Zu wenig Liebe, zu viel Gemeinschaft: Der Kibbuz schaffte die Familie ab und überhob sich an der Ideologie eines neuen Menschenbildes.
Wie erschafft man einen „neuen Menschen“? Indem man ihn schon als Baby von seiner Mutter trennt? Indem man das kleine Menschenwesen seine Eltern nur kurzzeitig und das auch nur unter fremder Aufsicht beschnuppern lässt? In der Natur – zumindest der höher entwickelten Tierwelt – kommt so etwas nicht vor.
Klüger als die Natur
Man denke an die Bärenmutter, die zwei Jahre lang ihre Jungen betreut. Die Entenmama lässt ihre Kleinen nicht aus den Augen, bis sie groß sind. Familie Schwan bleibt vollzählig zusammen, bis die Küken erwachsen sind und sich selbst versorgen können; der Vater gehört hier bis zum Schluss mit zum Erziehungsprogramm dazu. Junge Lämmer toben tagsüber zwar gern in der Herde mit anderen Altersgenossen umher; zwischendurch und besonders abends suchen sie aber immer wieder die körperliche Nähe zur Mutter. Mit einem deutlichen „Mäh, mäh“, verständigen Schafmutter und Lamm sich immer wieder untereinander und versichern sich ihrer Nähe, auch wenn sie in der Herde räumlich weiter entfernt voneinander grasen und spielen.
Kurz: In fremde Hände, Pfoten oder Schnäbel wird in der Tierwelt niemand freiwillig gegeben. Tiereltern, vor allem Tiermütter ziehen ihre Jungen selbst groß – von Ausnahmen wie dem Kuckuck einmal abgesehen. Körperliche Nähe spielt in der Tierwelt eine existenzielle Rolle. Aber der Mensch dünkt sich bekanntlich oft klüger als die Natur und probiert gern, ihr ein Schnippchen zu schlagen – in der Hoffnung, sie doch irgendwie austricksen und am Ende übertreffen zu können.
So erklärte sich wohl auch jenes Experiment, das den Namen „Kibbuz“ trug: Das Wort stammt aus dem Hebräischen und heißt „Versammlung, Gemeinschaft, Kommune“. Der erste israelische Kibbuz wurde 1910 von russischen Intellektuellen am See Genezareth gegründet. Zur Zeit der Gründung des Staates Israel lebten rund acht Prozent der Bevölkerung in einem Kibbuz, 2014 waren es aber nur noch 1,9 Prozent. Damit darf das Projekt eigentlich als gescheitert betrachtet werden, zumindest in seiner ursprünglichen rigorosen Form.
Vom Wert der Familie
Rigoros war der Kibbuz nämlich vor allem im Hinblick auf das veränderte, besser gesagt: das abgeschaffte Familienleben. Der Kibbuz sollte die Familie ersetzen. Dass dieser Weg sich auf Dauer nicht durchsetzte, auch wenn Experten wie der amerikanische Psychoanalytiker Bruno Bettelheim von einer gelungenen frühkindlichen Sozialisation schwärmten, weil die Kibbuz-Kinder angeblich freier, unabhängiger, sprachgewandter und glücklicher als ihre mitteleuropäischen Altersgenossen dank der weitestgehenden Beschränkung auf ihre Peer-Group aufwüchsen, dürfte dem starken Bindungswunsch der Eltern an ihre Kinder und der letztlich eben doch nicht zu unterdrückenden Sehnsucht nach einem individuellen Familienleben geschuldet sein.
Es war ein Irrtum, zu glauben, dass Eltern ihre Kinder nicht erziehen können. Das Kind braucht den Vater und vor allem die Mutter“, sagt die 94-jährige Hannah Oppenheimer in einem Youtube-Interview. Oppenheimer ist selbst in einem Kibbuz aufgewachsen.
Individualität der Gefühle
„Eltern wollen Nähe“, heißt ein lesenswertes Buch der Montessori-Pädagogin Stefanie Selhorst und des Lehrers und Neufeld-Kursleiters Michael Miedaner. „Das, was totgeschwiegen wird, sind die Folgen der Ganztagstrennung für das Gefühlsleben von Kindern und Eltern“, schreiben die Autoren. Sie beziehen sich dabei zwar auf die aktuelle Debatte um frühkindliche Bildung und Ganztagsbetreuung und die Ganztagsschule hierzulande. Aber die Parallelen liegen auf der Hand, denn natürlich gab es auch im Kibbuz die Ganztagstrennung, mehr noch: es gab sogar die Ganznachtstrennung, und zwar frühzeitig gleich nach der Geburt. Wohlgemerkt „gab“, denn die heutigen Kibbuze, von denen es in Israel noch rund 270 gibt, haben mit den Anfängen nicht mehr viel gemein, erst recht nicht in puncto Familie und Kindererziehung. Überdies kämpfen heute alle Kibbuze mit einer fortschreitenden Überalterung und Landflucht: die jungen Leute ziehen in die Städte und kehren dem sozialistischen Kibbuz-Traum dauerhaft den Rücken. Das einst als revolutionär gepriesene Lebens- und Erziehungsmodell, in dem nicht wenige junge Leute auch aus Deutschland zumindest vorübergehend ihr Heil als Helfer suchten, ist damit zum Auslaufmodell geworden.
Aber worum ging es den Kibbuz-Fans? Was hat sie fasziniert an der totalen Aufgabe ihrer Individualität? Natürlich wollten sie alle etwas ganz Großes bewirken, die Erziehung revolutionieren und einen „neuen Menschen“ erschaffen, um insgesamt eine bessere Gesellschaft zu begründen mit mehr Gleichheit und sozialer Gerechtigkeit. Im Gegensatz zu den kommunistischen Versuchen im Ostblock geschah dies in Israel jedoch gänzlich freiwillig, denn der Kibbuz ist und war ja kein Zwang, sondern selbst gewählte Lebensform.
Jedes Kibbuzmitglied stellte seine Arbeitskraft freiwillig und unentgeltlich in den Dienst des Kollektivs. Im Gegenzug erhielt es vom Kibbuz Wohnung, Kleidung, Verpflegung und medizinische Versorgung. Die Gleichberechtigung erstreckte sich nicht nur auf Mann und Frau, sondern umfasste auch eine Rotation in allen wichtigen Ämtern und bei der Besetzung der Arbeitsplätze.
Das kommunenhafte Leben bedeutete die vollständige Auflösung der Kleinfamilie, die Kindererziehung wurde den Eltern entzogen und zentralisiert.
Schlafen im Kinderhaus als Ersatz für Zuhause
Erzieherin tritt als Mutterersatz auf
Peergruppe als Geschwisterersatz
Elternhaus wurde zum Zimmer reduziert
Manifestierung der Paarbeziehung wurde reglementiert
Alle Feste und Rituale wurden nur in der Gruppe gefeiert
Feste und Rituale für Kinder separat von denen der Erwachsenen
Stärke durch Distanz?
Von Geburt an lebten die Kinder zusammen mit Gleichaltrigen in speziellen Kinderhäusern; dabei achtete man sogar darauf, dass die Geschwister nicht zusammen, sondern in getrennten Kindergruppen aufwuchsen. Für jede Gruppe war eine Erzieherin zuständig, Kontakt mit den Eltern war nur für kurze Zeit am Tag erlaubt. Nach einem bestimmten Zeitraum – etwa einem Jahr – wechselten die Kinder zu einer anderen Erzieherin: das Rotationsprinzip schlug durch bis in die Kindererziehung.
Warum tat man den Kindern so etwas an – sie so früh wie möglich von den Eltern zu trennen und die Kernfamilie gewissermaßen inhaltlich zu entleeren? Man wollte für das Kind ja eigentlich nur das Beste. Man wollte es nach Freud‘scher Theorie beschützen vor Intimitäten zwischen den Eltern und deren Sexualität, man wollte einem möglichen Ödipus-Elektrakomplex vorbeugen, man wollte es vor übertriebenen Erwartungen und einseitigen Verhaltensformen der Eltern bewahren. Eltern standen damit unter Generalverdacht und durften sich nur in Gegenwart einer Erzieherin kurze Zeit am Tag ihren Kindern widmen.
„Die Phase der sogenannten qualitativ hochwertigen Zeit, die Eltern mit ihren Kindern verbrachten, erstreckte sich auf drei Stunden am Nachmittag. Die Kinder kamen zum Elternzimmer und trafen dort auf Eltern, die oft übermüdet, gestresst und mit allen möglichen Verpflichtungen für die Gruppe beschäftigt waren“, berichtet die israelische Familientherapeutin Carmelite Avraham-Krehwinkel.
Worte wie Angst, Terror, Gehorsam, Einsamkeit und Vernachlässigung tauchen in Zeugenberichten immer wieder auf. Viele Stunden seien Babys, Kinder und Jugendliche sich selbst überlassen gewesen, berichtet die Therapeutin. Diese „anwesende Abwesenheit“ von Erwachsenen und Eltern soll den Nährboden für alle möglichen Grenzüberschreitungen geliefert haben. Hinzu kam, dass alles öffentlich war, vom Topfsitzen über Essen, Duschen und Schlafen.
Der Blick für das einzelne Kind ging darüber verloren.
Nachteilig wirkten sich auch der häufige Wechsel der Erzieherinnen aus sowie deren oft kalte und grobe Haltung.
Angepasst oder kleine Persönlichkeiten?
Inzwischen sind die Kinderhäuser abgeschafft, die Rolle der Familie wurde wieder wichtiger, das Kollektivbewusstsein nahm ab. Viele Kibbuze entwickelten sich zu einem normalen Dorf. Dennoch: die israelische Gesellschaft, sagt Avraham-Krehwinkel, betrachte noch heute ihre Kinder in vieler Hinsicht als „kollektives Eigentum“. Kinder würden dort – oft schon im Säuglingsalter – in Gruppenbetreuung gegeben. „Ab dem Kleinkindalter finden wir Lernprogramme und andere Schulaktivitäten ohne Beteiligung der Eltern.“
Doch selbst die linksliberale, von der Gemeinschaftserziehung eigentlich überzeugte Wochenzeitung „Die Zeit“ warnte schon 1971 in einer Rezension von Bettelheims damals gerade erschienenem Buch „Die Kinder der Zukunft – Gemeinschaftserziehung als Weg einer neuen Pädagogik“ vor den „Schattenseiten des Systems“: „Wer im Kibbuz aufwächst, erwirbt kein persönliches, sondern ein kollektives Ich, entwickelt nur gruppenkonforme Gefühle und ist kaum fähig, aus dem Rahmen der eigenen Erfahrung herauszutreten und sich in andere (die Gruppe ausgenommen) einzufühlen. Kibbuz-Zöglinge werden keine sehr komplexen und originellen Persönlichkeiten; sie neigen zu konventionellen Einstellungen und emotionaler Flachheit und scheuen die Intimität starker persönlicher Bindungen.“
Der „Zeit“-Autor nannte explizit die Verdrängung des „Trennungsschmerzes, wenn die Kinder nach der täglichen geheiligten ‚Kinderstunde‘ bei ihren Eltern ins Kinderhaus zurückkehren“. Dieses „hohe Maß an Verdrängung von Gefühlen“ führe zur „emotionalen Verflachung“.
Fazit
Es ist eine Ironie des Schicksals, dass heute in der großen Debatte über „frühkindliche Bildung“ und „Vereinbarkeit von Familie und Beruf“ die Ganztagstrennung vom Kind überhaupt nicht thematisiert wird. Dabei könnte ein Blick zurück nach vorn schon helfen: oder begnügt man sich für die Zukunft in einer immer komplizierter werdenden Welt mit der Schaffung eines neuen Menschen, den – geprägt durch die Generation Ganztag – vor allem Konvention und Bindungsscheu auszeichnet?
Links zum Thema
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Die ersten 1000 Lebenstage sind entscheidend, Quelle: Dee Dee Yates, TED-Talks zu Elternschaft, Erziehung und Bildung, Originalvortrag
Bindung entdecken – Baustein „Betreuung“, ein online-Kurs für Eltern und alle, die mit Kindern leben oder arbeiten
Abschaffung der Familie – Kindergruppenerziehung in den israelischen Kibbuzim, Zeit online, 9. April 1971