Claus-Dieter Weiß
Pfusch am Kind:
Die Bildungstäuscher und Bildungsfälscher
Garamond Der Wissenschaftsverlag
ISBN: 978-3946964407
260 Seiten
25,- Euro
Wenn jemand wie Claus-Dieter Weiß eine so lange Erfahrung in der ganzen Breite der beruflichen Stationen hat, die für institutionelle Betreuung zuständig sind, diese anbieten und durchführen, kann nicht immer und alles so schlecht gewesen sein, wie er immer wieder betont. Ich frage mich, wie er die zwanzig Jahre in „solchen Läden“ überhaupt ausgehalten hat!
In seiner Betrachtung ist ihm aber auch ein grundsätzlicher Fehler unterlaufen, den andere Akteure, z. B. auch die Bertelsmann Stiftung in ElternZOOM 2021, nach meiner Überzeugung ganz bewusst einsetzen: Er schreibt allgemein über „Kitas“. Zu vielen Informationen wäre eine Differenzierung, ob von Krippe oder Kindergarten die Rede ist, wichtig gewesen. Die Betreuungsvoraussetzungen und -anforderungen unterscheiden sich in diesen Altersstufen doch zu sehr. [Anmerkung der Redaktion: Lesen Sie hierzu Was meint Kita?]
Allerdings muss man ihm auch bescheinigen, dass er „den Finger schonungslos in alle offenen Kita-Wunden“ gelegt hat. Nur einige Beispiele:
Bildung in der Kita – eine optische Täuschung
Die Bildungsleitlinien und Bildungsprogramme täuschen die Öffentlichkeit über die Realität hinweg. Recht hat er auch, dass die „Schwemme an Projekten und Programmen“, dazu rechne ich auch die „Bewegungs-Kita“, den Bildungserfolg für die Kita nachweisen soll; die Scheinwelt kaschieren soll!
Personalsituation von Jahr zu Jahr schlimmer
Zu Recht hat er auf den Forschungsbericht des DISW Deutsches Institut für Sozialwirtschaft, 30. 09. 2016, S. 5, Einführung verwiesen, der ergeben hatte, dass „in keinem Bundesland der Personalschlüssel den Anforderungen, […]wirklich ausreichend ist.“
Auch die im sogenannte Zwischenbericht der Jugend- und Familienministerkonferenz (JFMK) im November desselben Jahres 2016 verankerten wirklich zeitgemäßen und wissenschaftlich untermauerten Qualitätsanforderungen haben bis heute keine wirkliche Verbesserung der Qualitätsstandards gebracht. Der unablässig weiter durchgeführte Ausbau des Platzangebotes, insbesondere für Krippen, hat die Personalknappheit von Jahr zu Jahr noch verstärkt. Die von Weiß beschriebene Situation „[…], dass in allen Einrichtungen nur knapp am Mindeststandard und oftmals darunter, gearbeitet wird.“ hat sich in den Jahren nach 2016 deutlich verschärft.
Kinder haben bei Erwachsenen keine Stimme
Das ist leider so. Die Stimmen der Politiker gehören der Volkswirtschaft, dem Arbeitsmarkt. Und leider stören Kinder unsere Erwachsenenwelt, unsere Gesellschaft. Besonders deutlich und offiziell wird das an der Tatsache, dass unser Familienförderungssystem Eltern allgemein nur 12 Monate Zeit einräumt, ihr Kind zu begleiten; mehr gibt der Arbeitsmarkt nicht her!
Fachkräfte resignieren …
Dass die Fachkräfte „schlicht aufgegeben, schlicht resigniert“ haben, kann man sogar verstehen.
und Kinder – schon die ganz Kleinen – harren aus
Claus-Dieter Weiß beschreibt die Daseins-Realität der Kitas aus seinen Erfahrungen und nach meinem Empfinden an vielen Stellen stark überzeichnet. Wenn er sein Buch mit „Pfusch am Kind“ tituliert, hätte es ihm bei seiner breit gefächerten beruflichen Erfahrung allerdings nicht unterlaufen dürfen, dieses Kernproblem nicht zu besprechen: Vor dem Anfang des dritten Lebensjahres sind Kleinkinder für die Gruppenbetreuung i. d. R. nicht geeignet. [Ich verweise auf den Aufruf für eine Wende in der Frühbetreuung für Kinder]. Setzt man sich mit Gehirnentwicklung und frühkindlichem Lernen etwas mehr auseinander, kommt man auch als Laie an dieser Erkenntnis einfach nicht vorbei:
Die für das Aufwachsen und die frühe Bildung der Kinder so wichtige verlässliche, ständige Bindungsbeziehung ist i. d. R. am besten in der Familie sicherzustellen, durch die Eltern.
Namhafte Institute, Wissenschaftler, Sachverständige und Therapeuten sehen in der Gruppenbetreuung Unter-Dreijähriger für die soziale und emotionale Entwicklung einen nicht zu unterschätzenden Risikofaktor. Die nachgewiesene hohe Stressbelastung in der Krippengruppe führt bei bis zu etwa 50 % der Kleinstkinder später zu Verhaltensstörungen. [Ausführlichere Informationen siehe: „15 Jahre nachhaltige Familienpolitik? – Wo stehen wir heute? Eine Zwischenbilanz“, Gelhaus, S. 46 ff].
Auch im dritten Lebensjahr darf zur Vermeidung von dissozialem Verhalten nur für wenige Stunden Fremdbetreuung eingeplant werden; dann aber auch nur bei 100%iger Einhaltung der wissenschaftlich fundierten Qualitätsanforderungen.
Allerdings ist der Staat [Bund und Land] hier in der Pflicht, die Rahmenbedingungen für Eltern und Kinder entsprechend zu gestalten.
Bisher sind staatliche Stellen, viele Akteure in der Diskussion der institutionellen Kindbetreuung und auch leider weite Teile der Presse vorrangig darum bemüht, die natürlichen Hindernisse für eine Frühbetreuung und die Mängel in der täglichen Betreuungspraxis [Qualitätsstandards, Personalmangel, Platzangebote, etc.] totzuschweigen und sich einer offenen Diskussion zu entziehen.
von Aloys Gelhaus
Über den Buchautor: Claus-Dieter Weiß
Jahrgang 1960, verheiratet und Vater einer Tochter. Sozialpädagoge, Weiterbildung zum Spiel- und Theaterpädagogen. Seit 2001 bis heute arbeitet er als Kita-Leitung. 2002-2004 entwickelte er gemeinsam mit der Gleichstellungsbeauftragten der Stadt Schleswig ein Projekt zur Geschlechtergleichstellung und zur Gewaltprävention in Kindertagesstätten. – www.claus-dieter-weiss.de