Alkoholismus - Zeichnung © Julia Ginsbach

Aufgewachsen in einer alkoholkranken Familie schreibt Sabine Schütz über ihre eigenen Kindheitstage und wie sie sich im späteren Erwachsenenleben immer wieder einmal mit den Folgen ihrer Vergangenheit auseinandersetzen muss(te). Dabei hat sie in einem Brief an ihren Vater auch sprachlich ihren ganz eigenen Stil gefunden.

Aus dieser sehr subjektiven Schilderung wird das manchmal (sehr) belastete Erbe einer Kindheit in einer Alkoholiker-Familie sehr plastisch nachvollziehbar und soll Gesellschaft und Politik aufrütteln, das teilweise vorprogrammierte – und manchmal sehr leidvolle – Schicksal betroffener kleiner Kinder durch bessere und gezieltere Unterstützung zu verbessern bzw. zu verhindern.

Redaktion fürKinder

Die Trauma-Falle der Kleinsten

Vor Alkoholismus in Familien sind Kinder von Beginn an oft gänzlich schutzlos einem schädigenden System ausgeliefert, aus dem es häufig kein Entkommen gibt. Besonders dramatisch deren Situation zu Zeiten der letztjährigen Lockdowns, in denen es keinerlei Entrinnen aus dem elterlichen Zuhause gab – wie belastend dies für betroffene Kinder teilweise gewesen sein muss, kann selbst ich mir, die in so einem erkrankten Familiensystem gelebt hat – kaum vorstellen. Kinder von alkoholkranken Eltern sind nach wie vor die am meisten Leidtragenden und in vielerlei Hinsicht gefährdet.

Die kleinen betroffenen Kinder benötigen daher ganz besonders unsere Unterstützung. Die Aufmerksamkeit muss noch viel mehr auf die kleinen betroffenen Kinder gerichtet werden, um so noch mehr später auftretende Folgeschäden zu vermeiden. Derzeit geht man davon aus, dass nur zirka ein Drittel der Kinder aus alkoholkranken Familien relativ unbeschadet aus deren vergangener Familiensituation hervorgehen.

Traumatisch: Die Spuren der Vergangenheit

Bei etwa zwei Drittel der betroffenen erwachsenen Kinder bleiben die Spuren der Vergangenheit manchmal ein Leben lang eine Belastung. Oder treten immer wieder einmal auf. Häufig auch versteckt hinter einer perfekten Fassade. Das oberste Gesetz der Alkoholikerfamilien zu schweigen, damit nichts nach außen dringt, soll auch im Erwachsenenalter weitergelebt werden – wie ein Damoklesschwert schwebt es über den Köpfen vieler Betroffener, es könnte bei Gesetzesbruch Schreckliches passieren.

Sucht oder psychische Erkrankungen oder auch toxische Beziehungen sind einige der schädigenden Folgen, mit denen erwachsene Kinder belastet sein können.

Selbstrettungsversuche werden gemacht. Oder auch nicht. Sie glücken. Oder auch nicht. Doch so weit sollte es gar nicht mehr kommen müssen.

Krisenintervention für betroffene Familien

Darum setze ich mich seit einigen Jahren besonders für die kleinen betroffenen Kinder ein, denn ich kann und will nicht auf eine bessere Welt für sie hoffen, ohne etwas beizutragen. Und ja. Ich habe einen besonderen Wunsch. Ich wünsche mir eine Krisenintervention für betroffene Familien, die spätestens bei einem Polizeieinsatz in solchen Familien automatisch auch gerufen wird. Wie dies etwa in Österreich bei schweren Unfällen oder in anderen Bereichen bereits umgesetzt wird. Eine Krisenintervention. Die sich in so einem Fall um die Partner und ganz besonders um die kleinen Kinder kümmert. Eine Krisenintervention, die Partnern von suchtkranken Menschen vielleicht so zu den derzeitigen Angeboten noch eine zusätzliche und vielleicht noch hilfreichere Möglichkeit bieten kann, weitere Schritte zu setzen, um sich aus diesem schädigenden System zu lösen oder etwas zum Besseren zu verändern. Und eine Krisenintervention, die in so einer Situation ihre Aufmerksamkeit ganz besonders auf die kleinen Kinder richtet und versucht, ihnen Sicherheit zu geben, auch Erklärungen und ihnen damit vielleicht ein kleines bisschen der oftmals schrecklichen Angst nehmen kann.

[…]Ich erzittere beim bloßen Gedanken an die ungeplante und unbekannte, doch unausweichliche und unaufhaltsame Wucht, mit der Eltern in ihren Kindern Spuren hinterlassen, die sich, wie Brandspuren, nie mehr werden tilgen lassen. Die Umrisse des elterlichen Wollens und Fürchtens schreiben sich mit glühendem Griffel in die Seelen der Kleinen, die voller Ohnmacht sind und voller Unwissen darüber, was mit ihnen geschieht. (Pascal Mercier, Nachtzug nach Lissabon, S. 318)

Allein im Bundesland Oberösterreich kommt derzeit jedes vierte Kind aus einer alkoholbelasteten Familie. Jedes 10. Kind hat mindestens einen alkoholabhängigen Elternteil. Kinder alkoholkranker Eltern haben ein vier- bis sechsfach höheres Risiko, später selbst alkoholabhängig zu werden. (Quelle: Institut Suchtprävention, pro mente OÖ) Eine mögliche Suchterkrankung ist nur eine von vielen Folgeschäden, die auftreten können.

Darf es heute persönlich sein

Ich habe mich in den letzten Jahren über die politische Situation in meinem Heimatland Österreich, über die gesellschaftliche Entwicklung zum Thema Alkohol, über die Alkoholindustrie, über die gesundheitlichen Auswirkungen informiert und ich bin ihn gegangen. Diesen Weg. In meine eigene Vergangenheit. Und in die. Meiner Eltern.

Heuer wäre mein Vater 80 Jahre alt geworden. Zu diesem Anlass habe ich etwas geschrieben. Denn ja. Manchmal heilen auch Wut. Hass. Verletztheit. Von denen man denkt. Man würde sie ins eigene Grab mitnehmen.

Ein Brief an meinen Vater.

von Sabine Schütz

Links zum Thema

Wenn Alkohol den Familienalltag bestimmt

Psychische Gewalt – Obwohl sie meist im Verborgenen wirkt, kann sie mehr verletzen als körperliche Gewalt. Wo fängt psychische Gewalt an, wie entsteht sie – und was bewirkt sie? 3sat, Gert Scobel, verfügbar bis 29.09.2023

Die langen Schatten der Sucht – Behandlung komplexer Traumafolgen bei erwachsenen Kindern aus Suchtfamilien, Jens Flassbeck, Judith Barth, Verlag: Klett-Cotta

Die Forschung über erwachsene Kinder, die alkoholabhängige Eltern haben, ist oft nicht repräsentativ, veraltet und widersprüchlich.