Die Folgen unsicherer Bindung - Foto © Kerstin PukallDer Mensch ist ein soziales Wesen, und das von Geburt an. Schon ein Säugling braucht Personen, die sich ihm feinfühlig widmen und zu denen er eine innige Bindung aufbauen kann. Dies geschieht in der Regel dann, wenn Eltern und weitere Bezugspersonen die Signale des Säuglings wahrnehmen und prompt reagieren. Zum Ende des ersten, mehr noch im zweiten Lebensjahr entwickelt das Baby dann sogar eine Art „Hierarchie“: Es wird „bei absolut größtem Stress für seine Beruhigung eine Person favorisieren“, schreibt der Kinderpsychiater und Bindungsforscher Karl Heinz Brisch.

Diese Person müsse nicht zwingend die Mutter, es könne auch der Vater oder eine andere vertraute Person sein. Entscheidend sei aber, dass die Gefühle von Angst, Wut, Hunger „gestillt“ werden. Hierbei werde – genau wie beim Stillen – Oxytocin ausgeschüttet, was eine stressmildernde Funktion habe. Diese Fähigkeit zur Selbstregulation und Selbstberuhigung im Zusammenhang mit einer Bindungsperson bilde die Voraussetzung für eine gesunde emotionale Entwicklung und sei auch die Grundlage für eine gelingende zwischenmenschliche Empathiefähigkeit.

Warum Babys feinfühlige Personen brauchen und was es mit ihnen macht, wenn diese fehlen:

Innerlich gestresst, äußerlich ruhig

Die Folgen unsicherer Bindung - Foto monika-rams © unsplashErhält der Säugling keine angemessene Reaktion auf seine Signale durch die Bindungsperson, entwickelt er mit hoher Wahrscheinlichkeit eine vermeidend-unsichere Bindungsqualität. Diese Kinder sind innerlich erregt und gestresst trotz oft äußerlicher Ruhe, was Studien in erhöhten Cortisolwerten oder einer erhöhten Herzfrequenz gezeigt haben. „Diese Person wird später in Freund- und Partnerschaften nicht verstehen, warum andere sich mit der Bitte um Hilfe an sie wenden, weil sie selbst gelernt haben, dass man sich in stressvollen Situationen selbst hilft und alleine zurechtkommen muss“, so Brisch. „Andere Menschen erleben ein solches Verhalten oftmals als Empathiemangel.“

Reagieren die Bindungspersonen zwar auf die Reaktion des Kindes, werten sie aber gleichzeitig ab, indem sie mit ihm schimpfen oder es kritisieren, entwickelt sich eher eine unsicher-ambivalente Bindungsqualität. Das Kind könne durch diese Erfahrung dann kein sicheres Gefühl von Urvertrauen entwickeln. Menschen werden potenziell als gefährlich und bedrohlich angesehen und gelten als unberechenbar. Schon im Kleinkindalter fallen diese Kinder dadurch auf, dass sie sich etwa beim Bringen oder Abholen in der Kita merkwürdig verhalten: Sie reagieren gar nicht, wenn die Bindungsperson zum Abholen kommt und ignorieren diese komplett. Oder sie werfen sich wütend auf den Boden. Die Reaktionen wechseln und sind nicht vorhersagbar. Viel spreche dann für ein „chaotisches Bindungsmuster“, so Brisch.

Medikamente statt Zuwendung?

Oft würden solche Kinder als „Problemkinder“ wahrgenommen und mit der Verdachtsdiagnose ADHS und stimulierenden Medikamenten ruhiggestellt. „Dabei wären sie dringend auf eine frühzeitige Kinderpsychotherapie mit begleitender Beratung und möglicher Psychotherapie der Bindungspersonen angewiesen, um neue, bindungssichere Erfahrungen zu machen“, betont der Experte. Die medikamentöse Behandlung reduziere zwar zunächst die Symptome, nach Absetzen zeigten sie sich jedoch umso ausgeprägter.

Eine weitere Variante sei die „Bindungsstörung mit Enthemmung“: Die Kinder wenden sich hier bei Stress geradezu undifferenziert oder „promiskuitiv“ an jede beliebige, gerade erreichbare Person, auch an ihnen vollkommen fremde Menschen. Fremde, die in die Kita kommen, werden von diesen sofort angesprochen, die Kinder suchen undifferenziert Körperkontakt zu ihnen, greifen nach deren Hand, wollen auf den Schoß oder in den Arm genommen werden. In einem Experiment waren Kinder mit einer solchen Bindungsstörung bereit, mit fremden Personen, die an der Haustür klingelten, einfach mitzugehen. „Dagegen würden sicher gebundene Kinder ‚fremdeln‘, nicht mit Fremden mitgehen und auch keinesfalls in stressvollen Situationen bei beliebigen Personen Körperkontakt suchen“, schreibt Brisch.

Digitale Sucht und Adipositas

Die Folgen unsicherer Bindung - Foto Pexels © Harrison HainesDer Bindungsforscher vermutet eine Reihe weiterer Muster von Bindungsstörungen, etwa in Form von Suchtentwicklungen. Digitale Sucht und übermäßiges Essverlangen (Adipositas) zählt er dazu.

„Kinder, die solches erlebt haben, lassen sich dann auch in der Kita nur noch bevorzugt durch Nahrungsaufnahme, die nichts mit Hunger zu tun hat, oder durch digitale Angebote beruhigen“, hat der Experte beobachtet.

Das Schlimme an all den gestörten Bindungsmustern ist: sie vererben sich weiter, wenn sie nicht professionell durchbrochen werden in Form einer frühen Prävention, die für die Gesellschaft deutlich kostengünstiger sei als eine Therapie.

Diese Form der frühen Prävention beginne spätestens mit einem Screening im Mutterpass auf psychische Belastungen der werdenden Mutter und des werdenden Vaters. „Diese frühe Diagnostik und damit verbunden Frühe Hilfen im Sinne von Early Life Care sollten der Goldstandard werden, wenn sich langfristig die psychische Gesundheit von Kindern in den ersten – und den folgenden – Lebensjahren verbessern soll“, fordert Brisch.

Katastrophale Krippensituation

Gerade vor dem Hintergrund der aktuellen Betreuungssituation in Deutschland gebe es aus Sicht des Bindungsexperten Anlass zu Sorge:

So zeige die Krippenbetreuung hierzulande „vielfältige deprivatorische Bedingungen“, wie sie auch in Kinderheimen mit schlechter Betreuung nachgewiesen wurden.

Erziehungspersonal und Fachverbände hätten sich bereits alarmiert an die Öffentlichkeit gewandt, weil sie sich wegen fehlenden Personals nicht einmal mehr in der Lage sehen, die geforderte „Aufsichtspflicht“ für die Krippenkinder sicherzustellen. „Von früher Bildung und Sprachförderung ist schon lange keine Rede mehr.“ Auch in absehbarer Zeit sei hier nicht mit einer Verbesserung zu rechnen.

von Birgitta vom Lehn

Quelle

Wie Kinder Bindung lernen. Early Life Care – Das Fundament zwischenmenschlicher Beziehungen, Karl Heinz Brisch, Pädiatrie September 2023, Jg. 35, Nr. 51, Sonderheft: Die ersten 1.000 Tage, S 64 – 67.

Links zum Thema

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