Donald W. Winnicott
Kinder – Gespräche mit Eltern
Psychosozial-Verlag
ISBN 978-3837933369
146 Seiten
22,90 Euro
In der heutigen schnelllebigen Welt fühlen sich viele Eltern unter Druck gesetzt, die perfekte Erziehung zu meistern. Doch bereits in den 1950er und 60er Jahren sprach der renommierte Kinderarzt und Psychoanalytiker Donald Woods Winnicott in seinen BBC-Rundfunkansprachen darüber, dass Eltern viel besser sind, als sie selbst oft denken. In seinem kürzlich neu aufgelegten Buch „Kinder – Gespräche mit Eltern“ werden diese Ansprachen gesammelt, in denen er auf nervende Verhaltensweisen kleiner Kinder eingeht und zeigt, dass diese Herausforderungen ganz normale Entwicklungsschritte sind. Eltern werden dabei ermutigt, sich selbst zu vertrauen und auf ihr natürliches Gespür zu hören.
Rundfunkansprachen als Erziehungsratgeber
Donald W. Winnicott greift dabei alle Bereiche auf, die das Leben mit Kindern auch heutzutage für die Eltern anstrengend machen: Das Dasein als Stiefeltern, das Daumenlutschen und Kissensaugen, das Nein-Sagen, die Eifersucht, das Nerven der Mütter durch die kleinen Kinder, Sicherheit und Schuldgefühle, die Entwicklung des moralischen Empfindens, die Besonderheiten des Kindes von fünf Jahren und Stress im Vorschulalter.
Die Herausforderung der Stiefelternschaft:
Winnicotts ermutigender Blick auf ein belastetes Rollenbild
Stiefeltern haben eine sehr schwierige, undankbare Aufgabe, die durch die Märchen der bösen Stiefmutter nicht leichter wird. Winnicott gelingt eine aufmunternde Sicht auf die Probleme, die sowohl Stiefeltern als auch Stiefkinder belasten.
Die Bedeutung des Daumenlutschens:
Winnicotts Einblick in die frühkindliche Ich-Entwicklung
Beim Daumenlutschen und Kissensaugen weist Winnicott eindringlich darauf hin, dass es das Kind eine gewaltige Anstrengung kostet, zwischen dem Ich und dem Nicht-Ich zu unterscheiden und wie notwendig das Saugen an Daumen und Kissen für diese Kinder ist.
Das Nein-Sagen:
Winnicott und die Entwicklung kindlichen Verstehens
Zum Nein-Sagen der Kinder beschreibt Winnicott eine Diskussion unter Müttern, die anschaulich wiedergibt, welche gewaltigen Veränderungen sich von einem Lebensmonat zum anderen vollziehen, wenn Kinder nach und nach verstehen, was das Nein der Eltern bedeutet. Die anschließend vorgenommenen einfühlsamen Kommentare zu den drei Stadien des Nein-Sagens führten zu neuen Erkenntnissen für die Zuhörerinnen, was in der dann folgenden Diskussion zum Ausdruck kam.
Widersprüchliche Gefühle:
Winnicott über Eifersucht und den Alltag mit kleinen Kindern
In gleicher Weise wird Eifersucht und das, was Müttern kleiner Kinder auf die Nerven geht, diskutiert. Gerade hierzu zeigt Winnicott sein tiefes Verständnis für die so widersprüchlichen Gefühle der genervten Mütter. Sie sind hin- und hergerissen zwischen den ständigen Ärgernissen mit den kleinen Kindern und ihrer Liebe zu den Kindern.
Die Bedeutung der mütterlichen Sicherheit für die seelische Entwicklung
Die von Winnicott immer wieder thematisierte Sicherheit der frühen Jahre, die besonders Mütter ihren Kindern geben, ist unverzichtbar für eine gesunde seelische Entwicklung. Sie verträgt keine unerwarteten Ereignisse, keine unwillkommene Einmischung, denn das kleine Kind kann ohne den vollkommenen Schutz nicht existieren.
Von Schuld zu Moral:
Winnicotts Einblicke in das emotionale Wachstum von Kindern
Im Kapitel über die Schuldgefühle bei Müttern diskutiert Winnicott mit einer Mutter die vielfältigen Ursachen dafür und den Sinn von Schuldgefühlen im Hinblick auf die Erziehung der Kinder.
Die Entwicklung des moralischen Empfindens entstehe aus Schuldgefühlen des Kindes im Zusammenhang mit seinen aggressiven und destruktiven Impulsen der Mutter gegenüber. So entwickle sich das Empfinden für Gut und Böse beim Kind, wie sich so vieles andere auf natürliche Weise einstellt, wenn bestimmte Voraussetzungen in der Umgebung gegeben sind.
Der Übergang des Fünfjährigen:
Vom Ich zur gemeinsamen Realität
Mit den Besonderheiten in der Entwicklung des Kindes von fünf Jahren beschreibt Winnicott, wie der Übergang aus der subjektiven Welt des kleinen Kindes in eine Welt der gemeinsamen Realitäten dem Kind zu schaffen macht.
Stress im Vorschulalter:
Die Auswirkungen von Umweltversagen und Abwesenheit
Das letzte Kapitel befasst sich mit Stress im Vorschulalter, der immer dann auftritt, wenn die Umwelt versagt und das Kind seiner Umgebung hilflos ausgeliefert ist. Winnicott verweist dabei auf den besonderen Stress des kleinen Kindes, den es empfindet aus dem Umstand, dass die Mutter länger abwesend ist, als das Kind ihr Bild vor seinem geistigen Auge bewahren kann.
Die Herausforderungen der Mutterschaft damals und heute
Grundlegende Gedanken über Kinder und ihre Eltern haben Winnicott sein ganzes Leben beschäftigt, was seine vielen Veröffentlichungen immer wieder beweisen. Durch seine Rundfunkansprachen inspirierte und motivierte Winnicott sein breites Publikum, nicht zuletzt dank der offenen und lebhaften Atmosphäre, in der sich die eingeladenen Mütter ohne Konkurrenzverhalten austauschten, gemeinsam lachten und ähnliche Erfahrungen teilten. Besonders die Behandlung der Eifersucht unter den Kindern brachte alle Aspekte der Problematik zutage, wie sie eine wissenschaftliche Abhandlung kaum umfassen kann.
Frauen der 1950er und 1960er Jahre standen in der Regel nicht im Spannungsfeld zwischen Beruf und Familie. Ihr Hauptaugenmerk war die Mutterschaft. Sie beklagten zwar auch, wenig Zeit für die eigenen Dinge zu haben, ließen sich aber vollkommen auf die Bedürfnisse der oft zahlreichen Kinder ein.
Das berichtete Verhalten unterscheidet sich in keiner Weise von dem der heutigen Kinder, die jedoch zusätzliches nervendes Verhalten wie ständige Verweigerungen, übermäßiges Trödeln und Dichtmachen* zeigen. Auch dies hat heute seine Ursachen im Stresserleben, wenn die Umwelt versagt oder die Kinder durch zu viele Reize überfordert sind.
Winnicotts Buch ein hilfreicher Begleiter – damals wie heute
Ein persönlicher Austausch unter Eltern über Themen wie sie in Winnicotts Buch angesprochen werden, waren nicht nur vor 60 Jahren für Eltern relevant, sondern sind es heute in gleichem Maße. Denn es sind die entwicklungsbedingten Verhaltensweisen, die die Erziehung kleiner Kinder anstrengend machen. Insofern kann das Buch Eltern weiterhin helfen, ihre Kinder besser zu verstehen. Winnicott zeigt darüber hinaus mit dem vorliegenden Buch sein Verständnis für die Herausforderungen, denen Eltern grundsätzlich ausgesetzt sind und macht deutlich, dass die Elternrolle zu den dankbarsten gehört, die man sich vorstellen kann.
von Erika Butzmann
* Butzmann, E. (2020, S. 106). Sozial-kognitive Entwicklung und Erziehung. Impulse für Psychologie, Erziehungswissenschaft und Sozialpädagogik. Psychosozial-Verlag Gießen.
Über den Buchautor: Donald Woods Winnicott
(1896-1971) war Kinderarzt und Psychoanalytiker. Er konzentrierte sich als einer der ersten auf die frühe Mutter-Kind-Beziehung und erweiterte mit seinen Forschungen die psychoanalytische Theorieentwicklung. Er gab mit seinen vielen Büchern Eltern immer wieder wertvolle Impulse für die Praxis. Lesen Sie auch hierzu „Väter in die Pflicht – von Anfang an?“