Die Herrschaft der Rotzlöffel

Susanne Schnieder mit Carsten Tergast
Die Herrschaft der Rotzlöffel
Wie wir die Verhältnisse im Kindergarten wieder vom Kopf auf die Füße stellen
Ecowin-Verlag
ISBN: 978-3711002617
199 Seiten
22,- Euro.

Susanne Schnieder schildert in ihrem neuen „Rotzlöffel“-Buch eindrücklich die fatalen Zustände in der Kleinkindbetreuung. Allerdings: die Schuld nur bei den Eltern abzuladen, ist nicht ganz in Ordnung

Susanne Schnieder ist richtig sauer. Die Kita-Leiterin und zweifache Mutter ist bereits Autorin von „Die Rotzlöffel-Republik“ (2017). In ihrem jüngsten Buch „Die Herrschaft der Rotzlöffel“ (2020) prangert sie höchst lebendig die Zustände in deutschen Kitas an. Unzählige Beispiele aus dem Kita-, aber auch aus dem Familienalltag beschreibt sie in unterhaltsam-lockerer, teilweise auch witziger Weise. Nicht selten bleibt einem allerdings das Lachen im Halse stecken, was natürlich beabsichtigt ist. Wenn etwa ein Vater sich auch dann (allein) zur „Eingewöhnung“ in die Kita begibt, obwohl das Kind krank ist und zuhause bleiben muss. Wenn der Trennungsschmerz der Mutter wieder einmal größer ist als der des Kindes, das in der Kita abgegeben wird. Oder wenn Eltern in WhatsApp-Gruppen ausgiebig über den Kita-Mittagstisch streiten.

„Essen auf Rädern“ schon für Kleinkinder

Apropos: Das Kapitel „Kita tiefgekühlt und auf Droge“ besticht dadurch, dass es die Kita-Verpflegung samt ihren fatalen Auswirkungen unter die Lupe nimmt. Während früher nur wenige Kinder im Kindergarten zu Mittag aßen, ist der Mittagstisch dort heute für die meisten Kinder selbstverständlich. Entsprechend werde nicht mehr mit den (ehemals wenigen) Kindern zusammen frisch gekocht, sondern „schon im Kindergartenalter kommt das Essen auf Rädern“, schreibt die Autorin. Die Folge: „Fragt man Fünfjährige, wo das Essen in der Kita herkommt, hat man nur zu oft den ‚Strom kommt aus Steckdose‘-Effekt: Das Essen kommt aus dem Essenswagen. Als wenn es vom Himmel gefallen wäre.“

„Das ist schlicht traurig“

Nicht nur, dass die Erzieherinnen deshalb nun „landauf, landab“ mit der Essensversorgung („dokumentieren, auffüllen, abdecken, einräumen, aufwischen, abwaschen …“) beschäftigt seien, so dass ihnen die Zeit für die Betreuung der Kinder fehle. Jeden Mittag werde in unzähligen Kitas zudem Essen entsorgt, vom Caterer mitgenommen und an Tiere verfüttert oder in Biogasanlagen verfeuert. „Was das alles mit nachhaltiger Lebensmittelwirtschaft zu tun hat? Nun: nichts. Da werden beispielsweise Tausende von Puten gezüchtet, getötet, geschreddert, zubereitet, ausgefahren, zum Teil aufgegessen, zum Teil in den Entsorgungseimer verfüllt, um nach einem so kurzen wie erbärmlichen Leben eine Biogas-Anlage aufzuheizen. Das ist schlicht traurig und ganz sicher nichts, was wir den Kindern in der Kita freudestrahlend erzählen können. Noch verrückter wird es, wenn wir dann am nächsten Tag die Kinder zum ‚Kleinen Klimaretter‘ ausbilden sollen oder ständig neue Fortbildungen und Projektangebote zum Thema Nachhaltigkeit ins Haus flattern.“

Susanne Schnieder bringt die Missstände in den Kitas wunderbar auf den Punkt, nicht nur beim Thema Ernährung. Es klingt alles sehr plausibel und nachvollziehbar. Viele der geschilderten Situationen meint man selbst schon einmal gesehen und/oder miterlebt zu haben, manche der nervigen Elterntypen meint man auch persönlich zu kennen.

Eltern wollen „fertige“ Kinder abholen

Die These, die die Autorin in ihrem Buch verfolgt, lässt sich so zusammenfassen: Der gesellschaftliche Wandel vollzieht sich zuvörderst in den Familien („Familie ist kein Rückzugsort mehr, und zwar weder für die Eltern noch für die Kinder. In dem Moment, in dem sie unter das Diktat der Effektivität gestellt wird, verliert sie ihren eigenen Zauber als Ort der Ruhe oder gar des Müßiggangs. Eltern geraten somit unter enormen Druck.“) und wird von überanspruchsvollen Eltern entsprechend auch in die Kitas getragen („Eltern delegieren ihren Erziehungsauftrag, sie wollen ‚fertige‘ Kinder abholen, ein Endprodukt, ausgestattet mit Bildung, Benehmen, Werten, also allem, was es zu Hause nicht mehr gibt.“). Diese kollabieren schlichtweg unter den neuen Lasten und Pflichten, Erzieherinnen fühlen sich als „Eier legenden Wollmilchsäue“.

So richtig die Diagnose ist, denn natürlich läuft etwas gewaltig schief im Bermudadreieck Eltern-Kinder-Kita: Aber den Eltern – auch wenn es nicht alle, sondern nur einzelne, allerdings zunehmend schwarze Schafe geben soll, wie Schnieder bemerkt – allein die Schuld am Kita-Desaster zu geben, ist ziemlich unfair. Damit reiht sie sich leider ein in die Vielzahl von Publikationen der vergangenen Jahre, die hemmungsloses Elternbashing betreiben.

Das Elternbashing ist unfair

Die Journalistin Gundi Herget hat für das Verbandsmagazin „Journalist“ einmal gründlich zum Thema Helikoptereltern und Elternbashig recherchiert und kam zu dem Schluss: „Das Thema ist wie Kaugummi mit extralangem Geschmack, beliebig wiederkäubar, aber mit wenig Substanz. (..) Der chronisch-verbale Beschuss von Eltern in den Medien ist unfair, gehässig, ärgerlich und auch unwahr.“ Verschiedene große Untersuchungen (etwa 3. World Vision Kinderstudie von 2013, „Kinderbarometer“ von 2018, Children’s World der Bertelsmann Stiftung von 2019) seien zu dem Ergebnis gekommen:

Der großen Mehrheit der Kinder und Jugendlichen geht es gut. Sie fühlen sich in ihren Familien wohl und von ihren Eltern geliebt, zu denen sie ein gutes Verhältnis haben. Tendenz steigend.“

Und warum geht es dann einigen Kindern weniger gut? „Alle Studien nennen als größte Probleme unserer Jüngsten Armut und Armutsgefährdung, mangelnde Teilhabe, Mobbing und Gewalt. Von Überfürsorge kein Wort“, schreibt Herget. Der Familienverband nennt als größte Probleme ebenfalls die „grassierende Kinderarmut“, außerdem die schwierige Vereinbarkeit von Familie und Beruf sowie die Versäumnisse in der Bildungspolitik.

Eltern müssen sich nach der Decke strecken

Leider muss man der Rotzlöffel-Autorin vorhalten, dass sie mit keinem Wort die eigentlichen Ursachen für den fatalen gesellschaftlichen und damit auch familiären Wandel erwähnt: So ist es doch in erster Linie eine Politik, die seit Jahren Eltern gängelnd vor sich hertreibt nach dem Zuckerbrot-Peitsche-Prinzip (kostenlose Ganztagsbetreuung im Angebot / doppelte Berufstätigkeit als Forderung).

Wenn ein Verdienst nicht mehr zur Ernährung der Familie ausreicht und beide Eltern sich beruflich nach der Decke strecken sollen, verwundert es nicht, dass Kinder, Familienleben und natürlich gute Erziehung auf der Strecke bleiben.

Hinzu kamen und kommen weiterhin familienpolitische Kampagnen, die das „Alleinernährer“-Modell ebenso wie ein Leben ohne Krippe und Kita für obsolet erklären. Indem aus dem „Kindergarten“ für die Über-Dreijährigen die „Kita“ für Null- bis Sechsjährige erwuchs, verwischten nicht nur die Alters-, sondern auch die Betreuungsgrenzen: den ahnungslosen Eltern wurde suggeriert, dass man schon einjährige Babys bedenkenlos fremdbetreuen lassen könne. Nicht zu vergessen der Dominoeffekt: wenn es doch alle Eltern machen, kann es ja nicht so verkehrt sein!

Mütter müssen immer „am Ball“ bleiben

Die verhängnisvollen Stichworte für den von der Politik verantworteten gesellschaftlichen Wandel lauten: gehaltsabhängiges Elterngeld (statt gehaltsunabhängiges Erziehungsgeld); Streit um die „Mütterrente“; Verunglimpfung des Betreuungsgeldes als „Herdprämie“; neues Unterhaltsrecht (zwingt Mütter, immer „am Ball“ zu bleiben und den Beruf möglichst nicht länger für die Kindererziehung zu unterbrechen oder gar aufzugeben); doppelte Berufstätigkeit / Vereinbarkeit von Familie und Beruf (wird heute von allen Eltern erwartet); „frühkindliche Bildung“ (was auch immer das sein mag); „Bildung“ statt „Bindung“; kostenlose Kita; Rechtsanspruch auf einen Krippenplatz für alle U3-Jährigen, Ausbau der Ganztagsschulen, und so weiter und so fort.

Aus für die „Muttermilch“?

Entscheidende Treiber dieser Entwicklung waren und sind nach wie vor eine aggressive Gender- und Gleichstellungsideologie, die Wörter wie „Mutter“ und „Vater“ am liebsten auf dem Scheiterhaufen der Geschichte verbrennen und durch „neutrale“ Begriffe wie „Frau“ und „Mann“ ersetzen möchte. In Großbritannien geht man jetzt sogar soweit, dass in den Broschüren des staatlichen Gesundheitsdienstes NHS die Begriffe „Muttermilch“ (breastmilk) und „Stillen“ (breastfeeding) durch „Oberkörpermilch“ (chestmilk) und „Oberkörperfütterung“ (chestfeeding) ersetzt werden sollen, um gebärende Transmenschen nicht zu diskriminieren (F.A.Z. vom 20.2.2021: „Alles Gute zum Co-Elternteiltag“).

Eltern verlieren ihre Intuition

Auch soll statt von „Mutter“ von „Mutter oder gebärdendem Elternteil“ gesprochen werden, rät der NHS; für den Vater empfiehlt sich „Elternteil“ oder “Co-Elternteil“. Was all das mit Eltern, Kindern und Familien macht, kann man sich leicht vorstellen: bestenfalls schadet es ihnen nicht, weil ihre Intuition stärker ist als die sinnfreie Begriffsumwandlung, schlimmstenfalls verwirrt es sie und schwächt das familiäre Selbstbewusstsein inklusive elterlichem Verantwortungsgefühl. Heraus kommt eine Elternhaltung, die Susanne Schnieder wiederum treffend beschreibt, aber leider nicht in den genannten Kontext bringt:

„In der Erziehung und beim Aufwachsen eines Kindes einfach mal dem eigenen Gefühl, der Intuition zu vertrauen, scheint vielfach noch nicht einmal mehr eine Option zu sein.“

Die Kita als Allheilmittel?

Zu Recht kritisiert die Autorin, dass ausgerechnet ein medial so präsenter Mann wie der Präsident des Robert Koch-Instituts (RKI), Lothar Wieler, die Kitas als Allheilmittel angepriesen habe: Kinder würden „dort entsprechend ernährt, dazu aufgefordert, mit Gleichaltrigen zu spielen und sich ausreichend zu bewegen“. Mit keinem Wort habe der RKI-Chef erwähnt, dass Kitas und Kindergärten als Familienergänzung gedacht sind und nicht als deren Ersatz. Immerhin wirft die Autorin hier auch einmal einen Blick auf die fatale Rolle öffentlicher Funktionsträger. Man darf nur hoffen, dass der RKI-Präsident bei seiner Bewertung der Corona-Lage nicht ebenso schief liegt wie bei der der Kindergesundheit.

von Birgitta vom Lehn

Über die Buchautoren: 

Susanne Schnieder ist Kita-Leiterin, Tanzpädagogin, Systemischer Gesundheitscoach und Referentin in der Erwachsenenbildung. Sie hat zwei Kinder.

Carsten Tergast studierte Allgemeine Literaturwissenschaft, Neuere Deutsche Literaturwissenschaft und Medienwissenschaft. Heute arbeitet er als freier Journalist, Autor und Texter.