Kita-Leiter Pfusch am Kind - Claus-Dieter Weiß

Claus-Dieter Weiß
Pfusch am Kind:
Die Bildungstäuscher und Bildungsfälscher
Garamond Der Wissenschaftsverlag
ISBN: 978-3946964407
260 Seiten
25,- Euro

Kita-Leiter Claus-Dieter Weiß klagt schonungslos seinen eigenen Berufsstand an. Das größte Manko sei der fehlende Veränderungswille.

Die Eltern sollen befriedet werden

„Ruhe im Karton“ sei das Motto unserer Kita-Landschaft, und dies sei „traurig und frustrierend zugleich“. Der das beklagt und in einem 260-Seiten-starken Buch detailliert und offen beschreibt, kennt sich unbestritten aus: Autor Claus-Dieter Weiß hat die Kita nicht nur als Vater einer Tochter erlebt, sondern auch als Gruppenerzieher, stellvertretender Leiter, Leiter, Fortbilder, Teamentwickler und Coach.

Seine langjährige Erfahrung hat ihm gezeigt: Alle Beteiligten am System Kita – egal ob Trägervertreter, Stadtvertreter, Gemeindevertreter, aber auch Elternvertreter – hätten sich immer wieder „für irgendwelche kostensparende Maßnahmen entschieden, die einerseits die Gemüter und andererseits die Geldbeutel nicht allzu sehr strapazieren“. Weiß‘ Fazit: „Sie alle wollten einen pflegeleichten und gut funktionierenden Kindergarten, mehr jedoch nicht.“

Kinder stören nur in der Erwachsenenwelt

Erschreckend liest sich Seite für Seite dieses Buchs, an dem der Autor über 20 Jahre lang geschrieben hat, dem allerdings eine gründlichere Korrektur in Bezug auf Zeichensetzung und Grammatik gutgetan hätte. Geradezu gespenstisch wird hier das Bild einer Welt gezeichnet, in der Kinder die Welt der Erwachsenen „nur stören“. Der ehemalige Kita-Leiter blickt frustriert zurück auf eine Zeit, in der er immer wieder versucht habe, mit anderen über das Kita-Dilemma zu reden, zu schreiben, zu diskutieren. Aber vergeblich:

„Die Erwachsenen haben die Verbindung gekappt und tun dies jeden Tag aufs Neue. Das ist bitter und traurig zugleich.“

Kein Buch für schwache Nerven

Dieses Buch ist – so viel Warnung muss sein – nichts für schwache Nerven, denn es legt den Finger schonungslos in alle offenen Kita-Wunden. Und damit ist es ein so wichtiges und lesenswertes Buch geworden, das allerdings gern etwas gestrafft hätte sein dürfen, zumal der Autor sich einige Male wiederholt. Wer als aufgeschlossene Erzieherin mutig zu diesem umfangreichen Buch greift, muss sich obendrein auf einiges gefasst machen, denn hier wird auch Anklage gegen einen Berufsstand erhoben, der sich hinter „professioneller Distanz zu den Kindern“ verstecke und am „Alten“ so hartnäckig festklammere, „als wenn unser Leben davon abhängen würde“. Das sind harte Vorwürfe, aber ja die eines Insiders.

Niemand will es wirklich wissen

„Es wird geblendet auf Teufel komm raus“: Kitas seien erwachsenenzentriert, nicht kindzentriert, so der Vorwurf. Daran könnten auch die schönsten Gütesiegel nichts ändern. Der Autor spricht deshalb von „Bildungstäuschern und Bildungsfälschern“. All die versprochenen Millionen kämen beim konkreten Kind nicht an. Letztlich gehe es immer nur um Quantität, nicht um Qualität. „Oder die Eltern sollen befriedet werden mit verminderten oder ganz wegfallenden Kita-Gebühren.“ Kitas seien „die Stiefkinder der Nation“. Aber niemand wolle wirklich wissen, wie es in den Einrichtungen ausschaue.

„Das haben wir schon immer so gemacht!“

Das größte Problem macht der Experte bei den Fachkräften selbst und ihrer persönlichen Haltung aus. Sie leisteten zwar einen „Frondienst“, der „perspektivlos, veränderungsresistent, frustrierend und angstbesetzt“ sei. Die Fachkräfte hätten mittlerweile „schlicht aufgegeben, schlicht resigniert“ und handelten nach dem Motto: „Wir wollen unsere Ruhe, unseren Frieden und die Kinder, Eltern und Kolleg/Innen sollen uns in Ruhe lassen, uns unsere Arbeit so gestalten lassen, wie wir es für richtig halten. Denn das haben wir schon immer so gemacht!“

Solche Äußerungen kämen nicht nur von den Erzieherinnen, sondern auch von Trägervertretungen, schreibt Weiß. „Veränderungen sind verhasst. Die Erzieherinnen haben Angst vor jedweden Veränderungen. Vor der Einflussnahme von Eltern und anderen Erwachsenen, die ihnen vielleicht bei ihrer Arbeit über die Schultern schauen und erkennen, wie sie wirklich arbeiten.“ Hospitationen seien deshalb meist unerwünscht. Wer als Eltern von Kita-Kindern bereits derartige negative Erfahrungen gemacht hat, wird sich in diesem Buch voll und ganz bestätigt sehen und es als Ermutigung empfinden, immer wieder auf die Missstände hinzuweisen oder für sein Kind doch eine anderweitige Betreuungsform suchen.

Schöne Scheinwelt Kita

Doch Vorsicht: in den Hochglanzbroschüren werde allerlei Schönes versprochen, was nach Bildung klinge oder gar nach „Treibhäusern der Zukunft“ (den Begriff hatte einst der Schulpädagoge Reinhard Kahl geprägt, inzwischen findet man ihn so gut wie gar nicht mehr, wohl weil die Realität so nie stattgefunden hat). Letztlich handle es sich bei den versprochenen Dingen aber meist nur um den Mindeststandard, und das heiße: die Kinder sollen „rittersportmäßig“, quadratisch, praktisch und sozialverträglich gemacht werden, eben passend für die Schule.

Geradezu allergisch reagiert der Autor auf die Schwemme an Projekten und Programmen wie Gewaltpräventions-, Sucht-, Sprach-, Spiel-, Umweltprojekte: „Sie sollen die Eltern täuschen.“ Die Programmvielfalt könnte vielmehr ein Hinweis auf die Orientierungslosigkeit der vor Ort Tätigen sein, warnt Weiß und fragt: „Ist diese Vielfalt in Wirklichkeit eher eine Einfalt? Bedeutet Kindheit im 21. Jahrhundert etwa nur das Abarbeiten von Programmen zur Bedürfnisbefriedigung und Seelenmassage der Erwachsenen? Insbesondere der erwachsenen Fachkräfte, Träger und Kommunen?“

Warum Bewegungs-Kitas?!

Besonders „auf dem Kieker“ hat Weiß sogenannte „Bewegungs-Kitas“. Schließlich sei zu fragen, ob nicht jede Kita automatisch eine Bewegungs-Kita sein müsse, weil Kinder schließlich einen natürlichen Bewegungsdrang haben, der selbstverständlich befriedigt werden müsse. Dass sich hier einzelne Kitas ein spezielles Bewegungs-Label anheften dürfen, ist für Weiß „ein versteckter Hinweis darauf, wie unbeweglich letztlich all die anderen Kindertagesstätten sind, wenn sie keine Bewegungs-Kita sind“.

Der folgende Absatz mag in manchen Ohren vielleicht schon zynisch klingen, aber den meisten Eltern wird er doch irgendwie bekannt erscheinen. Daher soll er hier zum Abschluss einmal vollständig zitiert werden, er vermittelt zugleich ein adäquates Bild von der direkten und schonungslosen Schreibweise in diesem Buch:

„Nun wieder ein kleiner Blick in die realen Kindertagesstätten. Wie viele Mitarbeiter:innen wollen sich denn überhaupt noch bewegen oder nicht viel lieber an ihren Erzieher-Tischen sitzen oder einer Lehrerin gleich die wilde Horde beaufsichtigen? Die Kinder werden ebenfalls zum Sitzen angehalten, zum Sitzen erzogen. Sie sollen an Tischen malen, basteln, spielen. Viele Mitarbeiterinnen sind natürlich auch nicht mehr körperlich in der Lage, in die Knie zu gehen oder sie haben ‚übergewichtige‘ Gründe, lieber auf dem Stuhl zu sitzen als sich zu bewegen. Selbst draußen stehen die Fachkräfte herum, behalten den Überblick, anstatt mit den Kindern Fangen zu spielen oder Verstecken oder Ball oder was auch immer. Kennzeichnend für diese Berufsgruppe scheint der Stuhl zu sein. Ist das wirklich so? Sind wir Sitzenbleiber? Sitzenbleiber auch im Wissen und in der Reflektion?“

von Birgitta vom Lehn

Lesen Sie auch die Rezension von Ulla Wesseler.

Lesen Sie auch die Rezension von Aloys Gelhaus.

Claus-Dieter Weiß © privat

Über den Buchautor: Claus-Dieter Weiß

Jahrgang 1960, verheiratet und Vater einer Tochter. Sozialpädagoge, Weiterbildung zum Spiel- und Theaterpädagogen. Seit 2001 bis heute arbeitet er als Kita-Leitung. 2002-2004 entwickelte er gemeinsam mit der Gleichstellungsbeauftragten der Stadt Schleswig ein Projekt zur Geschlechtergleichstellung und zur Gewaltprävention in Kindertagesstätten. – www.claus-dieter-weiss.de