„Unsere Sicht auf das Kind* bestimmt unser Tun.“
*[die Person]
Dieser Satz von Gordon Neufeld ist mir im Laufe der Jahre in Fleisch und Blut übergegangen.
Es macht einen großen Unterschied, ob ich ein Kind sehe, dass sich einfach „unmöglich benimmt“, das „auf Streit aus ist“ oder das mich ärgern will, oder ob ich ein Kind sehe, das in Schwierigkeiten steckt und darum sich gerade nicht anders verhalten kann.
Ich denke da an Nik, der als Kleinkind schon seinen Vater verloren hat und immer wieder mit massiven Trennungen konfrontiert ist. Ja, er ist ein herausforderndes Kind, hat einen sehr ausgeprägten Entdeckerdrang und ist dazu mit seinen sechs Jahren noch sehr unreif, hat noch keine gemischten Gefühle. Er manövriert sich von Schwierigkeit zu Schwierigkeit und bekommt dadurch laufend negative Rückmeldungen. Wen wundert es, dass Nik total hibbelig ist und kaum stillsitzen kann?
Getrieben von ständiger Wachsamkeit
Wir konfrontieren Kinder wie Nik gerne mit ihrem Fehlverhalten, wir lassen sie Konsequenzen spüren und bestrafen sie mit dem Entzug von dem was ihnen lieb ist. Und dann wundern wir uns, dass der kleine Nik offenbar nichts daraus zu lernen scheint. Also erhöhen wir die Konsequenzen und Strafen. Mehr Druck, mehr Trennung, und damit auch mehr Alarm [Alarm beschreibt dieses Gefühl von „etwas ist nicht in Ordnung“, „etwas stimmt nicht“, oder auch „gleich passiert etwas“, also eine innere Unruhe und ständige Wachsamkeit.] … Und am Ende dieser Schleife steht dann oft eine Diagnose mit den entsprechenden Tabletten.
Was würde wohl passieren, wenn wir in solchen kleinen Niks Kinder in seelischer Not sehen würden? Wenn wir sehen würden, dass Nik unter Trennungserfahrungen leidet und ein sehr alarmiertes Kind ist?
Bedingungslose Annahme und viel Raum zur Entfaltung
Wenn die Mama von Nik Unterstützung bekommen würde, damit sie mehr Kapazität für ihr Kind hat und immer mehr zum sicheren Felsen in der kindlichen Brandung werden kann? Vielleicht kämen noch 2, 3 fürsorgliche erwachsene Bezugspersonen dazu, die Nik so annehmen wie er ist und ihn in seiner emotionalen Entwicklung und Reifwerdung unterstützen und vielleicht bekäme Nik ganz viel natürlichen (Spiel-) Raum, um seinen Entdeckerdrang auszuleben.
Ich vermute, die Geschichte würde sich ganz anders entwickeln, wenn wir in einem Kind wie Nik ein alarmiertes Kind, ein Kind, dass sich in Not befindet, sehen würden. Denn diese Sicht würde unser Handeln bestimmen. Und wenn wir uns dann überlegen würden, was so ein Kind braucht, um zur Ruhe zu kommen und weiter Reifen zu können, würde uns dies einen natürlichen Lösungsweg aufzeigen, der in vielen Fällen ohne Medikamente und Therapien möglich ist.
Es ist mir wichtig, hier zu erwähnen, dass ich nicht grundsätzlich gegen Diagnosen bin oder insbesondere ADHS negiere. Aber ich bin der Meinung, dass wenn wir gut hinsehen und uns bemühen auch mal „hinter die Kulisse“ zu schauen, wir in vielen Fällen andere, natürliche Lösungen finden würden: Bindung, Ruhe, weiche Herzen und viel SpielRaum.
Ihre Angela Indermaur
PS: Nach einer wahren Begebenheit, wobei der Name und der Kontext verändert wurden.
Ein Beitrag aus unserer Kolumne:
Menschen(s)kinder
Uns beschäftigen aktuell öffentlich diskutierte Themen rund um den Erziehungsalltag genauso wie das gesunde Aufwachsen der Kinder und die notwendigen Bedingungen für die optimale Entwicklung ihrer je besonderen Persönlichkeit. In einer regelmäßig erscheinenden 14-tägigen Kolumne geht unsere Kolumnistin Angela Indermaur Fragen zur kindlichen Entwicklung, des Aufwachsens und Lernens nach. Was brauchen Kinder wirklich? Wo bleibt der Freiraum für spontanes Lernen und Selbsterkundung? Müssen Kinder ständig umsorgt, angeleitet und gefordert werden? Schadet Fürsorglichkeit und Geborgenheit unseren älteren Kindern? Welche Aufgabe haben heute Eltern? Wie gelingt der Aufbau einer intensiven Eltern-Kind-Bindung? Gibt man sein Frausein mit dem Muttersein auf und was ist mit den Vätern?