Miriam Gebhardt
Wir Kinder der Gewalt
Wie Frauen und Familien bis heute unter den Folgen der Massenvergewaltigungen bei Kriegsende leiden

Deutsche Verlags-Anstalt
ISBN: 978-3421047311
304 Seiten
24,- Euro

Es waren nicht nur die Russen, deren Rache laut Goebbels am Ende des Krieges furchtbar für die deutschen Frauen sein würde, es waren auch die als Befreier gefeierten Amerikaner, Briten und Franzosen, die wahllos deutsche Frauen und Kinder, sogar Kranke, Alte und Holocaustüberlebende vergewaltigten. Eine Welle der sexuellen Gewalt durchzog ab 1945 das Land und hinterließ hochgerechnet an die 900.000 vergewaltigte Frauen, die ein Leben lang schwer an dieser Last zu tragen hatten und die diese Erfahrung an ihre Kinder und Kindeskinder weitergaben.

“Wir Kinder der Gewalt” wurde von der Historikerin Miriam Gebhardt verfasst, die schon zuvor mit ihrem Buch „Wenn die Soldaten kommen“ das Tabuthema Massenvergewaltigung nach dem zweiten Weltkrieg kompromisslos aufgedeckt hatte. Dieses Buch ist nun den Kindern, die aus diesen Vergewaltigungen entstanden sind, und denen, die unmittelbar miterlebten, wie der Mutter Gewalt angetan wurde, gewidmet.

Zu Wort kommen lässt die Autorin Zeitzeugen und Opfer in Form von geführten Interviews, in denen sie ihre schlimmen Erfahrungen schildern und macht die Folgen dieser Traumata für die eigene Entwicklung und die Beziehung zu ihren Partnern oder Kindern deutlich. Dabei vergisst Miriam Gebhardt  jedoch nicht, die Gräueltaten der deutschen Soldaten während des Krieges zu beleuchten, die auch einen wichtigen Grund für den „Racheakt“ der Besatzer an der deutschen Frau darstellten.

Die Autorin klärt mit Zahlen und Fakten über die gesamten Ausmaße der Gewalt auf, zusätzlich wechselt sie zwischen den sehr persönlichen und emotionalen Interviews mit den Betroffenen, deren Partnern und Kindern und ihren aus Forschungen und Informationen gewonnenen Rückschlüssen. So zieht sich ein roter Faden durch das Buch mit seinem kaum zu ertragenden, aber doch so wichtigen Thema.

Die Zerstörung der Liebesfähigkeit von Mutter und Kind

Nachvollziehbar zeigt die Historikerin auf, wie Herzenskälte oder aber andererseits ein zu viel an Nähe eine Folge der Gewalt für die aus dieser Vergewaltigung entstandenen Kinder ist, die keine gesunde Bindung zur wichtigsten Bezugsperson aufbauen konnten. Das große Unglück ihrer Mütter überschattete ihre eigene Kindheit. Oft ohne genauere Gründe zu kennen, fühlten sie sich ungeliebt und abgelehnt von ihrer Mutter, die entkräftet, traumatisiert und selbst auf Hilfe angewiesen nicht in der Lage war, sich um das Kind und weitere Kinder zu kümmern. Meist standen diese Mütter alleine da, ohne Schutz, und brauchten ihre Kinder als Halt und Unterstützung. Selbst dann, wenn diese nicht alt genug dafür waren, übernahmen diese Kinder die Verantwortung für ihre schwer traumatisierten Mütter. Dazu kamen Umstände wie Hunger, Gewalterfahrungen, Vernachlässigung, denen auch sie selbst ausgesetzt waren, ohne Konzepte, wie man mit solchem Leid angemessen umgehen sollte. Die Kinder der Gewalt mussten ihre eigenen Wahrnehmungen leugnen, bagatellisieren was sie erlebten und ihre psychischen Nöte mit sich allein abmachen.

Fehlendes gesellschaftliches Bewusstsein für die belastenden Folgen kriegsbedingter Gewalt

In ihre Ausführungen über die Folgen bezieht Gebhardt sowohl die Bindungstheorie als auch soziologische und gesellschaftliche Prozesse mit ein. Sie beleuchtet den Einfluss der damaligen sozialen Umwelt, sprich: welche Auswirkungen der Umgang mit den Betroffenen und besonders die Bewertung der traumatischen Ereignisse hatte. So habe es nach 1945 kein gesellschaftliches Bewusstsein für die belastenden Folgen kriegsbedingter Gewalt gegeben, und auch keine Organisationen, die sich um die Versorgung der Opfer gekümmert hätten, wie es heute weltweit geschieht. Sexuelle Gewalt sei viele Jahre nach Kriegsende noch immer als „naturhafte Begleiterscheinung“ bewertet worden. Im Gegenteil seien die Opfer von der Gesellschaft, der Familie und den Ehemännern als Mittäterinnen oder sogar Verursacherinnen der Gewalt angesehen worden. Viele Frauen hätten noch nicht einmal Hilfestellungen oder Unterstützung erhalten, weibliche Sexualität sei entwertet und Kinder die aus der erfahrenen Gewalt entstanden waren, erlebten Ausgrenzung, wurden beschämt und erfuhren nur selten, wer ihre Väter wirklich waren.

Dieses Buch offenbart wieder einmal mehr, wie die Auswirkungen der Kriegs-und Nachkriegserfahrungen unserer Vorfahren auf ihre Kinder, aber auch auf die heute lebenden Generationen und weitere, noch kommende Generationen Einfluss nehmen. Es lässt uns verstehen, warum insbesondere Symptome wie Depressionen, Ängste, sexuelle Störungen, Abneigung gegen Sexualität, aber auch fehlender Fortpflanzungswunsch, nicht allein aus der Lebenswirklichkeit der heutigen Generation zu erklären sind.

Vor dem Hintergrund der vielen in Deutschland lebenden Opfer sexueller Gewalt aus aktuellen Kriegsgebieten, wird dieses Thema noch brisanter und bedrückender. Ein Buch wie dieses ist daher wichtig und kann weit über einen ersten Aufschrei des Entsetzens hinaus dazu beitragen, dass unsere Gesellschaft sich diesem Thema mit noch mehr Entschlossenheit zuwendet. Kriegsbedingte sexuelle Gewalt gehört streng verfolgt, und Frauen, die zu Opfern wurden, muss Hilfe angeboten werden, die ihr Leid anerkennt, Linderung und Heilung ermöglicht. Dies ist wichtig, damit auch zukünftige Generationen eine Chance bekommen ihre eigenen Verstrickungen mit ihren Müttern und gewalttätigen und/oder abwesenden Vätern zu erkennen und aufzulösen.

von Sabine Lück

Über die Buchautorin: Prof. Dr. Miriam Gebhardt

ist Historikerin und lehrt an der Universität Konstanz, wo sie über die Geschichte der frühkindlichen Erziehung habilitiert wurde. 2009 erschien ihr Buch: „Die Angst vor dem kindlichen Tyrannen. Eine Geschichte der Erziehung im 20. Jahrhundert“, Deutsche Verlags-Anstalt