Analoge oder digitale Früherfahrungen - AdobeStock © GrapeImages Hängen Eltern ständig am Bildschirm, werden auch ihre Kinder bald abhängig. Analoges Spielen ist für Kleinkinder aber unersetzlich, sagen Experten.

Wo man auch hinschaut auf Straßen, in Bussen, Bahnen und Cafés: Überall sind die Köpfe halb gesenkt, es kleben die Blicke am Smartphone. Das Alltagsphänomen Nummer eins macht auch vor Familien mit kleinen Kindern nicht halt. Der Anblick von Müttern und Vätern, die mit einer Hand den Kinderwagen schieben und in der anderen Hand ihr Handy halten, auf das Display starren oder mit dem Knopf im Ohr laut mit der virtuellen Person reden, ist so normal wie erschreckend im Straßenbild geworden. Das eigentlich Erschütternde dabei:

vor lauter virtueller Kontaktfreude geht der Blickkontakt mit dem Kind verloren.

Hauptperson Mama, Papa oder Handy?

Das Handy als Hauptperson – erschütternd, warum? Weil schon Babys auf diese Weise lernen: nicht ich bin für Mama oder Papa jetzt die wichtigste Person, sondern das Gerät in ihrer Hand beziehungsweise der ferne Freund an ihrem Ohr ist viel wichtiger und interessanter. Die Ablenkung durch den Bildschirm wirke sich in jedem Fall negativ auf die Eltern-Kind-Bindung aus, schreibt das Autorentrio Klaus Zierer, Christian Montag und Walter Dorsch in einem gemeinsamen Aufsatz für die Zeitschrift „Pädiatrie“. Zierer ist Ordinarius für Schulpädagogik an der Universität Augsburg, Montag leitet die Abteilung Molekulare Psychologie an der Uni Ulm und Dorsch arbeitet in einer Münchner Gemeinschaftspraxis der Kinder- und Jugendärzte.

Gerade das erste Lebensjahr sei für die Entwicklung nicht nur der Organe, sondern auch des Hirns von immenser Bedeutung. „Werden in dieser Zeit also entsprechende Erfahrungen nicht gemacht, hat das später negative Auswirkungen, die kaum kompensiert werden können“, warnen die Experten. Dazu zählen sie etwa die Fähigkeit, Gesichter zu erkennen, Geräusche räumlich zuzuordnen, Greifen und Loslassen, Krabbeln und Gehen und vieles andere mehr.

Eine Stunde für Sechsjährige reicht

Wenn Eltern nun ständig mit ihrem Smartphone beschäftigt sind, könne sich das Verhalten auf den Nachwuchs übertragen, schreiben die Fachleute. Vor allem, wenn Kinder es gewöhnt sind, mit aufs Handy zu schauen, fordern sie irgendwann selbst das Gerät ein und zeigen entsprechend früh ihre Abhängigkeit. Gemäß Empfehlungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) sollten Kinder in den ersten Lebensjahren aber gar keine Smartphones nutzen. Für Sechsjährige gilt: maximal eine Stunde Bildschirmzeit pro Tag. Dabei ist zu bedenken, dass das Fernsehen mitzählt.

Die Autoren verweisen auf Studien, die die negativen Folgen der Smartphone-Nutzung belegen. Allerdings beziehen sich die meisten Untersuchungen auf ältere Vorschulkinder, da für jüngere so gut wie keine Studien existieren. Zusammengefasst lässt sich sagen: Je länger sich Kinder mit Bildschirmen befassen, desto stärker leidet ihr aktives Spiel darunter. Auch spricht die Bildschirm-Beschäftigung ausschließlich die visuelle Wahrnehmung an. Haptische und feinmotorische Erfahrungen treten in den Hintergrund. Als Folge treten Verzögerungen der Sprachentwicklung, der Selbstregulation und der kognitiven Entwicklung auf. Auch Schlafdauer und -qualität leiden.

Lern-Apps ohne Vorteil

Die Autoren warnen auch vor allzu euphorisch beworbenen Lern-Apps. Vielfach würden hier von den Herstellern positive Effekte behauptet, die nicht belegt seien. Für Vierjährige sei jedenfalls erwiesen, dass das Spielen mit Puppen deutlich wertvoller sei als das Spielen mit iPads. Beim Spiel mit Puppen seien stärkere Aktivitäten nachgewiesen, und es sei für Kinder zudem eine gute Gelegenheit, soziale Rollen zu erproben, selbst wenn sie allein spielen. Auch das so wichtige Toben und Raufen, bei dem man soziale Kompetenzen lerne und wobei die Grobmotorik geschult werde, stehe in keinem Vergleich zur Beschäftigung mit dem Bildschirm.

Die Autoren kommen zu dem Schluss: Je mehr Zeit Kinder vor Bildschirmen verbringen, desto niedriger sind ihre sozial-emotionalen Fähigkeiten und desto wahrscheinlicher sind Verhaltensauffälligkeiten. Zusätzlich zeigen sich auch im Erwachsenenalter negative Zusammenhänge zwischen Internetsucht und Empathie.

Mehr Handy, weniger Feingefühl

Analoge oder digitale Früherfahrungen - AdobeStock © IrynaWie wirkt sich nun aber der Konsum digitaler Geräte durch die Eltern auf die Kinder aus? „Wenn Eltern auf ein portables digitales Gerät fokussiert sind oder dieses über einen längeren Zeitraum genutzt haben, reagieren sie seltener, langsamer, weniger feinfühlig und weniger bejahend auf ihre Kinder“, schreiben die Fachleute. Sie sehen die „elterliche Technofrequenz“ – also die alltäglichen Unterbrechungen der menschlichen Interaktionen durch technische Geräte – assoziiert mit einer geringeren Qualität der sich entwickelnden Mutter-Kind-Bindung sowie mit Bindungsunsicherheit und einer größeren „mütterlichen Feindseligkeit in Bezug auf die Mutterschaft“.

Nicht zuletzt bedeuten abgelenkte Mütter Stress für Babys.

Tatsächlich scheint sich der subjektive Eindruck also zu bestätigen, den man in Bahnen und Bussen täglich zu sehen bekommt: der feinfühlige, intuitive Umgang von Eltern mit ihren Babys und Kleinkindern findet immer seltener statt. Geradezu erschreckend ist es zu sehen, wie viele Eltern schlicht nicht mehr in der Lage sind, angemessen feinfühlig auf ihre panisch schreienden Säuglinge zu reagieren. Wenn aber stattdessen ein Handy klingelt, wissen sie es prompt zu beruhigen.

von Birgitta vom Lehn

Quellenangabe

Digitale Medien in den ersten 1.000 Tagen, Klaus Zierer, Christian Montag, Walter Dorsch, Pädiatrie September 2023, Jg. 35, Nr. 51, Sonderheft: Die ersten 1.000 Tage, S. 53 bis 56. inkl. Literaturnachweis

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