Kindliche Entwicklung zwischen Ur-Angst und Ur-Vertrauen1 - Foto © Kerstin PukallDas Wissen um die stärkende, beruhigende und ermutigende Wirkung der körperlichen Nähe, der Berührung und des Körperkontakts gehört zu den menschlichen Urerfahrungen, eine Erfahrung die heute, in Zeiten raschen Wandels und zunehmender Unsicherheit ständig an Bedeutung gewinnt. Noch bevor die Corona-Pandemie Nähe und Berührung mit Angst und Zurückweisung besetzte, war das Thema der 2. Internationalen und interdisziplinären Early Life Care Konferenz gewählt und wurde so durch die Ereignisse noch einmal mit zusätzlicher Aktualität aufgeladen. Per Video-Konferenz sorgte das Konferenzzentrum St. Virgil Salzburg für einen angenehmen und reibungslosen Online-Ablauf.

In seinem Eingangsvortrag „Menschliche Ur-Ängste und Bindung – die Wiege des Ur-Vertrauens“ schlug Prof. Dr. med. Karl Heinz Brisch, einen großen Bogen von der Urzeit bis zur heutigen Lebenssituation und verdeutlichte anschaulich den Zusammenhang unserer einstigen diffusen Ängste und was uns half, die gesamte Bedrohung der feindlichen Umwelt in gewisser Weise zu reduzieren.

„Unsere Vorfahren müssen die Erfahrung gemacht haben, dass das Leben in der Gruppe sowie ein enges Beisammensein mit Körperkontakt, Halten und Gehalten werden, sich beruhigend auf das Nervensystem auswirkte. D. h. die Suche nach Nähe, Berührung und Körperkontakt scheint sehr früh zur evolutionären Entwicklung beigetragen zu haben, um Urvertrauen zu entwickeln“, so Karl Heinz Brisch. Denn erst, wenn wir uns sicher fühlen und unsere Angst beruhigt haben, können wir unsere Umwelt erforschen, uns nach außen öffnen und neugierig sein.

Wie Körperkontakt das aktivierte Bindungssystem beruhigt!

Wie und auf welche Weise unser Bindungssystem dazu dient, Ängste zu reduzieren und zu verarbeiten, ging James Coan von der Universität Virginia in seinen Studien zur „Social Baseline Theory“ nach. Mittels der Kernspintomographie (MRT) und angsteinfößenden Maßnahmen wurde im Laborversuch sichtbar, wie das gesamte Angstsystem samt der Physiologie reagiert und welche Rolle Körperkontakt durch eine Bindungsperson für die Beruhigung spielen kann. Daraus ableiten lassen sich bindungsbezogene Stufen der Beruhigung des Angsterlebens und des Schmerzempfindens. Ist im Moment der Angst machenden Situation, des aufkommenden Schmerzes:

eine fremde Person bei uns, hat dies keinen Einfluss auf die Linderung des Schmerzempfindens und der Erregung des Angstzentrums.

eine fremde Person bei uns, die unsere Hand hält, reduziert sich die Erregung, die Empfindung des Schmerzes nicht wesentlich.

eine vertraute Person um uns, an die wir uns gebunden fühlen, die uns berührt, mit der wir Händchenhalten, reduziert sich subjektiv wahrnehmbar das Schmerzempfinden und Angsterleben in entscheidender Weise. Dies ist an einer geringeren Aktivierung der Angst- und Schmerzzentren im Gehirn messbar.

Ist hingegen eine Person bei uns, die wir gar nicht mögen aufgrund ihres Auftretens, ihrer Mimik, ihres Blickes oder kommt sie uns bedrohlich nahe, dann steigt das Schmerzempfinden, das Angsterleben. Im MRT wird diese Angsterregung in den entsprechenden Gehirnbereichen deutlich sichtbar.

„Das wurde mir in die Wiege gelegt“, so eine alte Redensart

Wenn frühkindliche Erfahrungen mit dauerhafter Angst einhergehen, machen sie uns krank, denn unser körperliches System ist nicht dafür gemacht, dauerhaft Stress gut zu bewältigen, wie viele wissenschaftliche Arbeiten zeigen.

So etwa die Forschungsarbeiten vom Psychoanalytiker René A. Spitz, 1887-1974. Er untersuchte, was bei äußerlich gut versorgten Kindern, die in Kinderheimen aufwuchsen, passiert, wenn sie nicht auch emotional gut versorgt wurden d. h. sie wurden nicht über das notwendige Maß hinaus berührt und angesprochen. In der Folge entwickeln sie keine sozialen Interaktionen, wie ab der 6. bis 8. Lebenswoche, etwa ein soziales Lächeln oder Signale eines beginnenden Dialoges auszusenden. Die Kinder wirkten zunehmend zurückgezogener, hatten Angst vor Kontakt mit Menschen, zeigten immer Zeichen einer Depression, stagnierten in ihrer Entwicklung, manche starben sogar. Spitz prägte für diese Veränderungen von Säuglingen in Heimen auch den Begriff „Hospitalismus“. Beispielhaft zeigt dieses Videodokument aus dem Jahr 1952 das Leiden der Kinder: Psychogenic Disease in Infancy.

Heute kann man durch bildgebende Verfahren wissenschaftlich nachweisen: „Ohne emotionalen Kontakt mit einer Bindungsperson wird bei einem Säugling das neuronale Wachstumshormon nicht ausreichend gebildet. Dieses ist notwendig, um neuronale Netzwerke im frontalen Gehirnbereich aufzubauen. Fehlen diese Netzwerke, können Menschenbabys keine sozialen Wesen werden. Die Neurobiologie, die dahintersteckt, ist deswegen nicht entwickelt, weil emotionaler Kontakt wie Körperkontakt, Berührung fehlte“, führte Karl Heinz Brisch aus.

Die Entwicklung des Gehirns ist eng mit Bindungserfahrungen verbunden

Die Entwicklung des Gehirns hängt in entscheidender Weise von Signalen aus der Umwelt ab. Hierbei spielen positive emotionale Erfahrungen mit Bindungspersonen eine große Rolle für die Entwicklung von Netzwerken im Gehirn. Bei der Geburt haben wir ungefähr hundert Milliarden Nervenzellen. Bis zum zweiten Lebensjahr werden rund 2 Millionen Kontakte zwischen zwei oder mehreren Nervenzellen aufgebaut und verschaltet. Danach werden sie ständig um-, ab- und neu aufgebaut. Unser Gehirn setzt frühe Erfahrungen in entsprechend angepasste Netzwerke von Nervenzellen um. Je nach Anforderungen passt sich das Gehirn lebenslänglich an, greift aber auf bestehende strukturelle Koppelungen zurück. D.h. an nicht erworbene Fertigkeiten und Fähigkeiten kann es nicht anknüpfen, da die Nervenzellverbindungen in den dafür vorgesehenen Zeiträumen nicht richtig oder nicht ausreichend angelegt bzw. stabilisiert wurden.

Bei der Geburt wiegt das Gehirn 400 g, mit 11 Monaten etwa 850 g, mit drei Jahren etwa 1100 g und mit 15 Jahren wiegt es so viel wie ein Erwachsenenhirn etwa 1400 g. (Anmerkung der Redaktion)

In der frühesten Kindheit werden die Weichen für unsere Zukunft gestellt

Kindliche Entwicklung zwischen Ur-Angst und Ur-Vertrauen3 - Foto © Kerstin PukallFazit: Unsere Ur-Ängste werden uns nach wie vor in die Wiege gelegt und die Erfahrung sicherer Bindungsbeziehungen prägt maßgeblich die Fähigkeit zum Aufbau zwischenmenschlicher Beziehungen und sozialer Verbindungen – die Grundvoraussetzung für die Entwicklung von Ur-Vertrauen, Selbstwertgefühl, Empathie sowie Fähigkeiten zum Interessenausgleich und zur Stressbewältigung. Zu diesen Ergebnissen kommen wissenschaftliche Studien aus unterschiedlichen Feldern wie etwa der Bindungstheorie, Psychologie/Psychiatrie, Neurophysiologie und der Hirnforschung, auf die in den Vorträgen verwiesen wurde.


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Ein Menschenkind braucht von Anfang an praktische und psychische Hilfe von außen. Es ist nicht imstande seine Gefühle selbst zu regulieren und sein grundlegendes Bedürfnis nach Nähe zu befriedigen. Erst eine stabile Beziehung zu feinfühligen Bindungspersonen bildet die Basis für eine sichere Bindung. Stress und Unsicherheit, wie Alleingelassen werden oder Einsamkeit, verhindern, dass die Gehirnentwicklung, die vornehmlich über biologische Antriebe vorangetrieben wird und durch Beziehungserfahrungen des Säuglings und Kleinkinds, lustvolle wie traumatische, Riten, kulturelle Gewohnheiten und Umwelt/Nachbarschaft etc., positiv wie negativ modifiziert wird. Die Fähigkeit der reifenden Netzwerke, sich an unterschiedlichste – auch stressvolle – Umgebungsbedingungen anpassen zu können, ist sehr groß.

Je früher, je feiner, je interaktiver, umso besser entwickelt sich das Sozialverhalten.

Eine gelungene Anbindung nach der Geburt und das Gefühl der sicheren emotionalen Verbundenheit besonders in den ersten 2 – 3 Jahren stärkt Mutter – und auch Vater! – und Kind ein ganzes Leben lang. Eine wesentliche Rolle für eine psychisch stabile Entwicklung spielt dabei die Körperlichkeit zwischen Mutter/Vater und Kind. Der frühe Haut-zu-Haut-Kontakt beeinflusst das Sozialverhalten und die Hirnregionen, die für die Sensitivität zuständig sind, positiv bis ins Erwachsenenalter.

An die verantwortlichen Familienpolitiker richtete der 2. Early Life Care-Kongress den Appell nach einer umfassenderen und gezielteren Förderung optimaler Voraussetzungen und Bedingungen für ein gesundes Aufwachsen der Kinder von Anfang an in den so entscheidenden ersten 1000 Tagen der Entwicklung, und zwar in jeder Beziehung, also sowohl in den Familien, als auch in Krippen und Kindergärten!

Redaktion fürKinder

Links zum Thema

Wie Kinder die Gefühle lernen, Emmi Pikler

Lending a Hand Social Regulation of the Neural Response to Threat, James A. Coan et.al., Psychological Science, 2006

Urvertrauen als Baby – gesund als Erwachsener

SAFE®– Sichere Ausbildung für Eltern, Ausbildung zur/m SAFE®– MentorIn, Elternkurse für „Eine sichere Bindung von Anfang an…“, Prof. Dr. med. Karl Heinz Brisch