelbaren Zusammenhang. Sie ergeben ein Mosaik elterlicher und kindlicher Interaktionsmöglichkeiten, auf dem Erziehung und Bildung möglich werden.
Diesen unmittelbaren Zusammenhang erfährt das Kind in der Regel in den alltäglichen Situationen die zweckgerichtet sein können wie z. B. Essen, Wickeln, Baden aber auch zweckfrei wie z. B. Kitzel- und Pustespiele, miteinander Lachen, Guck-guck-Spiele auch bekannt als Kuckuck-Spiele, Bilderbuch anschauen/vorlesen, Musik machen.
Dies sind nur einige wenige Beispiele, die das Spektrum der Eltern-Kind-Aktivitäten aufzeigen sollen. Ich weiß, dass jede Eltern-Kind-Interaktion und damit jede Bindung ihre ganz eigenen individuellen Strukturen hat und ich möchte die Eltern darin bestärken, hier ihre eigene Form von Liebe, Zuneigung und Bindung zu leben. Dann sind sie und ihr Kind auf einem guten Weg.
von Ursula Horsch
Quellenangaben
Links zum Thema
Mutter-Baby-Dialog weltweit gleich, US-Studie von der Princeton-Universtät in Spektrum.de
Ein berührendes Zwiegespräch zwischen Vater und Sohn, Youtube
Das Ungeborene im Dialog mit der Mutter, Süddeutsche Zeitung
Der Dialog mit dem Säugling, C.S. Allely et al., Parent-infant vocalisations at 12 months predict psychopathology at 7 years, Research in Developmental Disabilities, 2. Januar 2013; 34(3):985-993
Magazin für uns, Ausgabe: gebunden. Aus dem Inhalt:
Kindesentwicklung: „Zwiegespräch mit einem Baby“
Komm, spiel mit mir!
Dialogische Entwicklung von Eltern und ihrem hörenden Säugling sowie Eltern und ihrem Säugling mit einer Hörschädigung. Eine vergleichende Studie – Exemplarisch anhand von für den Spracherwerb bedeutsamen Dialogelementen. Dissertation von Katarzyna Bagan-Wajda, Pädagogische Hochschule Heidelberg