Die Erziehungsgeheimnisse1 - Michaeleen Doucleff

Michaeleen Doucleff
Erziehungsgeheimnisse indigener Gemeinschaften
Wie Kinder glücklich, gelassen und hilfsbereit werden.
Penguin Verlag
ISBN: 978-3-328-10993-8
384 Seiten
14,00 Euro

Als ich gefragt wurde, ob ich eine Rezension für dieses Buch schreiben möchte, hatte ich einige Vorurteile und wollte zunächst ablehnen. Ich bin froh für die erneute Nachfrage – denn ich war positiv überrascht! Ich dachte zunächst an „Auf der Suche nach dem verlorenen Glück“ von Jean Liedloff und die nicht immer ganz einfache Übertragbarkeit auf unsere Kultur. Das ist zwar auch bei diesem Buch der Fall, doch es hat einiges mehr zu bieten. Da ich nichts mehr ohne die Brille des bindungsbasierten Entwicklungsansatzes (siehe auch www.bindungsbasiert.ch) betrachten kann, ergibt das Buch in diesem Kontext besonders viel Sinn.

In ihrem sehr persönlichen und dadurch auch leicht zu lesenden Bestseller-Erziehungsratgeber beginnt die gestresste und überforderte, amerikanische Journalistin und junge Mutter Michaeleen Doucleff die üblichen Erziehungspraktiken unserer Gesellschaft zu hinterfragen. Dabei stößt sie auf nicht unbekannte Antworten: Dass viele Ratschläge erst in den letzten ca. 200 Jahren entstanden sind und auch nicht für „normale“ Kinder und „normale“ Eltern gedacht waren, sondern z. B. für Krankenschwestern, die mit viel zu vielen Waisenkindern arbeiteten. Oder (in diesem Ausmaß neu für mich) dass die Heiratsverbote der katholischen Kirche 600 n Chr. (es durften dann keine auch noch so fern Verwandten einander heiraten, sonst verloren sie ihr ganzes Hab und Gut, was ja der Sinn war, es in der Großfamilie zu halten) zur Zerschlagung der Großfamilien- und Clanstrukturen führte, in der die Menschen lebten und dadurch die Gesellschaft und ihre Werte nachhaltig und tiefgreifend veränderte. – Und uns damit auch zu ziemlich „eigenartigen“ Eltern machte. Dies war einer der Ausgangspunkte, von denen sie anfing, weiter zu hinterfragen und zu reisen.

Es entspricht einem entwicklungsgemäßen Blick, sich zu fragen, wie es eigentlich gemeint war mit dem Aufwachsen, was eigentlich normal ist – und nicht das als normal anzusehen, was die meisten tun. Die Kulturen der Maya in Yucátan, der Inuit in der Arktis und der Hazda in Tansania sind mehrere tausend Jahre alt und haben sich – natürlich vor allem für das Leben in ihrer jeweiligen Umwelt bewährt. Die Autorin reiste – mit ihrer Tochter und das finde ich auch das besonders Schöne und Interessante daran! – zu drei indigenen Gemeinschaften, hat mit ihnen gelebt und von ihnen gelernt. Sie macht neben ihren Beschreibungen, was sie dort erlebt hat, dann sehr konkrete, vielleicht ein bisschen amerikanisch, kleine Häppchen, die einem helfen sollen, die Dinge besser umzusetzen. Sie hebt dabei besonders herausragende Teile der Erziehung der einzelnen Gemeinschaften hervor. Jedoch konnte sie auch viele Ähnlichkeiten feststellen. Da ihre Tochter zu der Zeit ein Kleinkind ist (und ich derzeit auch ein Kleinkind zu Hause habe), kann ich die Lektüre insbesondere für Eltern und Erzieher dieser Altersgruppe empfehlen, wobei es ja, unabhängig vom Alter, viel Kleinkindverhalten in unserer westlichen Welt gibt, dem eine andere Sicht guttäte.

Starke Alpha-Eltern, eingebettet in einer unterstützenden Gemeinschaft

Ich denke, ein Verständnis davon, was Alpha in Bezug auf Elternschaft bedeutet, ist an dieser Stelle im Buch besonders hilfreich. Dann kann ich nämlich leichter sehen, dass es eine besondere Haltung ist, die Eltern der beschriebenen Gemeinschaften zweifelsohne ganz natürlich besitzen und die ihnen auch nicht so leicht verlorengeht, wie bei uns. Diese Eltern sind außerdem in ein unterstützendes Beziehungsgeflecht aus Familie, Nachbarn, Dorf und Clan eingebunden, das ihnen helfen sollte, falls sie einmal aus dem Alpha fallen, bzw. das jede Menge andere Alphas für das Kind zur Verfügung stellt.

Es ist vor allem wichtig, WER wir für unsere Kinder sind und weniger, WAS wir tun, wie Gordon Neufeld sagt. Trotzdem kann es hilfreich sein, sich bei einem guten Alpha etwas abzuschauen und über diesen Umweg selbst in diese Haltung zu finden. Das ist genau der Weg der Autorin und mit diesen Gedanken im Hinterkopf können ihre Ratschläge durchaus hilfreich sein. Zum Beispiel, aufzuhören, ein Kind ständig etwas zu fragen – Entscheidungen sind schwer, Worte reizen oft und können zu Gegenwillen führen und all das schwächt das eigene Alpha. Deswegen reagierten vieler der Interviewten auch irritiert auf ihre „westlichen“ Fragen, warum sie dies oder jenes tun oder lassen, da sie vieles eben aus einer bestimmten Haltung und ihrer Kultur heraus dem Kind gegenüber tun und keine Erziehungsratgeber lesen. Da der Leser nicht selbst dort gelebt hat und ein gutes Alphavorbild vor Augen hat, so wie die Autorin, könnte manches, wie gesagt, weniger leicht umsetzbar sein. Ich glaube, dass vieles in Kombination mit dem bindungsbasierten Entwicklungsansatz Sinn ergibt und auch leichter umsetzbar ist.

Warum die mexikanischen Kinder mithelfen wollen (acomedido zu sein), erschließt sich mir auch durch diesen Hintergrund leichter – sie erhalten durch das Helfen eine Bindungseinladung auf den ersten drei, wenig verletzlichen Bindungsebenen und ihr natürlicher Wunsch, zu helfen und später auch, es recht zu machen, werden anerkannt und erhalten. Mehr dazu im Podcast # Bindung.

Emotionale Mäßigung und ein anderer Blick auf kleine Kinder – warum die Inuit ihre Kinder nicht anschreien

Dann glaube ich, ansatzweise zu verstehen, warum die Inuit kaum wütend werden und ihre Kinder nicht anschreien: Weil sie verstanden haben, dass kleine Kinder noch anders funktionieren als Erwachsene. Gerade diesen Teil darüber, dass kleine Kinder einfach anders sind und wir ihre (emotionalen) Fähigkeiten oft überschätzen, finde ich sehr wertvoll und ist ein wichtiger Bestandteil im bindungsbasierten Entwicklungsansatz. (Lesen Sie dazu die Rezension zum Buch: Vertrauen Spielen Wachsen von Deborah MacNamara.) Ergänzen könnte man, dass sich der präfrontale Kortex voll entwickelt und damit die gemischten Gefühle, wenn alles gut läuft, sich frühestens mit 5 bis 7 Jahren zeigen. Bis dahin (also bis sich solche gemischten Gefühle zeigen) erfahren die Inuit-Kinder eine besondere Nachsicht.

Außerdem ist den Inuit klar und dies wird über Generationen weitergegeben und als essentiell betrachtet, dass ihre Beziehung zum Kind essentiell ist und es sich nicht panzern darf, damit es leicht zu führen und zu erziehen.

Das Kind anzuschreien, ist in diesem Sinne überhaupt nicht förderlich. Was für ein Vorbild wäre auch ein Erwachsener, der ein Kind anschreit und von ihm fordert, nicht zu schreien? Die Erwachsenen der Inuit leben Mäßigung vor und fördern diese auch durch soziale Ächtung, wenn jemand die Kontrolle verliert. Eine hohe Mischfähigkeit, ruhig und gelassen zu bleiben, gilt als erwachsen und reif.

Und das bedeutet auch, Kindern von früh auf zu vermitteln, dass ein reifes Verhalten Wutanfälle ausschließt. Was in dieser Kultur stimmig und eingebettet ist, bietet jedoch bei der Übertragung der Autorin auf unseren westlichen Alltag einige Tücken. Denn zunächst ist es wichtig, dass diese Fähigkeit zu gemischten Gefühlen eben erst mit ca. 5 – 7 Jahren entwickelt wird und Eltern es davor auch nicht zu sehr erwarten sollten und dann ist es, aus meiner Sicht, sehr wichtig, das Kind trotz allem willkommen zu heißen – eben auch, wenn es schlägt oder wütend ist. Und unsere Kinder haben durch unsere Lebensweise viel mehr Anlass, frustriert zu sein. Manchmal bekamen die im Buch beschriebenen Situationen mit ihrer Tochter für mich zu sehr einen Geschmack von „Ich liebe dich nur, wenn du lieb und nett und brav bist“. Ich glaube schon, dass es sinnvoll ist, einem Kind zu vermitteln, dass das Einfügen in eine (gesunde!) soziale Struktur, sich leicht führen zu lassen und zu helfen, wichtige Kernwerte sind, jedoch braucht es andererseits auch eine bedingungslose Einladung, damit das Kind sich nicht zu früh zu sehr anpasst und damit anstrengt, geliebt zu werden. Die Autorin betont zwar, dass es bei den Inuit nicht um die Unterdrückung von Wut geht, doch dies ist aus meiner Sicht in unserem Alltag weniger leicht zu erreichen.

Ich habe mich natürlich auch gefragt, was eine Erklärung für die kaum vorhandene Wut der Inuit ist. Ein Teil scheint mir auch durch deren Lebensweise begründet –viel draußen, verbunden mit der Natur und in einer Familien- und Clanstruktur, die bei den Menschen generell zu einem viel geringeren Frustrationslevel führt, da so viele ihrer Grundbedürfnisse durch das artgerechtere Leben erfüllt sind. Vielleicht hat es auch mit ihrer Ernährungsweise (das schreibe ich als Vegetarierin) zu tun, die ihrer Umgebung angepasst ist und sie damit auch wieder verbindet. Zudem glaube ich, dass ein Leben unter solch extremen Bedingungen in der Arktis auch erfordert, mit den eigenen Energiereserven klug umzugehen und regelmäßige Wutanfälle wären da sicherlich kontraproduktiv.

Allen drei Kulturen ist eine besonders liebevolle Zuwendung (kleinen) Kindern gegenüber zu eigen, eine Nachsicht mit ihrem entdeckenden, noch tollpatschigen Wesen. Sie scheinen einfach verstanden zu haben, dass man von kleinen Kindern viele Dinge noch nicht erwarten kann, die in unserer Kultur so missverstanden werden (dass sie die Dinge logisch angehen, es gleich richtig machen, direkt teilen usw.). Von daher sind ihre Erwartungen ganz andere und sie sind allein dadurch schon viel weniger frustriert mit ihnen.

Macht die Kinder zum Teil eurer Welt – und schiebt sie nicht ab in eine künstliche, nervige „Kinder-Unterhaltungswelt“!

Einen weiteren wichtigen Punkt fand ich, zu erkennen, dass wir unsere Kinder zu sehr von uns wegschieben, wenn wir sie nicht in unsere täglichen Aufgaben mit einbeziehen. Wir bauen eine künstliche Kinderwelt auf, die mit der Erwachsenenwelt wenig gemeinsam hat.

Erst lassen wir sie nicht helfen, wenn sie es noch wollen (als ganz kleine Kinder) und machen alles lieber alleine, weil es schneller geht und dann verlangen wir auf einmal perfekte Mithilfe im Haushalt von ihnen, nachdem wir sie jahrelang rausgehalten haben.

Wir erziehen die Kinder damit dazu, unterhalten werden zu wollen, statt sich aktiv einzubringen. Diese Welten haben es auch an sich, dass sich Erwachsene auch ungern in der Kinderwelt aufhalten – und es auch umgekehrt schwierig wird. In einem Maße, dass dann auf eine aus meiner Sicht schon regelrecht kinderfeindlich darüber gelacht wird wie in dem aktuellen Buch „Kinder sind ein Geschenk, aber ein Wellnessgutschein hätt’s auch getan“ von Sabine Bode. Anstatt zu erkennen, dass aus wirtschaftlichen Gründen diese Trennung vollzogen wurde, die zu einer völligen Verzerrung der echten Bedürfnisse von Kindern führt, wird sich einfach, teilweise sehr auf Kosten der Kinder, lustig gemacht.

Wenn ich mich als Mutter jedoch mehr entspannen kann und erkenne, dass das Alltägliche mit meinem Kind Programm genug ist, tut es sehr gut, das zu hören. Allerdings leben die Eltern der beschriebenen indigenen Gemeinschaften in einer gesunden Familien- und Dorfstruktur leben, in der die Kinder viele Geschwister, Cousins, Cousinen, Tanten und Onkel und andere Ansprechpartner haben und die meiste Zeit unter freiem Himmel mit viel essentielleren Arbeiten verbringen, bei denen Kinder gut dabei sein können. So leben bei uns (leider) die wenigsten.

Mit einem Kind den Haushalt zu machen, anstatt es abends, wenn die Kinder schlafen, alleine zu tun, ist schon einmal eine hilfreiche Sicht. Auch ein Kind nach und nach mehr in die eigene Arbeitswelt einzubeziehen, finde ich wichtig.

Ein (kleines) Kind bei Arbeiten am Computer dabei zu haben, kann ich jedoch nicht uneingeschränkt unterstützen. Generell stelle ich bei der Autorin eine unkritische Haltung bezüglich des Konsums von digitalen Medien bei (kleinen) Kindern fest.

Was ich im Buch außerdem vermisse, dass sie in keinster Weise eine frühe Fremdbetreuung von Kindern in Frage stellt – vielleicht sicherte ihr dies auch den Bestsellerstatus? Bei den Hazda in Tansania sowieso, doch auch bei den Inuit und Maya scheinen mir Kinder bis in Schulalter innerhalb der (erweiterten) Großfamilie betreut zu werden. Dies hat natürlich auch einen entscheidenden Einfluss auf den Erfolg der Erziehung.

Den Kreis der Liebe aufbauen – und Depression entgegenwirken

Dieses Eingebundensein in einen Kreis der Liebe, wie es die Autorin nennt, ist auf jeden Fall eine erstrebenswerte Sache. Da wird das Prinzip der hintereinandergeschalteten Fürsorge deutlich – denn ältere Geschwister werden von klein auf nach und nach mit kleinen Aufgaben, sich um die noch kleineren Kinder zu kümmern, bedacht. Ihnen wiederum werden noch ältere Kinder und Erwachsene zur Seite gestellt und die Erwachsenen wechseln sich mit der Pflege und Aufsicht der Kinder ab.

Alle sind durch gegenseitiges Helfen und Unterstützen der jeweils Jüngeren miteinander verbunden, keiner ist allein. Ein wichtiger Grund für eine größere Erfüllung.

In unserer Welt sind die Vereinzelung und Vereinsamung gerade junger Eltern einer der Gründe für die steigende Rate an postpartalen Depressionen von Vätern und Müttern.

Durch die Lektüre habe ich vielfach noch konkreter festgestellt, was uns eigentlich verloren gegangen ist. Seit vielen Jahren höre ich von so vielen Seiten, dass uns das Leben als Jäger und Sammler in so vielen verschiedenen Aspekten viel mehr entspricht. Es aus der Erziehungsperspektive mit so vielen starken Alphaeltern als Vorbild zu erleben, finde ich sehr besonders.

Mein Fazit: Ich kann das Buch sehr empfehlen, insbesondere Eltern von Kleinkindern. Die Umsetzung gelingt aus meiner Sicht noch besser mit dem Wissen des bindungsbasierten Entwicklungsansatzes, der unserer Kultur etwas mehr entspricht.

von Luise Fuchs

Michaeleen Doucleff © Simone Anne

Über die Buchautorin: Dr. Michaeleen Doucleff

lebt gemeinsam mit ihrem Mann und ihrer Tochter in San Francisco. Sie absolvierte ein Chemiestudium an der University of California in Berkeley, war Redakteurin bei einem angesehenen Wissenschaftsmagazin, Radio-Korrespondentin und ist Bloggerin auf National Public Radio mit dem sie ein Millionenpublikum erreicht. Ihr Buch über die Erziehungsgeheimnisse indigener Kulturen erlangte internationalen Erfolg.