Persönlichkeitsentwicklung - Foto © Kerstin PukallInterview mit Dr. Nicole Strüber vom Institut für Hirnforschung, Uni Bremen, und Autorin des Buchs: Die erste Bindung.


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fürKinder: Die uralte Frage nach der relativen Bedeutung von genetischer Vorprägung, der Erbmasse sozusagen, und der Prägung durch die Umwelt hat in den vergangenen Jahren an Brisanz gewonnen (Epigenetik). Gerade die Hirnforschung hat dazu wesentlich beigetragen. Ist etwa „das Böse “ ererbt oder erworben, nature or nurture? Wie groß ist der jeweilige Anteil?

Nicole Strüber: Von der Erbmasse hin zum Bösen ist es ein weiter Weg! Wobei es durchaus ein paar Gene gibt, die etwa das Risiko erhöhen, dass ein Mensch impulsives oder gefühlloses Verhalten entwickelt. Sie haben es aber ja bereits angedeutet: Auch die Umwelt spielt eine große Rolle für die Entstehung individueller Eigenschaften. Nun haben uns die wissenschaftlichen Erkenntnisse der letzten Jahrzehnte gezeigt, dass es nicht reicht, für jede Eigenschaft die jeweiligen Anteile von Genen und Erfahrungen zu berechnen, sondern dass immense Wechselwirkungen vorhanden sind. Gene beeinflussen nämlich zum einen, wie wichtig Erfahrungen sind. Andererseits können Erfahrungen die Aktivität der Gene beeinflussen (im Rahmen der von Ihnen bereits benannten Epigenetik). Frühe Stresserfahrungen können beispielsweise Gene des Stresssystems modifizieren und hierüber einen langfristigen Einfluss auf das Stresssystem ausüben.

Erworbene Eigenschaften werden vererbt

fürKinder: Werden die „erworbenen“, umweltbedingten Veränderungen ebenso an die nächste Generation vererbt wie die genetische Grundausstattung des Menschen?

Nicole Strüber: In der Tat gibt es erste Hinweise darauf, dass Veränderungen der Genaktivität, die aufgrund von Umwelterfahrungen erworben wurden, an die nächste Generation weitergegeben werden. Dies hat Wissenschaftler bereits veranlasst, an Lamarck zu erinnern. (Jean-Baptiste de Lamarck, 1744–1829, französischer Biologe, vertrat als Erster die Theorie, dass Organismen Eigenschaften an ihre Nachkommen vererben können, die sie während ihres Lebens erworben haben, d. Red.)

Vermutet wird ein solcher Mechanismus etwa in einem Zusammenhang mit der Posttraumatischen Belastungsstörung (post traumatic stress disorder, PTSD). Es wurde nämlich beobachtet, dass Menschen, deren Vorfahren an einer PTSD erkrankten, ein erhöhtes Risiko haben, bei Erleben eigener traumatischer Ereignisse selbst eine PTSD zu entwickeln. Man nimmt an, dass die Vererbung epigenetischer Veränderungen von Genen des Stresssystems eine Rolle für die Weitergabe des erhöhten Risikos spielt.

fürKinder: Lassen sich diese Veränderungen rückgängig machen?

Nicole Strüber: Die Wissenschaft ist in diesem Forschungsbereich noch ganz am Anfang. Aber es gibt vielversprechende Hinweise darauf, dass die epigenetischen Veränderungen unter geeigneten Bedingungen umkehrbar sind.

Die Umwelt hat Einfluss längst vor der Geburt

fürKinder: Wann beginnt der Einfluss äußerer Ereignisse auf die Hirnentwicklung?

Nicole Strüber: Der Einfluss beginnt bereits vorgeburtlich über die Stresshormone im Blut der Mutter. Aber wenn Sie wollen: In Anbetracht der möglichen Vererbbarkeit epigenetischer Veränderungen können auch Erfahrungen, die ein Mensch vor der Befruchtung der Eizelle gemacht hat, die Hirnentwicklung zukünftiger Nachkommen beeinflussen. Auf der Verhaltensebene wurde das von Wissenschaftlern der Universität Haifa bei Nagetieren deutlich gezeigt: Erlebten Ratten vor der Befruchtung erheblichen Stress, dann unterschieden sich ihre Nachkommen im Ausmaß ängstlichen Verhaltens und schienen weniger als andere an einem sozialen Miteinander interessiert zu sein.

fürKinder: Welche Umwelteinflüsse sind typischerweise Auslöser für negative Veränderungen im kindlichen Gehirn?

Nicole Strüber: Viele verschiedene Umwelteinflüsse korrelieren mit späteren charakteristischen Merkmalen der Gehirnfunktion oder des Verhaltens. Oft müssen aber mehrere Faktoren zusammenkommen, damit eine problematische Entwicklung auftritt.

Häufig beobachtete negative Umwelteinflüsse sind etwa vorgeburtlicher Stress, eine postpartale Depression der Mutter, eigene unverarbeitete Traumatisierungen der Mutter und damit einhergehende problematische Bindungserfahrungen des Kindes, Fremdbetreuung mangelnder Qualität, das Erleben von Missbrauch oder Vernachlässigung etc. Gemeinsamer Nenner ist bei diesen Erfahrungen das Erleben von Stress. Ist das Kind dauerhaft erhöhten Stresshormonkonzentrationen ausgesetzt, etwa, weil das mütterliche Blut zu viel davon enthält, weil das Kind immer wieder durch harsche Erziehungsmethoden oder überfordertes Verhalten der Eltern gestresst wird oder weil ihm in der problematischen Bindungsbeziehung adäquater Trost fehlt, dann kann dies einen Einfluss auf die spätere Gehirnfunktion und das Verhalten haben.

Jeder Lebensweg ist einzigartig

fürKinder: Es gibt eine lange Liste solcher Einflussfaktoren wie etwa physisches und psychisches Gewalterleben, Vernachlässigung, Trennung von der primären Bindungsperson, Depression oder Drogenmissbrauch der Eltern etc. Lässt sich Allgemeingültiges dazu sagen, in welcher Intensität und mit welcher Dauer diese Einflüsse von außen auf das Kind einwirken müssen, um dauerhaft negative Spuren bei der Persönlichkeitsbildung des Kindes zu hinterlassen? Wie genau geschieht das?

Nicole Strüber: Diese Frage ist schwer zu beurteilen. Die Erforschung dieser Fragestellung würde erfordern, dass man Gruppen von Kindern vergleicht, die in jeweils unterschiedlicher Intensität und Dauer diesen Einflüssen ausgesetzt waren. Das ist nur schwer möglich, da die betroffenen Kinder meist mehrere dieser problematischen Erfahrungen gleichzeitig oder nacheinander machen, mit Unterbrechungen oder fortgesetzt. Der eine mag noch ausgleichende Ressourcen von außen haben (z. B. eine liebevolle Oma), der andere nicht.

Eine allgemeingültige Aussage zu Intensität und Dauer lässt sich aufgrund dieser hohen Variabilität kaum treffen. Jeder Lebensweg ist einzigartig. Deshalb schaut man auf die einzelnen Einflussfaktoren und korreliert diese mit späteren Folgen, bspw. mit physiologischen Merkmalen, mit psychischen Auffälligkeiten oder Verhaltensstörungen.

Bindung erhöht die Widerstandsfähigkeit (Resilienz) gegen äußere Belastungen

fürKinder: Wie erklären sich die individuellen Unterschiede von Babys und Kleinkindern in der Empfindlichkeit gegenüber diesen äußeren Einflüssen? Warum werden einige Kinder bis ins Erwachsenenalter stark geprägt von negativen Erlebnissen (Vernachlässigung, Trennung, Missbrauch etc.) und andere mit den gleichen Erfahrungen weniger oder gar nicht? Wieso scheinen negative Erfahrungen bei einigen Kindern zu späteren psychischen Störungen zu führen, während bei anderen die Stress-Bewältigungs-Fähigkeit dadurch eher gestärkt wird?

Nicole Strüber: Hier spielen zwei Faktoren eine wichtige Rolle. Zum einen die Anlage des Kindes. Die Gene des Kindes legen gemeinsam mit den vorgeburtlichen Stresserfahrungen des Kindes fest, wie stressempfindlich ein Kind ist, wenn es auf die Welt kommt. Einige Kinder sind aufgrund ihrer bei der Geburt vorhandenen Anlage besonders beeinflussbar durch anschließende frühe Erfahrungen. Für andere Kinder sind diese Erfahrungen nicht so wichtig, sie sind weniger beeinflussbar und entsprechend auch resilienter gegenüber den Auswirkungen negativer Erfahrungen.

Es scheint aber so zu sein, dass sich die Empfindlichkeit der besonders anfälligen Kinder nicht auf negative Erfahrungen beschränkt, sondern auch positive Erlebnisse einschließt. Diese empfindlichen Kinder werden, wie etwa Jay Belsky (Professor der Psychologie an der Universität von Kalifornien, Träger des Matějček-Preises und einer der prominentesten Forscher zu Themen der kindlichen Entwicklung, Mitbegründer der NICHD-Langzeitstudie, d. Red.) herausfand, im Guten wie im Schlechten mehr als andere beeinflusst.

Zum anderen ist es für die Resilienz eines Kindes wichtig, ob es ausgleichende Bindungserfahrungen machen kann. Ob etwa die emotionale Vernachlässigung durch die Eltern durch ein intensives liebevolles Kümmern der Großeltern oder der Nachbarn aufgefangen werden kann.

fürKinder: Wie können Eltern entscheiden, ob sie ein widerstandsfähiges, „resilientes“ oder doch eher ein sensibles oder gar hochsensibles Kind haben (Orchidee oder Löwenzahn, Belsky)? Und welche erzieherischen Konsequenzen sollten sie aus dieser Erkenntnis ziehen?

Nicole Strüber: Leider gibt es beim Menschen keine so offensichtlichen und zuverlässigen Erkennungsmerkmale wie Farbe und Form der Blütenblätter. Möglicherweise sind es die Säuglinge mit negativem, reizbarem Temperament, die im Guten wie im Schlechten über die Maße von ihrer frühen Umwelt beeinflusst werden. Aber im Einzelfall sicher beurteilen kann man das nicht, dafür ist Entwicklung zu komplex.

Eltern eines ausgeglichenen Kindes werden sich die Frage nach erzieherischen Konsequenzen ohnehin vermutlich seltener stellen als die Eltern schwieriger Kinder, die sich aufgrund des Verhaltens der Kinder immer wieder fragen, ob sie alles richtig machen. Akut wird die Frage vor allem dann, wenn die Eltern des schwierigen Kindes mit ihren Kräften und Latein am Ende sind. Wenn sie sich in dieser Situation fragen, ob es ihrem Kind schadet, wenn sie einfach die Tür zu machen und es schreien lassen. Vielleicht ist es ja nicht so empfindlich.

Hier muss man sich klarmachen, warum ein Kind schreit. Kinder schreien nicht, weil sie ihre Eltern ärgern oder manipulieren möchten oder weil sie etwas erreichen wollen, was wir ihnen abgewöhnen müssen. Sie schreien, weil ihr Stresssystem aktiv ist und weil sie sich nicht selbst beruhigen können. Sie brauchen Unterstützung. Einige mehr als andere.

Vielleicht hilft es betroffenen Eltern, wenn sie sich vergegenwärtigen, dass sich die Anstrengungen lohnen. Wenn sie ihre Kinder trotz der manchmal vergeblich anmutenden Anstrengungen so akzeptieren wie sie sind (mit ihrem überschießenden Stresssystem) und trotzdem versuchen, für sie da zu sein. Wenn sie im Kopf behalten, dass sich diese Kinder unter Umständen besonders gut entwickeln können. Sind die Eltern allerdings wirklich überlastet, sollten sie sich selbst Unterstützung suchen, im Alltag oder in Form professioneller Hilfe, etwa durch Schreiambulanzen.

Stress und Beruhigung

fürKinder: Wie „funktioniert“ das „Stresssystem“ und wie das „Beruhigungssystem“ beim Kleinkind? Wie viel Stress ist „normal“ und verkraftbar, wann ist eine Grenze (bis hin zur Traumatisierung) überschritten? Was kann da schieflaufen? Mit welchen Langzeitfolgen?

Nicole Strüber: Sobald das Gehirn des Babys registriert, dass irgendetwas aus dem Lot ist, wird das kindliche Stresssystem angekurbelt. Bestimmte Nervenzellen werden aktiviert, bestimmte Stoffe wie etwa Cortisol ausgeschüttet. Das Baby verlangt schreienderweise nach Unterstützung. Manchmal können die Bedürfnisse direkt befriedigt werden. Baby hat Hunger. Baby wird gefüttert. Baby ist ruhig. Manchmal aber auch nicht. Die Umwelt erfordert Geduld, Aufschub, Verzicht. Nimmt nun die Bindungsperson das Baby liebevoll in den Arm, spricht sie mit ihm und lässt sie sich auf das Baby ein, wird Oxytocin ausgeschüttet. Und Oxytocin hemmt das Stresssystem. Das Baby beruhigt sich.

Soweit die „normale“ Funktion. Abweichungen treten etwa dann auf, wenn das mit der Beruhigung nicht so gut funktioniert. Etwa, weil das Kind wie eben erwähnt ein überschießendes Stresssystem hat, weil die Bindungsperson in ihren Möglichkeiten, beruhigend auf das Kind einzuwirken, eingeschränkt ist oder weil von ihr selbst Stress ausgeht (z. B. in Form harscher Erziehungsmethoden).

An diesem erhöhten Risiko ist vermutlich eine langfristige Einstellung des Stress- und des Bindungssystems beteiligt: Das frühe Milieu der im Gehirn des Babys freigesetzten Stoffe wie Oxytocin oder auch Cortisol scheint festzulegen, wie aktiv diese Systeme langfristig sind. Erste Hinweise legen nahe, dass es epigenetische Mechanismen sind, die über eine Einstellung der Genaktivität diese langfristige Prägung ermöglichen.

Können „Zeitfenster“ in der Beurteilung kindlicher Entwicklungsschritte hilfreich sein?

fürKinder: Wie weit lassen sich einzelne Phasen der kindlichen Hirnentwicklung abgrenzen (Entwicklungsfenster, Bildungsfenster) und wie groß ist dabei andererseits die individuelle zeitliche „Streuung“? Was ist dabei „normal“ und was „krankhaft“?

Nicole Strüber: Abgesehen davon, dass kontrovers diskutiert wird, ob eine sinnvolle Abgrenzung von „normal“ und „krankhaft“ überhaupt möglich ist oder ob es sich dabei nicht eher um ein Kontinuum (lückenlos Zusammenhängendes, nicht in Bestandteile Abgrenzbares, d. Red.) handelt, ist es oft so, dass frühe Umweltbedingungen oftmals nicht an sich krankmachen, sondern lediglich das Risiko erhöhen, infolge späterer Erfahrungen oder Bedingungen krank zu werden.

fürKinder: Eine sichere Bindung des Säuglings und Kleinkinds an zunächst die Mutter, dann auch an andere Bezugspersonen wird von Ihnen als Voraussetzung genannt für die „Exploration“, das aktive Begreifen durch Ergreifen der Umwelt. Ohne „sicheren Hafen“ kein mutiges Erforschen der Welt, kein autonomes Lernen. Heißt das: Bindung vor Bildung?

Nicole Strüber: Ja, unbedingt. In den ersten Lebensjahren benötigen Säugling bzw. Kleinkind die Unterstützung anderer, um ihr Stresssystem in Schach halten und unbeeinflusst durch Stresshormone kreativ und flexibel lernen zu können. Ihre Fähigkeit, sich selbst zu regulieren, ist ja ebenso wenig ausgereift wie die dafür zuständigen Bereiche des Gehirns, genauer, die mittlere vordere Hirnrinde. In diesem Alter ist entsprechend die Anwesenheit bzw. Verfügbarkeit der Bindungsperson (als sichere Basis) sehr wichtig für das Erforschen der Welt.

Dem etwas älteren Kleinkind gelingt mit zunehmender Reifung der dafür zuständigen Hirnrindenbereiche diese Selbstregulation immer besser – allerdings setzt dies voraus, dass die Regulation in den ersten Lebensjahren gemeinsam mit der Bindungsperson immer wieder geübt wurde und damit einhergehend die verantwortlichen Nervenzellverbindungen entsprechend stabilisiert wurden. Diese Schlussfolgerung wird etwa durch eine Studie nahegelegt, in der gefunden wurde, dass bei Kindern besonders feinfühliger Mütter, diese Nervenzellverbindungen schon früh gut ausgeprägt sind. Auch psychologische Studien legen nahe, dass die frühe feinfühlige Fürsorge und die sichere Bindungsbeziehung Voraussetzungen für Selbstregulation und ein späteres hohes schulisches Engagement darstellen.

Wie viel Bindung ist nötig – und mit wem möglich?

fürKinder: Wenn es richtig ist, dass die enge Bindung des Kleinkinds an eine (primäre) Bindungsperson sich erst in der zweiten Hälfte des ersten bis tief in das zweite Lebensjahr entwickelt auf der Basis einer verlässlichen, jederzeit verfügbaren Nähe, zerstört dann nicht die Trennung des Kindes von seiner primären Bindungsperson über einen langen Tageszeitraum die entscheidende Voraussetzung für die angestrebte soziale und kognitive Bildung bei der politisch gewollten und geförderten Krippenbetreuung?

Nicole Strüber: Betrachte ich diese Dinge aus Sicht des Gehirns, dann sehe ich erst einmal Stoffe, Nervenzellen und deren Verbindungen: Entwickelt ein Kind eine Bindungsbeziehung, dann ist das Miteinander mit dieser Person an eine Oxytocinfreisetzung gekoppelt. Das Oxytocin hemmt das Stresssystem und aktiviert ein weiteres System, in dem über eine Freisetzung von Dopamin und körpereigenen Opioiden abgespeichert ist, wer es ist, an den das Kind gebunden ist.

Psychologen wissen, dass Kinder gleichzeitig Bindungsbeziehungen mit mehreren Personen aufbauen können, dass sie eine Bindungspyramide entwickeln. Erleben Kinder außerhalb der eigenen Familie eine feinfühlige Betreuung durch eine zuverlässig für sie ständig verfügbare Bindungsperson, etwa eine Erzieherin, kann ihnen dies ebenso das Gefühl der Geborgenheit als Basis für Lernen und Bildung vermitteln. Im Gehirn davon begleitet, dass diese Prozesse, etwa die Stresshemmung durch Oxytocin, auch von anderen Personen angeschoben werden können. In einer Krippe, in der eine Erzieherin für vier bis fünf Kleinkinder gleichzeitig verantwortlich ist, oder in der eine hohe Fluktuation vorhanden ist, ist das aber natürlich sehr schwierig oder gar nicht möglich.

fürKinder: Die Forschung legt immer mehr Belege dafür vor, dass – völlig anders als früher gedacht – schon Kleinstkinder die Bedeutung von Vorgängen, z.B. von Gesten und Gesichtsausdrücken „interpretieren“ und ihr Verhalten darauf einrichten können. Welche Konsequenzen müssten Eltern und Erzieher aus dieser Erkenntnis ziehen?

Nicole Strüber: Sie können das nicht nur, sondern sie benötigen diese mimischen Informationen und Gesten unbedingt, um ihre Welt zu verstehen und um in ihren Gehirnen ein gut funktionierendes System zur späteren Erkennung dieser Signale und zur Kategorisierung von Emotionen aufzubauen. Wie das funktioniert, habe ich versucht, in meinem Buch zu beschreiben.

Eine wichtige Botschaft, die sich daraus ergibt, könnte etwa lauten, in der Interaktion mit dem Kind auch tatsächlich das Kind und nicht etwa das Smartphone anzuschauen. Fragt man sein Baby in liebevollster Stimme: „Na mein Schatz, geht’s Dir nicht gut?“ und schaut dabei die geposteten Fotos von Freunden auf Snapchat an (statt mit intuitiv besorgtem Blick das Baby anzusehen), dann entgehen dem Baby wichtige Informationen (oder es erhält falsche, etwa, wenn das Aussprechen des Satzes von einem irrsinnig komischen Foto begleitet wird).

Zunächst sind Kleinkinder ICH-bezogen

fürKinder: Ab wann etwa fangen Kleinkinder an, ein Gegenüber, die Mutter, einen Spielkameraden, einen Fremden als eine separate Persönlichkeit mit eigenen Gefühlen und eigenen Gedanken zu begreifen? Wann sind sie in der Lage, sich in den anderen hinein zu versetzen, mit dem anderen zu fühlen, Empathie zu empfinden?

Nicole Strüber: Eine diffuse Erregung im Angesicht eines weinenden anderen Kindes empfinden Säuglinge schon gegen Ende des ersten Lebensjahres. Der Säugling weiß aber noch nicht so genau, dass es ein anderer ist. Das wird ihm erst mit etwa 18 Monaten klar – allerdings glaubt er dann noch, der andere fühle genauso wie er selbst. Folglich würde er zum Trösten seine eigene Mutter, nicht aber die des anderen holen.

Erst noch später gelingt es ihm wirklich, sich in andere hineinzuversetzen und auch kognitiv deren Perspektive einzunehmen. Es wird diskutiert, wann das stattfindet. Vor einigen Jahrzehnten glaubte man, dass Kinder erst im Vorschulalter beginnen, eine sogenannte Theory of Mind (die Fähigkeit, sich in ein Gegenüber hinein zu versetzen und deren Gefühle und Absichten zu erkennen, d. Red.) zu entwickeln. Als man aber kleinkindgerechtere Aufgabenstellungen verwendete, wurde deutlich, dass Kinder bereits im zweiten Lebensjahr beginnen, anderen Menschen bestimmte Gedanken oder Intentionen zuzuschreiben. (Welche Rolle die Gefühlsansteckung dabei spielt, erfahren Sie im Beitrag: Bindung und Empathie – wann geschieht was im Kinderleben?, d. Red.)

fürKinder: Welche Bedeutung hat die Bindungssituation des Kleinkinds für die Entwicklung dieser Fähigkeiten?

Nicole Strüber: Kindern, die im Alter von 10 – 13 Monaten eine sichere Bindungsbeziehung hatten, gelingt es im Alter von vier Jahren besser als unsicher gebundenen Kindern, sich in andere hineinzuversetzen. Wichtig, sowohl für die Entstehung der Bindungssicherheit als auch für die Entwicklung dieser Fähigkeit, scheinen mütterliche Eigenschaften zu sein. Kinder von Müttern, die besonders feinfühlig sind und die den mentalen Zustand ihres Babys häufig angemessen kommentieren, schneiden in der Regel besser bei entsprechenden Aufgaben ab.

Was ist passiert, wenn die Persönlichkeitsentwicklung entgleist?

fürKinder: Können wir heute sagen: Der Jugendliche, der hemmungslos auf einen Wehrlosen einprügelt, der ist so geboren oder der ist so geworden? Und wie genau ist das passiert?

Nicole Strüber: Bei einem solch extremen Verhalten muss meist eine ganze Menge zusammenkommen. Zum einen gibt es bestimmte Genvarianten, die das Risiko für gefühlloses oder hoch aggressives Verhalten erhöhen. Im Gehirn bewirken diese Genvarianten, das verschiedene sogenannte modulatorische Stoffe (wie Serotonin oder Dopamin) in veränderten Konzentrationen wirksam sind. Diese Stoffe beeinflussen wiederum die Hirnaktivität. Bei Menschen mit einer bestimmten Genvariante ist beispielsweise die sogenannte Amygdala, eine Hirnstruktur, die unter anderem auf Bedrohungen in der Umwelt reagiert, in Situationen hoher emotionaler Belastung überhöht aktiv. Die Genvarianten beeinflussen hierüber, wie wir in bestimmten Situationen reagieren. Bei dem einen begünstigen sie eher impulsives Verhalten, bei dem anderen eher zurückhaltendes Handeln.

Zum anderen spielen die Erfahrungen eine große Rolle. Erleben Menschen mit diesen Risikogenen in ihrer frühen Entwicklung liebevolle Fürsorge und Geborgenheit, dann sind sie unter Umständen etwas impulsiver oder risikobereiter als andere, können sich aber gut regulieren und entwickeln sich in der Regel positiv oder sogar sehr positiv. Dieser Fähigkeit der Selbstregulation liegen stabile Netzwerken aus Nervenzellen zugrunde, die während der Entwicklung in einer sicheren Bindungsbeziehung geprägt wurden. Bei Kindern, die emotional vernachlässigt oder gar misshandelt werden, gelingt dies nicht gleichermaßen. Bei Ihnen trifft eine Hirnchemie, die sehr stark und impulsiv auf die Wahrnehmung von Bedrohung reagiert, nicht auf eine regulierende Gegensteuerung.

fürKinder: Welche Rolle spielt die Mutter in unterschiedlichen Entwicklungsphasen? Wann ist sie unverzichtbar, wann und unter welchen Bedingungen „ersetzbar“? Durch wen?

Nicole Strüber: Die eigene Mutter ist aufgrund der in ihrem Gehirn während der Schwangerschaft ablaufenden Anpassungen an das Muttersein, ihrer Fähigkeit zum Stillen und der direkt nach der Geburt ablaufenden Prägungsbindung als primäre Bindungsperson zunächst bestens geeignet, aber das schließt andere Bindungen mit anderen liebevollen, feinfühligen und zuverlässig verfügbaren Personen nicht aus.

Vielen Dank für das Gespräch.

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Unsere Interviewpartnerin: Dr. Nicole Strüber

Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Hirnforschung der Universität Bremen und studierte Neurobiologie und Psychologie und promovierte 2012 im Bereich der Entwicklungsneurobiologie, verheiratet, Mutter von Zwillingen.

Links zum Thema

„Bindung und Empathie – wann geschieht was im Kinderleben?“ Anmerkungen von Dr. Erika Butzmann zu einigen Antworten von Dr. Nicole Strüber

„Empathie und soziales Verstehen“ inkl. einer Erklärung zum Fachbegriff: Theory of Mind

„Die erste Bindung“ – Wie Eltern die Entwicklung des kindlichen Gehirns prägen – Lesen Sie unsere Rezension
„Wie das Gehirn die Seele macht“, Co-Autorin gemeinsam mit Prof. Dr. Gerhard Roth