Angepasst, strebsam, unglücklich - Magrit Stamm

Margrit Stamm
Angepasst, strebsam, unglücklich
Die Folgen der Hochleistungsgesellschaft für unsere Kinder
Kösel-Verlag
ISBN: 978-3-466-37285-0
192 Seiten
20,00 Euro

„Sie/er macht, kann es schon …“ – Vergleichende Gespräche unter Müttern gab es schon immer. Sie zeigen (eigentlich) nur, dass jeder von seinem Kind das Beste hält und es aus deren Sicht etwas ausnahmslos Besonderes ist. Das ist es auch, und in gesundem Maß profitiert auch das Kind, das sich motiviert, geliebt und geborgen fühlt. Aber in den letzten Jahren nimmt eine Entwicklung regelrecht Fahrt auf, die für niemanden mehr einen Nutzen hat …

Gleich zu Beginn ihres Buches macht Margrit Stamm klar, dass es ihr nicht um eine Abwertung der Bedeutung von Schulerfolg geht und auch nicht nur um eine Kritik an leistungsmotivierten Lehrkräften und fordernden Eltern oder um einen Aufruf zum Mittelmaß.

Angepasst, strebsam, unglücklich

Es geht ihr vielmehr um eine von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft geforderte „Überleistungsnormalität“, die Kinder nicht mehr als Individuen sieht, sondern als Hochleister, deren nicht zufriedenstellende Noten mit zusätzlichem Engagement ausgeglichen oder mit der Diagnose einer Lernstörung zwecks Legitimation werden müssen.

Doch wie schaffen es Eltern und auch Lehrkräfte, sich von diesem „Optimierungs-Mainstream“ abzugrenzen, um Kinder zwar zu fördern und zu fordern, aber eben im Rahmen der eigenen Persönlichkeitsstruktur?

„Bildungspolitische und gesellschaftliche Entwicklungen wie Leistungsorientierung und Optimierungszwang, schulische Testkultur oder Akademisierungsbestrebungen sind Hauptursachen dafür, warum immer mehr Kinder auf Hochleistung getrimmt werden. Sie müssen Ergebnisse liefern, die eigentlich über ihren Fähigkeiten liegen. Diese Überleisterkultur ist ein gesellschaftliches Mandat, dem zu widerstehen für Schule und Elternhaus eine Herausforderung geworden ist. Es braucht deshalb einen Perspektivenwechsel hin zum authentischen Kind.“

Es gibt sie natürlich, die in seelisch ausgeglichener Verfassung wissensdurstig ist und nicht nur gern zur Schule gehen, sondern auch darüber hinaus gern und aus sich heraus leisten. Aber die meisten „überleistenden Kinder“ haben andere Gründe, die ihnen auf Dauer das Selbstvertrauen nehmen und die Selbstzweifel verstärken. Dazu gehört zum Beispiel eine tiefsitzende Angst mancher überleistenden Kinder, nicht liebenswert genug zu sein, selbst zu spüren und durch Selbsteinschätzung zu erkennen, dass es der „Wunschvorstellung“ der Eltern einfach nicht gerecht werden kann. Folge ist ein negatives Selbstwertgefühl, da nur das Streben nach guten Leistungen oder einem bestimmten Bild, dem es „zu entsprechen hat“, zu Akzeptanz und Zuwendung durch die Eltern oder auch durch Erzieher:innen und Lehrkräfte führt.

Bezeichnend in diesem Zusammenhang ist, dass 60 % der Kinder im Grundschulalter schon eine Therapie hinter sich haben, S. 27. Und in der „Franz-Studie“ [1] gaben 65 % der Eltern an, dass das freie Spiel weniger wichtig sei als die organisierten Freizeitaktivitäten. Auch andere Untersuchungen ergeben, dass das freie Spiel jenseits von „Erwachsenenkontrolle“ nur noch 5 % der Wochenaktivität ausmache, S. 45. „Eltern“, so beschreibt Magrit Stamm es, „fühlen sich verpflichtet, als Produzenten zu handeln und die Kinder auf die Bühne zu stoßen“, S. 52.  So werden Probleme umgehend gelöst, und zwar so, dass Misserfolg oder Scheitern keine Option mehr sein können.

Durch überfachliche Kompetenzen wie Stärkung des Selbstvertrauens, Anlässe für eine intrinsische Begeisterung zu schaffen, Raum für Selbstwirksamkeit zu lassen, Zeit und Sicherheit zu geben, um eine Frustrationstoleranz zu üben (…), wäre eine authentische Entwicklung des Kindes gesichert, ohne es einfach nur dahingleiten zu lassen.

Doch die bildungsambitionierte Mittelschicht setzt oft noch einen drauf. Der Trend, Beschwerden, zum Beispiel gegen zu schlechte Noten, einzureichen, steigt. Um den Mehraufwand durch Stellungnahmen zu diesen Beschwerden zu vermeiden, geben manche Lehrkräfte dann einfach bessere Noten, S. 55.

Doch woher kommt der Ehrgeiz der Eltern, die sich gegen jede Notengebung, zu viele Hausaufgaben, erzieherische Ratschläge … wehren und im Zweifel zum Rechtsanwalt gehen oder Kinderarzt bzw. -ärztin oder -therapeut:in zum Elterngespräch mitnehmen oder auch Essenspläne in der Kita abfotografieren, um sicherzugehen, dass der Nachwuchs wirklich nur diese Speisen erhält, die ihm auch zu Hause munden?

Bildungsangst und ihre Folgen

Die Ursache liegt oft nicht im Elternhaus selbst, sondern in der Hochleistungsgesellschaft. Da jedoch das Elternhaus als hauptverantwortlich für Erfolg und Versagen gilt, kämpfen sie bis aufs Blut für ihren Nachwuchs. „Wohin Eltern auch schauen und an wen sie sich wenden: Sie werden in ihrer Sorge bestätigt, in der hinderlichen Förderung möglicherweise etwas zu versäumen“, S. 107. Und so begeben sich Eltern von Anfang an in eine Art Wettbewerb gegen Windmühlen, schließen „Zeichnen, Musik hören, im Matsch spielen oder einfach nur Zeit lassen“ nahezu aus und fördern stattdessen etwa das, was im späteren Leben vermeintlich wichtig ist oder werden könnte. Und bis das differenzierte Verstehen beim Kind auf dem natürlichen Entwicklungsplan steht, hat es oft schon vergessen, wer es eigentlich „ist“.

Die gravierendste Konsequenz für derartige Fehlleitungen unter hoher Elternerwartung und stetiger Kontrolle ist die Verknüpfung von Elternliebe und Gegenleistung in Form guter Noten oder angemessenen Verhaltens:

„Eltern, welche für den Erfolg ihres Kindes alles tun und sich mit ihm identifizieren, möchten als kompetente und erfolgreiche Familie auftreten. Deshalb sind sie enttäuscht, wenn die Leistungen nicht ihren Erwartungen entsprechen. Die Kinder spüren dann, dass Liebe und Anerkennung an gute Noten geknüpft sind. Das kann zu einem Teufelskreis führen.“

In einem solchen Fall sind die elterlichen Ambitionen mit dem kindlichen Wohlbefinden kaum noch überein zu bringen, denn der Liebesentzug ist eine der stärksten und leider wirksamsten Formen der Elternkontrolle.

In diesem Zusammenhang ist die Untersuchung von Wendy Grolnick und ihrem Team aufschlussreich. Sie bildete mit 40 Müttern und ihren Drittklässlern zwei Gruppen. Die erste Hälfte wurde instruiert, die Kinder bei den Aufgaben zu kontrollieren, da die Ergebnisse am Ende überprüft und bewertet würden. Die zweite Gruppe wies die Eltern lediglich auf die Möglichkeit einer Unterstützung hin, da die Ergebnisse lediglich als Feedback dienen sollten. Die Ergebnisse sind eindeutig, S. 119: Während die Kinder in der ersten Gruppe durch die starke Kontrolle und Teilhabe der Mütter verunsichert waren, brachten sie schwächere Leistungen, vergaßen die Aufgaben schnell wieder und verfügten über eine niedrige Selbsteinschätzung. Die Kinder aus der zweiten Gruppe, die also – abgesehen von begleitender Unterstützung – die Aufgaben selbstverantwortlich erledigten, erbrachten bessere Leistungen, vergaßen die Aufgaben im Nachhinein nicht und entwickelten eine höhere Selbsteinschätzung ihrer Kompetenzen, gewannen also einhergehend auch an Selbstbewusstsein.

Trotz der eindeutigen Ergebnisse zwingt unsere Sicherheits- und Vergleichskultur Väter und Mütter dazu, die Kinder keine Sekunde aus den Augen zu lassen. Diese Kultur hat den gesunden Menschenverstand verdrängt. Aus Elternsorge ist Elternkontrolle geworden.

Das Fatalste ist, dass viele gar nicht mehr wissen, wie Selbstverantwortung funktioniert. Einerseits degradieren sie Kinder zu einer Art seelenloser Festplatte, die es zu füllen gilt, andererseits stilisieren sie sie hoch zu einzigartigen Persönlichkeiten – und das schon im Kleinkindalter.

von Beate M. Dapper

Fußnote

[1] Die FRANZ-Studie, welche im Februar 2010 startete und im Dezember 2012 abgeschlossen werden konnte, erforschte erstmals in der Schweiz, wie Familien mit Vorschulkindern ihren Alltag gestalten, welche Betreuung sie wählen und welche Folgen damit auf die Entwicklung der Kinder verbunden sind. Siehe auch: https://margritstamm.ch/images/FRANZ%20Studie%20Schlussbericht.pdf

Buchautorin Margit Stamm © Iris Krebs

Über die Buchautorin: Margrit Stamm

verheiratet und Mutter von zwei erwachsenen Kindern. Sie ist Professorin em. für Pädagogische Psychologie und Erziehungswissenschaften an der Universität Freiburg (Schweiz) und Direktorin des Forschungsinstituts Swiss Education, Gastprofessorin an diversen Universitäten im In- und Ausland sowie in verschiedenen wissenschaftlichen Beiräten von nationalen und internationalen Organisationen.

Ihre Forschungsschwerpunkte sind Frühkindliche Bildung und Familie, Begabungsforschung und Talententwicklung sowie Chancengerechtigkeit und Berufsausbildungsforschung. www.margritstamm.ch