Bindung und Empathie - Foto 2 © Kerstin PukallAnmerkungen von Dr. Erika Butzmann zu einigen Antworten von Dr. Nicole Strüber im fürKinder-Interview

Die Frage nach den Entwicklungsphasen im Leben von Babys und Kleinkindern, ihrem Beginn und Verlauf, hat eine sehr viel größere Bedeutung für das Handeln von Eltern und Erziehern und damit für das Wohlbefinden der Kinder, als das auf den ersten Blick erscheint. Die Diskussion um Schaden oder Nutzen der frühen Krippenbetreuung wird deshalb in unserem Land auch so heftig geführt.

Dr. Nicole Strüber hat mit ihrem neuen Buch Die erste Bindung aus neurobiologischer Sicht dargelegt, welch wichtige Rolle die Eltern in den ersten Jahren für eine gesunde emotionale Entwicklung der Kinder spielt.


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Im Interview: Persönlichkeitsentwicklung in früher Kindheit geht Dr. Nicole Strüber auch auf Fragen zu den frühkindlichen Entwicklungsphasen ein. Im Folgenden ergänzt Dr. Erika Butzmann, Pädagogin und Psychologin, seit 25 Jahren tätig in der Elternbildung einige Antworten von Frau Dr. Strüber mit Beispielen aus der Praxis:

Hochsensible Kinder – Wenn das Stress-System überreagiert

Auf die Frage, woran Eltern erkennen können, ob ihr Kind eher widerstandsfähig oder eher sensibel ist, erläutert Frau Dr. Strüber, wie schwierig dies zu erkennen sei. Frage und Antwort hier

Dazu Dr. Butzmann: Für die besonders empfindlichen Kinder lässt sich aus der Praxis folgendes sagen: Die Kinder mit einem überschießenden Stresssystem zeigen ihre Empfindsamkeit deutlich durch starkes Klammerverhalten in den ersten Lebensjahren. Sie fremdeln stärker, haben stärkere Trennungs- und Verlassenheitsängste, sind darüber hinaus sehr reizoffen und schnell überfordert mit zu viel Aktion und zu vielen Menschen. Oft sind sie später heikle Esser und wehren sich gegen kratzige Kleidung. Gleichzeitig reagieren sie schon früh auf das Leid anderer und entwickeln früher soziale Kompetenzen.

Eine frühe Krippenbetreuung ist besonders für diese Kinder eine große Belastung und sollte unbedingt vermieden werden. Sie brauchen eine längere Zeit für die Festigung der Bindung und die erkenntnismäßige Ablösung von der Mutter und sollten möglichst erst mit 3 bis 4 Jahren in den Kindergarten. Eine vorherige Betreuung ist für diese Kinder am ehesten in der eigenen Wohnung durch Großeltern oder andere meistens verfügbare Verwandte verträglich. Für die notwendige Zeit der primären Bindungsfestigung sollte die Mutter jedoch bis mindestens zum zweiten Geburtstag meistens zur Verfügung stehen. (Ausführlicher: Risiken der frühen Krippenbetreuung)

Die Bedeutung der Bindungspyramide

Die Frage, ob eine frühe Trennung des Kindes von der Mutter die entscheidende Voraussetzung für die soziale und kognitive Bildung zerstört, beantwortet Frau Dr. Strüber u.a. mit dem Hinweis auf die Bindungspyramide und auf die Möglichkeit, dass auch andere Bindungspersonen den Stress des Kindes auffangen könnten. Frage und Antwort hier

Dazu Dr. Butzmann: Die immer wieder betonte gleichzeitig mögliche Bindungsbeziehung zu mehreren Personen ist irreführend, wenn die Bindungspyramide dabei nicht mitgedacht wird. Bindungspyramide bedeutet, dass oben die Mutter (oder ein gleichwertiger Ersatz) steht, dann der Vater und weitere nahe Verwandte, dann erst Nachbarn und Erzieher. Die besondere Stellung der Mutter geht aus den Ausführungen von Frau Dr. Strüber in ihrem Buch zur Bindung deutlich hervor.

Das Empfinden des Säuglings, mit der Mutter eine Einheit zu sein, aus der sich das Kind über einen längeren Zeitraum hinweg erkenntnismäßig ablösen muss, verstärkt diese besondere Bedeutung der Mutter. Wenn eine Familie die Bindungsbeziehungen nicht herstellen kann, ist es besonders wichtig, dass eine Pflegeperson, die langfristig (möglichst während der ganzen Kindheit) als primäre Bindungsperson zur Verfügung steht, diese Aufgabe übernimmt. Eine Erzieherin steht dafür nicht lange und konsequent genug zur Verfügung.

Frühes Erkennen von Gestik und Mimik

Ergänzend zu den Antworten von Frau Dr. Strüber auf  die Frage, welche Konsequenzen Eltern aus der Erkenntnis ziehen müssen, wenn Kinder schon früh die Gesichtsausdrücke der Eltern „verstehen“, eine Anmerkung aus der Praxis Frage und Antwort hier

Wie Fonagy / Target (2002) ausführlich beschreiben, ist die Spiegelung der Gefühle des Kindes durch die Mutter ganz wesentlich für das spätere Verstehen der eigenen Gefühle und der Gefühle des anderen. Dabei sollte die Mutter bei der Nachahmung von negativen Gefühlen des Kindes ihre Spiegelung langsam umwandeln in positive Mimik und positive Laute. Das beruhigt nachhaltig das Stresssystem des Kindes und hilft ihm bei der unbewussten gefühlsmäßigen Speicherung der positiven Erfahrung. Es „lernt“ dabei, dass negative Gefühle auch wieder vergehen. Dieses mütterliche Wissen und die Fähigkeit zur angemessenen Spiegelung der Gefühle des Kindes gehört zur natürlichen Ausstattung des Menschen.

Können sich kleine Kinder schon in andere hineinversetzen?

Auf die Frage, ab wann Kinder sich in andere hineinversetzen können, antwortet Frau Dr. Strüber mit den Forschungsergebnissen zur sog. „Theory of Mind“. Frage und Antwort hier

Dazu Dr. Butzmann: Für das Verständnis des Verhaltens der Kinder im Alltag halte ich einige Ergänzungen und Korrekturen für wichtig:
Kinder zeigen bei Forschungssettings in Laborsituationen häufig Fähigkeiten, die sie im Alltag nicht beherrschen. Das hat zum einen damit zu tun, dass Kinder in Fremdensituationen immer das Beste zeigen, was sie leisten können, weil sie sich dort unsicher fühlen. Zum anderen verläuft der normale Entwicklungsprozess spiralförmig, das heißt neue Fähigkeiten sind kurzzeitig da, dann sind sie wieder verschwunden und erst nach längerem Hin und Her stehen sie dem Kind endgültig zur Verfügung.

Das Hineinversetzen in die Perspektive des anderen ist ein langer Prozess, der sich über 5 bis 6 Jahre hinzieht. In den ersten 2 Jahren reagieren Kinder auf Kummer anderer mit Trösten, um das durch die Gefühlsansteckung wahrgenommene Leid des anderen abzustellen (Bischof-Köhler 1989). Erst mit dem Icherkennen im zweiten oder dritten Lebensjahr erkennen sie auch den anderen und reagieren dann mit bewusstem Handeln, das heißt entweder trösten sie (die eher sensiblen Kinder) oder sie kümmern sich nicht um das Leid des anderen (die eher extrovertierten Kinder). Erst ab etwa vier Jahren wissen sie, dass die anderen andere Gedanken im Kopf haben als sie selbst (Theory of Mind). Es ist die Zeit, wo die meisten Kinder Kopffüßler malen.

In dieser Zeit ist die Gefühlsansteckung immer noch ein starker Motor für soziales Handeln, der dann zunehmend durch das soziale Verstehen und Denken ergänzt wird. Die Gefühlsansteckung spielt auch weiterhin eine wichtige Rolle beim sozialen Verstehen. Das Hineinversetzen in die soziale Perspektive des anderen ist jedoch viel komplexer, so dass es weitere zwei bis drei Jahre dauert, bis die meisten Kinder das können.

Die Anwesenheit der primären Bindungsperson wird viel länger benötigt

Die Ausführungen von Frau Dr. Strüber zur Bedeutung die Bindungssituation des Kleinkinds für die Entwicklung dieser Fähigkeiten bedarf nach Auffassung von Frau Dr. Butzmann der Ergänzung Frage und Antwort hier

Dazu Dr. Butzmann: In der Praxis geht die Bindungsentwicklung über den 13. Lebensmonat hinaus. Die Angabe von Frau Strüber stammt aus Forschungsstudien, wo das Bindungsmuster (ob sicher oder unsicher) mit 12 Monaten festgestellt werden konnte. Das bedeutet jedoch nicht, dass zu diesem Zeitpunkt die Bindung gefestigt ist. Da das Vorstellungsgedächtnis, das bei Abwesenheit ein inneres Bild der Mutter ermöglicht, erst mit dem Icherkennen ausgebildet ist, benötigen Kinder die Anwesenheit der primären Bindungsperson bis ins dritte Lebensjahr hinein, um sowohl die Bindung zu festigen als auch die erkenntnismäßige Ablösung zu bewältigen. Das bedeutet, neben der Feinfühligkeit der Mutter ist ihre weitgehende Anwesenheit wichtig, um das Kind aus der bestehenden Abhängigkeit im ersten Lebensjahr, über die Anhänglichkeit im zweiten Lebensjahr in die zunehmende Selbstständigkeit im dritten Lebensjahr zu begleiten. Dann sind die Grundlagen geschaffen für ein stabiles Ichbewusstsein und das spätere soziale Denken und Verstehen.

Über die Autorin Dr. Erika Butzmann