Vererbtes Schicksal - Sabine Lück

Sabine Lück:
Vererbtes Schicksal
Wie wir belastende Familienmuster überwinden und unser wahres Potenzial befreien. Das große Praxisprogramm
Verlag: Kailash
ISBN: 978-3-424-63246-0
368 Seiten
22,- Euro

Noch ein Buch zur transgenerationalen Weitergabe. Muss das sein? Ja, unbedingt, lautet meine Antwort als Rezensentin. Denn Sabine Lück leistet mit ihrem Buch einen besonderen Beitrag im Themenfeld: ein Praxisprogramm zur Selbsthilfe mit individualpsychologischem Schwerpunkt. In den letzten Jahrzehnten ist die Thematik der transgenerationalen Weitergabe von verschiedenen Disziplinen in den Blick genommen worden. Im psychotherapeutischen Bereich rückte die transgenerationale Weitergabe von Traumata in den Fokus, hierbei insbesondere der Kriegskinder und -enkel, besonders untersucht bei Holocaustüberlebenden.

Buchbegründung

Sabine Lück ist Psychologische Therapeutin in eigener Praxis und entwickelte zusammen mit Ingrid Alexander ein Therapiekonzept zur Behandlung transgenerativer Traumata. Sie ist Mitbegründerin und Ausbilderin im Institut für Transgenerative Prozesse (ITP) in Wendeburg. Mit diesem Buch realisiert sie ein Herzensanliegen und eine Vision, wie sie in ihrem Nachwort beschreibt: „Deshalb möchte ich, dass jeder davon erfährt, wie wir (alte) Wunden heilen können. Und mehr noch: Transgenerationale Glücksweitergabe ist eine reale Möglichkeit, und ich wünsche mir, dass diese Zukunftsaussicht dir und allen Menschen, die dieses Buch gelesen haben, in diesen Zeiten als Kompass dient“, S.348. Die Wurzeln ihrer Motivation sucht sie auch in ihrer persönlichen Familiengeschichte (eng verknüpft mit dem Land Namibia) und dem Wunsch, ihr Wissen nicht nur Fachleuten zugänglich zu machen, sondern einem größeren Kreis. „[…]ich wollte ein Buch schreiben, das allen Menschen einen Zugang zu ihrer persönlichen Familiengeschichte ermöglicht. Ein Buch, mit dem sie den Treuevertrag beleuchten können, den sie als Kind mit ihren Eltern geschlossen haben, um diese an ihrer größten Wunde zu schützen“, S.31. Die Dringlichkeit dieser psychischen transgenerationalen Arbeit beschreibt Otto Holzberg bereits in seinem Vorwort zum Buch: „Im Roman unseres Lebens muss jeder von uns das tun, die Geschichte der Vorfahren entziffern, um zu verstehen …

Wir leben in einer Zeit, in der wir stets nach vorne blicken. Wir suchen Lösungen. Jeder versucht das Beste aus sich zu machen. Wir lernen, unsere Ziele zu definieren, um im Leben erfolgreich zu sein. Doch das Erbe unserer Ahnen ist stark. Wir müssen zurückblicken, zurück fühlen, um im Jetzt bestehen zu können.“

Sabine Lück lädt ihre Leserinnen zu einer Reise der besonderen Art ein: Sie möchte auf dieser Reise Handwerkszeug an die Hand geben für den Umgang mit spezifischen Treueverträgen, um Licht in das familiäre Dunkel und damit in die eigene Seele zu bringen. Sie ermutigt, das vererbte Schicksal, das nicht selten als Unglück empfunden wird, als ungerecht, in die eigene Hand zu nehmen.

„Immer wieder habe ich Menschen getroffen, die eigentlich alles haben, was man für das Glücklichsein benötigt, und trotzdem geht es ihnen nicht gut. Zudem leiden sie unter Schuldgefühlen, weil es ihnen nicht gelingt, ihr Glück zu fühlen und es zu leben“, S.125.

Zum Inhalt

Im einleitenden Teil stellt Sabine Lück Grundlegendes vor: sie setzt sich terminologisch mit vererbtem Schicksal auseinander, erörtert die Auswirkungen von familiär erlittenen Traumata auf die Bindungsbeziehung sowie Auswirkungen auf das Urvertrauen. Sie spricht die Lesenden dabei persönlich an und führt auch Neulinge in diesem Terrain gründlich in die Thematik ein. In den weiteren Kapiteln, wie etwa „Vorbereitung auf die Reise zu deinen Ahninnen und Ahnen, Unsichtbare Bindungen, Deine Reise zu den Ahninnen, Der Treuevertrag des Kindes“ führt die Autorin jeweils in die Thematik ein, bietet konkrete Übungen an, die mit Triggersternchen gekennzeichnet sind und erörtert die jeweilige Thematik an Fallbeispielen aus ihrer sicherlich großen Erfahrungspraxis.

„Das alles soll dir dabei helfen, Licht ins Dunkel Deiner Ahnengeschichte zu bringen, blockierende Lebensmuster zu erkennen und aufzulösen und dein eigenes Geworden-Sein vor dem Hintergrund deiner Biografie zu verstehen.“

Auch auf ein Reiseverbot weist Sabine Lück vorsorglich hin, bei Menschen mit psychischen Erkrankungen, wie etwa Depression oder Angsterkrankungen: In diesen Fällen sollte die Reise nur mit therapeutischer Begleitung unternommen werden. Die Übungen sind mit Triggersternchen nach Traumatriggerprotenzial von 1-3 eingestuft – ob diese Zuordnung allgemeingültig eingesetzt werden kann, ist fraglich. Meist zeigen sich Trigger nach meinen Erfahrungen individuell und weniger vorab kategorisierbar. Darüber hinaus stellt die Autorin eine Fülle von Notfallübungen vor, die aus verschiedenen traumatherapeutischen Arbeiten zu einem hilfreichen zusammengestellt wurden. Lück identifiziert, wie auch andere Autorinnen vor ihr, das familiäre Schweigen als Hauptursache der transgenerationalen Weitergabe des Traumas, insbesondere der Bindungen und Bindungsfähigkeit.

„Wir müssen verstehen, wie wichtig die Aufarbeitung dieses Themas ist, um die ungesunde Treue zum Familiensystem aufzulösen. Nur so kann die Weitergabe verringert oder im besten Fall gestoppt werden“, S. 117.

Unsichtbare Bindungen

Zentral und aufschlussreich ist das Kapitel Unsichtbare Bindungen „Wir leben unser eigenes Leben, welches uns unsere Eltern schenkten – unsere Vorfahren vererbten uns ihre guten und schmerzlichen Erfahrungen und gaben uns ihre Lebensbewältigungsmuster mit und so leben wir auch ihr Leben und wiederholen nicht selten ihr Schicksal.“ Zunächst werden die gängigen transgenerationalen Erklärungsmodelle kurz und verständlich erläutert, hier das psychodynamische, soziokulturelle, biologisch-epigenetische. Letzteres liefert zentrale Erkenntnisse, wie traumatischer Stress sogar im Gehirn der Nachkommen nachweisbar ist – bislang beziehen sich diese Forschungen jedoch vor allem auf Tierversuche. Sabine Lück sieht diese Erkenntnisse in persönlichen Forschungen an 600 Ahnenreihen bestätigt. Lück und Alexander haben ihre Erkenntnisse im Konzept des Generationencodes zusammengefasst, der im vorliegenden Buch nur kurz erläutert wird. Belastete Eltern erzeugen in diesem Verständnis einen vom Kind ausgehenden Heilungsimpuls für das Familiensystem, den sie als Treuevertrag zwischen den Generationen bezeichnen. In diesem Treuevertrag spiegelt das Kind den Eltern unbearbeitete Themen oder lebt von den Eltern verleugnete Anteile aus.

„In seiner Liebe und Abhängigkeit macht das Kind die Elternrettung zu seinem Lebenssinn und verfolgt diese ein Leben lang“, S. 100.

Diese Aufgabe kann auch weit über den elterlichen Tod hinaus übernommen werden und nicht selten wird dafür die authentische Persönlichkeitsentwicklung des Kindes geopfert. Der hier angenommene Mechanismus, der den Familien innewohnenden Heilung, verlangt demnach eine Entschädigung der Ahninnen – die Autorin führt als Metapher ein Heilserum ein, dass den Ahninnen in imaginativen Reisen nachträglich verabreicht werden könne.

Sabine Lück beschreibt fünf typische Wege, die sie als Heilungswege von Kindern auffasst:

1. Das innere (un-)versorgte Kind von Vater oder Mutter sein
Hier stellt sich das Kind im Sinne einer projektiven Identifizierung als Übertragungsfigur der Eltern zur Verfügung, es wird gleichsam zu deren innerem Kind.

2. Sich selbst Eltern sein
Um die Eltern nicht zu beanspruchen, schneidet das Kind sich von seinen eigenen Bedürfnissen ab. Diese Kinder wirken oft früh unabhängig und leben nach einer Maxime der Grandiosität, alles allein zu können und niemand zu brauchen. Oft sind sie sehr angepasst – sie verstecken ihre Bedürftigkeit und können diese wenig leben.

3. Eltern für die Eltern sein
Die Kinder sind „parentifiziert“, sie werden etwa zur „Mutter der eigenen Mutter“, zum Beispiel, wenn diese früh ihre Mutter verloren hatte o. ä. In dieser Parentifizierung versuchen diese viel zu früh, bestmöglich für die Eltern zu sorgen, von denen sie doch kindlich existenziell abhängig sind. Die Kinder setzen alles daran, den emotionalen Zusammenbruch der Eltern zu verhindern.

4. Vorbild für die Eltern sein
In diesem Fall entwickeln Kinder genau die Fähigkeiten und Qualitäten, die ihre Eltern für ihre Lebenserfüllung gebraucht hätten.

5. Hüterin des Bösen
Das Kind übernimmt einen Täteranteil der Eltern und verkapselt ihn in sich. Ein lebenslanger innerer Kampf beginnt, der nicht selten in psychischen Störungen mündet.

Schweigen und Tabuisieren zeigte sich in allen Familien als Wegbereiter, das Trauma von Generation zu Generation weiterzugeben.

Fazit und Ausblick

Das vorliegende Buch ist eine Bereicherung für alle, die sich selbst besser verstehen möchten, indem sie die Vorfahren und deren Schicksal mit in den Blick nehmen. Insbesondere in der Kooperation Therapeutin/Klient kann dieses Buch ein wertvoller Schatz sein: es lädt zu einer abenteuerlichen und spannenden Reise ein, auf der es viel zu entdecken gibt. Eine Vielzahl an Übungen lassen aktive Selbsterkundung zu und können ebenso gut im therapeutischen Setting eingesetzt werden. Wie alle Selbsthilfebücher, die sich an traumatisierte Menschen wenden, war auch hier ein schwieriger Spagat zwischen Aufdecken und Helfen zu bewältigen die Autorin bietet dazu Hilfestellung an, die Betroffene selbst oder in Absprache mit ihrem Therapeuten klären müssen. In ihrem Nachwort beschreibt Sabine Lück ihren Traum von einer idealen Gesellschaft, die noch utopisch erscheint. „Aber so wäre es richtig; genauso bräuchten wir es!

Heute wissen wir, dass jede gute Erfahrung, jede liebevolle Geste und sogar die Vorstellung davon unsere Körper mit Glückshormonen durchfluten und all dies in der Folge als Erinnerungen in unserem Gedächtnissystem gespeichert wird“, S. 348.

Das Feld der transgenerationalen Praxisarbeit ist um eine Hilfe reicher, es kann auch Fachleuten und im Gesundheitsbereich Tätigen wertvolle Anregungen bieten.

von Waltraut Barnowski-Geiser

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Über die Buchautorin: Sabine Lück

psychologische Psychotherapeutin, Kinder- und Jugendpsychotherapeutin und Systemische Familientherapeutin in eigener Praxis. Zusammen mit ihrer Kollegin Ingrid Alexander entwickelte sie 1994 den „Generation Code®“, ein innovatives Therapiekonzept zur Behandlung transgenerativer Traumata. Im Jahr 2010 gründeten die beiden Therapeutinnen das Institut für Transgenerative Prozesse (ITP) in Wendeburg. Sabine Lück ist Autorin des Buchs „Ahnen auf der Couch“ und gibt ihr umfangreiches Wissen in Vorträgen, Seminaren und Ausbildungen weiter. www.itp-wendeburg.de