Kinderzeichnungen Spuren der Entwicklung und Erkenntnis - Zeichnung 1 istock © VvoeValeKinderzeichnungen enthalten in den ersten sechs Jahren deutliche Spuren der Entwicklung, das heißt der Erkenntnis über sich selbst und damit auch über die anderen. Dies ist den Kindern bis ins vierte Lebensjahr hinein nicht bewusst. Die Entwicklungsspuren finden sich in den ersten Jahren bei den meisten Kindern und weltweit, sodass von einer tieferen Bedeutung des Zeichnens für die Entwicklung des Kindes ausgegangen werden muss [1 ,2, 3]. Solche Zeichnungen entstehen besonders dann, wenn Kinder von Beginn an relativ frei malen können.

Entwicklungsspuren und das Unbewusste in der Kinderzeichnung

Das kleine Kind zeichnet unbewusst auf, womit es in seiner Entwicklung beschäftigt ist. Es zeichnet und bringt etwas auf das Papier, ohne genau zu wissen, was es malt. Deshalb überlegen die Kleinen häufig lange, wenn sie gefragt werden, was ihre Zeichnungen darstellen oder ändern immer wieder die Bezeichnung der Darstellung. Es werden Geschichten dazu erzählt, die vom Betrachter auf dem Bild nicht zu erkennen sind. Aber das Kind ist überzeugt, etwas sehr wichtiges auf das Papier gebracht zu haben. Von seinen Darstellungen der Entwicklungsspuren weiß es nichts [1, 2].

Eines ist jedoch auf fast jedem Bild vorhanden: das Kind selbst.

Die erste Phase des Selbsterkennens

Kinder beginnen zu malen, wenn sie in die Phase der intensiven Nachahmung der Eltern kommen, also in der Zeit zwischen 12 und 24 Monaten. Sie sehen die Eltern mit dem Stift auf dem Papier hantieren und wollen es ihnen gleichtun. So produzieren sie zuerst mit dem Stift im Sturzflug von oben Punkte auf das Blatt, die aus der Bewegung heraus kurze Schwänze haben. In der Folge entwickeln sich aus kreisenden Bewegungen der Ur-Wirbelknäuel und das Urkreuz. Voraussetzung dafür ist die feinmotorische Entwicklung. Der Motor ist die unbändige Funktionslust, etwas zu bewegen und zu sehen, was passiert, wenn ich etwas mache.

Das Eingebunden-Sein in der Welt

Kinderzeichnungen Spuren der Entwicklung und Erkenntnis - Zeichnung 2 Urknaeuel © privatDer Ur-Wirbelknäuel, aus dem die Spirale entsteht, ist eine kreisende Linienführung ohne Anfang und Ende und mit Ewigkeits-Charakter. In diesem Spiralmalen zeigt sich die in sich geschlossene Wahrnehmung des Kindes. Das kleine Kind lebt bis ins dritte Lebensjahr hinein eingebettet im unmittelbaren Erleben durch die Fülle seiner Sinneseindrücke. Es fühlt sich noch weitgehend verbunden mit seiner Mutter und der Außenwelt [1, 2, 3]. Das zeigt sich im monatelangen Malen dieser Spiralen, die es mit immer wieder neuen Kombinationen produziert. Wenn aus den Spiralen der Punkt, das Kreuz und der Kreis hervorgehen, ist das Kind an einem wichtigen Punkt in seiner Entwicklung angekommen.

Die Erkenntnis des Getrenntseins

Kinderzeichnungen Spuren der Entwicklung und Erkenntnis - Zeichnung 3 Urkreuz © privatDas Kind erlangt zwischen 18 und 24 Monaten zum ersten Mal ein Bewusstsein von sich als eigenständige Person. Es nennt sich nicht mehr beim Vornamen, sondern sagt ‚Ich‘ zu sich selbst. Es hat damit seinen ‚Standpunkt‘ in dieser Welt gefunden. Das Empfinden, mit der Mutter und seiner Umgebung eine Einheit zu sein, löst sich nun auf. Es ist ein einfaches Erleben des Getrenntseins, mehr noch nicht. Dabei wird ihm jedoch sein eigener Wille deutlich bewusst. Das bringt das Kind beim Zeichnen durch die Verdickung in der Spirale und dem Kreuz bei den Schwinglinien ganz klar zum Ausdruck und im normalen Alltag mit den Worten „Ich will!“ oder „Nein, ich will nicht!“ Das Kind erkennt sich zum ersten Mal als Person unter anderen [5, 6]. Jetzt bezeichnet es alle Dinge als „meins“, weil seine Verunsicherung über diesen neuen Zustand sehr groß ist. Es muss nun für einige Monate alles festhalten, weil die Dinge und die Mutter erkenntnismäßig zu verschwinden drohen [7]. So kann es sich langsam an das neue Gefühl gewöhnen, getrennt von allem zu sein. Es entstehen zu diesem Zeitpunkt situativ Trennungs- und Verlassenheitsängste.

„Ich bin der Mittelpunkt der Welt“

Kinderzeichnungen Spuren der Entwicklung und Erkenntnis - Zeichnung 4 Spirale © privatGegen die neue Erkenntnis des Getrenntseins und die damit verbundenen Ängste hilft dem Kind die durchgängige Ich-Bezogenheit im Denken, die Allmachtsgefühle hervorbringt. Genau das kommt zum Ausdruck, wenn das Kind die Spirale in der Mitte endlos verdickt, sodass am Ende ein dicker Punkt entsteht oder wenn es aus der Spirale heraus den Kreis malt und einen Punkt gezielt in die Mitte setzt. Die gleiche Bedeutung hat das Gegeneinander-Zeichnen der Kritzelbahnen, wo dann ein Kreuz sichtbar wird. Mit dem Punkt und dem Kreuz zeigt das Kind sein Empfinden: ich bin da, ich bin der Mittelpunkt der Welt, die Welt steht mir gegenüber, ich will sie entdecken. Das sogenannte Trotzalter beginnt.

Der Strahlenkreis – das Wissen von den anderen

Kinderzeichnungen Spuren der Entwicklung und Erkenntnis - Zeichnung 5 Strahlenkreis 3,4 Jahre © privatDie langsame Auflösung dieser Fehlannahme zeigen Bilder, auf denen Linien aus der Mitte des Kreises über den Rand hinweg gemalt werden. Es entsteht ein Strahlenkreis, der später als Sonne in den Himmel gemalt wird. Diese Linien sind Anzeichen für die deutlichere Wahrnehmung des Kindes, dass es die anderen gibt, mit denen es in Kontakt treten will. Es streckt seine Fühler aus und will auf die anderen zu gehen. Vorher handelte es sich eher um spontane Kontaktaufnahmen, jetzt benutzt das Kind auch das Wort „deins“, erkennt dessen Bedeutung und nimmt damit gezielt Kontakt zu den anderen auf. Das zeigt sich im Spiel der Kinder. Sie können sich nach der langen Phase des Allein- und Parallelspielens nun auf den anderen Spielpartner immer besser einstellen.

Die zweite Phase des Selbsterkennens

Das Bewusstwerden über die eigenen Darstellungen

Kinderzeichnungen Spuren der Entwicklung und Erkenntnis - Zeichnung 6 Kopffüßler © privatAus dem Kreis mit Strahlen entwickeln sich im Alter zwischen drei und vier Jahren die Kopffüßler. Kopffüßler sind jetzt die ersten Bilder aufgrund von bestimmten Vorstellungen, also keine unbewussten Darstellungen mehr. Da die Aufmerksamkeit des Kindes immer noch weitgehend auf einen einzigen Sinneskanal fixiert ist [8, 9] wird nur der Kopf, aber nicht der Körper gezeichnet. Arme und Beine sind schon da, denn durch die ständigen Bewegungen sind sie stärker im Bewusstsein.

Zu diesem Zeitpunkt passiert in der Entwicklung wieder etwas Wichtiges und Besonderes. Es ist die zweite Phase des Selbsterkennens, also ein Prozess, der im Kopf stattfindet. Mit vier Jahren wissen die Kinder, dass ihre Gedanken im Kopf sind und die anderen auch Gedanken im Kopf haben. Mit dieser Erkenntnis ist das Kind von jetzt ab stark beschäftigt. Wie stark, ist daran zu sehen, was die Kinder nun auf das Papier bringen: Kopffüßler in allen Formen und Größen und in allerlei verschiedenen Situationen.

Ich und die anderen in der Welt der Kopffüßler

Das Kind zeichnet sich als Kopffüßler zuerst nur selbst, sehr bald dann aber auch zusammen mit der Familie. Auf die Familienbilder folgen Zeichnungen, auf denen das Kind mit seinen Freunden zu sehen ist. Hier werden häufig Situationen im Kindergarten dargestellt. Für das Kind Wichtiges wird groß gezeichnet; das Unwichtige oder noch nicht detailliert Wahrgenommene wird weggelassen. In Gesichtern fehlt oft die Nase, während die erlebnismäßig wichtigeren Augen und der Mund bereits vorhanden sind. Zu diesem Zeitpunkt beginnt das Kind, sich mit den anderen zu vergleichen, was die Entwicklung des Selbsterkennens vorantreibt.

Die Zeichnung des Gesamtkörpers und die Entdeckung des Vierecks

Kinderzeichnungen Spuren der Entwicklung und Erkenntnis - Zeichnung 7 Leitermenschen 4,2 Jahre © privatNun folgt in der Zeichnungsentwicklung die Gesamtfigur mit Kopf, Körper und Gliedmaßen. Der Weg dahin folgt wieder einem speziellen Schema. Neben den vorhanden Formen des Kreises (Kopf, Bauch) und der Linien (Arme, Beine) kommt nun das Leitermotiv zum Vorschein, also zwei senkrechte Linien, die mit waagerechten Linien verbunden werden. Das Kind erobert sich damit das Viereck. Viele Kinder zeichnen den Körper der Figur in Form einer Leiter. Es werden auch Querstriche in Kreise oder einfach Leitern ins Bild gemalt, ohne dass das Kind dieses Objekt als Leiter bezeichnen würde. Die Aufmerksamkeit des Kindes liegt jetzt also auch auf der Mitte, auf dem Körper, der jetzt bewusster eingesetzt wird. Das Kind konzentriert sich beim Laufen, Hüpfen, Klettern, Springen und Fahrradfahren stark auf seinen Körper.

Bewusstes Farbmalen und Gefühlswahrnehmung

Jetzt beginnen die Kinder zum ersten Mal absichtsvoll mit unterschiedlichen Farben zu malen. Vorher richten sie sich nach dem Angebot an Buntstiften und verwenden die Farben ohne besondere Auswahl. An den Kopffüßler-Bildern sieht man das sehr gut. Die Bilder sind in ihrer ersten Form immer einfarbig gemalt, später mit dem Farbentdecken werden die Bilder dann differenzierter und farbig. Wenn die Kinder Farben zunehmend bewusst wahrnehmen, sind sie soweit, auch ihre Gefühle deutlicher zu empfinden. Das passiert in der Regel erst nach dem vierten Lebensjahr [10, 11], auch wenn es immer wieder Kinder gibt, die schon früher mit Farben und ihren Gefühlen bewusster umgehen.

Farbteppiche die Entdeckung des Dreiecks und der Symmetrie

Kinderzeichnungen Spuren der Entwicklung und Erkenntnis - Zeichnung 8 Farbteppiche, Symmetriebilder 5 Jahre © privatIm Alter zwischen vier und fünf Jahren malen Kinder die sogenannten Musterbilder, auf denen farbige runde oder eckige Formen nebeneinander gesetzt werden. In der Folge werden die Blätter mit farbigen Stiften von den Ecken her vollgemalt. Das Kind benutzt die Spitze des Stiftes und setzt penibel eine Linie neben die andere. An solchen Bildern ist zu sehen, wie die Freude an der Farbe durch die meist harmonisch angeordneten Farbstreifen zum Ausdruck kommt. Auch eine andere wichtige Sache kommt bei diesen ‚Farbteppichen‘ zum Vorschein: mit dem gezielten Malen von den Ecken des Blattes zur Mitte hin entdecken die Kinder jetzt das Drei-Eck! Das Vier-Eck, das schon bei den Leitermotiven erarbeitet wurde, taucht in der Mitte des Blattes wieder auf. Dort steht es jedoch auf der Spitze. Über das Malen dieser Farbteppiche nimmt das Kind auch deutlich die Symmetrie von Formen zur Kenntnis. Daraus entstehen dann Bilder, die eine Symmetrieachse aufweisen: das Einteilen des Blattes in vier Felder, die als vollständiges Musterbild oder als einzelnes Fenster gestaltet werden. Dadurch erschaffen Kinder auch beim Zeichnen aus sich selbst heraus Ordnung und Rhythmus im Begreifen des Raumes.

Das Faszinierende an dieser Zeichnungsentwicklung ist neben der Verdeutlichung des Selbsterkennens die Entdeckung der grundlegenden geometrischen Formen der Linie, des Kreises, des Kreuzes, des Vier-Ecks, des Drei-Ecks und der Symmetrie – und zwar ohne Belehrung von außen!

Die dritte Phase des Selbsterkennens

Einsatz der bisher eroberten Formen und Farben bei der Selbstdarstellung

Kinderzeichnungen Spuren der Entwicklung und Erkenntnis - Zeichnung 9 Dreiecke 4,8 Jahre © privatDas neu erworbene Drei- und Vier-Eck sowie die Symmetrie tauchen jetzt in vielen Bildern auf. Das Kind zeichnet Dach, Rock oder Hut und die Zacken in der Krone des Königs als Dreiecke, so wie es ihm gefällt. Das Haus wird ein zentrales Motiv, das für Geborgenheit und Schutz steht, der rauchende Schornstein verweist auf die Wärme im Haus und die Gemütlichkeit.

Darstellung von Vorstellungen über sich selbst in der Welt

Kinderzeichnungen Spuren der Entwicklung und Erkenntnis - Zeichnung 10 Kämpfer, Jungenbild 6 Jahre © privatDie Zeichnungen der Kinder sind jetzt meistens schön ausgestaltet über das ganze Blatt hinweg, der Himmel ist vorhanden und die Erde, auf der die Figuren fest stehen; Häuser und Bäume fehlen selten. In solche Bilder zeichnet sich das Kind nun selbst nach seinen eigenen Vorstellungen. Diese bestimmen jetzt auch sein Denken. Nach der intensiven Phase der Beschäftigung mit sich selbst beginnt das Kind im Alter von ungefähr sechs Jahren, sich zum ersten Mal von außen zu betrachten, sich also mit den Blicken der anderen zu sehen. Dies ist an der Kinderzeichnung zu erkennen, wenn Kinder versuchen, sich so zu zeichnen, wie sie gern sein möchten.

Jungen und Mädchen haben andere Vorstellungen

♦ Jungen zeichnen sich entwicklungsbedingt häufig mit Schwertern oder anderen Machtinstrumenten [12] oder malen Autos, Schiffe oder Maschinen.
♦ Mädchen achten häufig auf schöne Kleidung und lange Haare, sie malen sich zusammen mit Haus, Bäumen, Blumen und Tieren.

Durch die Sicht auf sich selbst mit den Blicken der anderen erfährt sich das Kind als Objekt eigener und fremder Beobachtung, was zu einem neuen Stadium des Selbstbewusstseins führt. Es denkt zum ersten Mal zusammenhängend über sich nach. Es bringt seine bisherigen Erfahrungen über seine eigenen Fähigkeiten (Körperbeherrschung, soziales und kognitives Wissen, Gefühlsregulierung) zusammen und erhält einen ersten Eindruck von sich selbst als Person. Erst zu diesem Zeitpunkt kann vom Selbstbewusstsein des Kindes gesprochen werden [13].

Gut zu wissen:
Kinder, die nicht viel zeichnen, kommen über ihr Spiel mit konstruktivem Spielmaterial auch zu diesen Erkenntnissen. Bei ständigem Fernsehen in der frühen Entwicklung jedoch bleibt der natürliche Erwerb dieses Wissens auf der Strecke. Häufig sind es Jungen, die sich nicht dafür begeistern. Sie sind dann eher grobmotorisch orientiert, also sehr körperbezogen aktiv und gegenständlich-technisch interessiert. Sie brauchen das Zeichnen nicht so sehr für ihr Selbsterkennen, beginnen jedoch häufig später zu malen, wenn sie nicht zu sehr gedrängt wurden.

von Erika Butzmann

Quellenangaben

[1] Gier, Renate: Die Bildsprache der ersten Jahre verstehen, Kösel-Verlag, 2004.
[2] Costantini, Margret: Erziehungskunst: Kinderzeichnungen, 2006, S. 1281-1288.
[3] Stern, Arno: Wie man Kinderbilder nicht betrachten soll, Zabert und Sandmann-Verlag [ZS-Verlag], 2012.
[4] Piaget, Jean: Theorien und Methoden der modernen Erziehung, Fischer-Verlag, 1974, S. 158.
[5] Piaget, Jean: Theorien und Methoden der modernen Erziehung, Fischer-Verlag, 1974, S. 164.
[6] Roth, Gerhard: Fühlen, Denken, Handeln, Suhrkamp-Verlag, 2001, S. 331.
[7] Butzmann, Erika: Elternkompetenzen stärken. Bausteine für Elternkurse, Reinhardt-Verlag, 2011, S. 30.
[8] Piaget, Jean: Urteil und Denkprozess beim Kind, Ullstein-Verlag, 1981, S. 218.
[9] Roth, Gerhard: Fühlen, Denken, Handeln, Suhrkamp-Verlag, 2001, S. 322.
[10] Petermann, Franz: Entwicklung emotionaler Kompetenz in den ersten sechs Lebensjahren, in Kindheit und Entwicklung, 2001, Heft 10, S. 189-200.
[11] Janke, Bettina: Entwicklung des Emotionswissens bei Kindern, Hogrefe-Verlag, 2002.
[12] Butzmann, Erika: Sozial-kognitive Entwicklungstheorien und Erziehung, Psychosozial-Verlag,2020, S. 164.
[13] Butzmann, Erika: Elternkompetenzen stärken. Bausteine für Elternkurse, Reinhardt-Verlag, 2011, S. 39.

Links zum Thema

Bildung von Kopf, Herz und Hand

Margot Sunderland: Die neue Elternschule: Die Wirkung von liebevoller Zuwendung auf das Gehirn unserer Kinder, Dorling Kindersley Verlag

Eltern wissen am besten: Wie man gleichzeitig spielen und lernen kann

Über die Bedeutsamkeit dieses Spiels sagt Arno Stern: „Ein Pinselstrich auf Papier, eine Äußerung ohne Absicht, die nur dem eigenen Bedürfnis folgt, bringt den Menschen zu sich selbst zurück.“