Krippe Kinderstube der Demokratie - Foto iStock© FatCameraDie Krippe wird inzwischen von den pädagogischen Experten als „Kinderstube der Demokratie“ bezeichnet, weil sie dort erleben, wie große und kleine Menschen zusammen ihren Alltag organisieren. Doch was macht es mit den Kleinsten, wenn sie mit Erwartungen konfrontiert werden, die ihren Grundbedürfnissen total widersprechen? Denn die Organisation des Alltags ist noch lange nicht im Wahrnehmungsbereich der Kinder, um daraus für das Demokratieverständnis zu profitieren. Sie sind in den ersten drei Jahren gerade in der Fremdbetreuung noch vollständig auf das Versorgt- und Geschütztwerden durch die Erwachsenen fokussiert, weil ihr Ichbewusstsein erst noch im Aufbau ist. Ohne ganz ausgebildetes Ichbewusstsein kann auch der Sinn von Partizipation als Vorläufer des Demokratieverständnisses nicht erfasst werden.

Die Beachtung der Besonderheiten des sozial-kognitiven Entwicklungsprozesses in den ersten acht Jahren ist die Voraussetzung, den Kindern ein fundiertes demokratisches Verständnis zu vermitteln. Doch welche Voraussetzungen sind nötig, damit die Kinder später demokratische Zusammenhänge verstehen?

Am Anfang steht in erster Linie die sichere Bindung an die Eltern!

Krippe Kinderstube der Demokratie - Foto © Kerstin PukallDie sichere Bindung und Anwesenheit der Eltern in den ersten zwei bis drei Jahren ist Voraussetzung, um allen emotionalen und kognitiven Fähigkeiten, die in ihrem Ursprung angeboren sind, zur Ausbildung zu verhelfen. Geschwister unterstützen dabei.


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Die in den Krippen den Kindern antrainierte Selbstversorgung, die als Selbstbestimmung deklariert wird, klappt nur durch die angeborene hohe Anpassungsbereitschaft und die in den ersten Jahren noch weitgehend unbewusste Nachahmungsfähigkeit. Das dadurch hervorgerufene Training führt zu einer äußeren Selbstständigkeit, die zu Hause den Rückfall in die totale Abhängigkeit von Eltern zur Folge hat. Insofern ist weder ein Nutzen für die Selbstständigkeit noch für die „Demokratiefähigkeit“ vorhanden, sondern dies führt zu entwicklungseinschränkendem Dauerstress durch die ständigen Anpassungsleistungen der kleinen Kinder. Gleichzeitig wird die entwicklungsfördernde Spieltätigkeit eingeschränkt.

Sozial durch die Erfahrung der eigenen Wirkung

Krippe Kinderstube der Demokratie - Foto iStock© shaunlErst bei einer Gruppenbetreuung ab drei Jahre lernen Kinder durch das Rollenspiel soziales Verhalten im Spiel; und zwar bevor sie begreifen, was soziales Verhalten bedeutet. Erzieherinnen haben dabei im Sinne eines demokratischen Verständnis-Vorlaufs die Aufgabe, Kindern bei Konflikten zu helfen, wenn diese es selbst nicht schaffen. Dabei darf nicht mit den Kindern geschimpft, sondern dem „Täter“ muss erläutert werden, was sein Handeln beim „Opfer“ bewirkt hat. Danach muss der Fall abgehakt sein, damit das Kind die Chance hat, über sein Verhalten nachzudenken. Denn kleine Kinder lernen nicht durch Kritik oder Bestrafung, sondern mit der Erfahrung, durch ihr negatives Verhalten nicht verdammt zu werden. Dieser Lernprozess verläuft über die nächsten zwei bis drei Jahre, in denen die Kinder aufgrund des sich weiterentwickelnden sozialen Verstehens zunehmend angemessenes Verhalten zeigen. Die biologisch angelegte Grundmotivation der Kinder, sich richtig zu verhalten, sorgt dafür, wenn eine sichere Eltern-Kind-Bindung vorhanden ist. Dieser Prozess wird durch außen einwirkende Lernprogramme eher gestört. Partizipation im Alltag fordern die Kinder von sich aus ein, wenn die Atmosphäre stimmig ist, das muss ihnen nicht beigebracht werden.

Soziales Denken und Verstehen ist beziehungsabhängig

Da kindliches Lernen beziehungsabhängig ist, entwickelt sich auch das soziale Denken und Verstehen im Zusammenhang mit einer Bindungsperson. Die Gewähr dafür liefern in den ersten sechs Jahren die Familienmitglieder im täglichen Umgang miteinander und die Gleichaltrigen ab drei Jahre über das Rollenspiel. Alle anderen haben darauf erst mit zunehmendem Alter der Kinder Einfluss.

Die Entwicklung des Regelverstehens der Kinder als Vorläufer für demokratisches Handeln, muss in der Kita im Blick behalten werden; sowohl bei der Regelfestsetzung als auch bei den Forderungen nach Einhaltung durch die Kinder unterschiedlichen Alters [1, S.183]. Das bedeutet, es darf keine negativen Reaktionen der Erzieherinnen bei Regelverletzungen geben, sondern nur der Hinweis auf falsches Verhalten. Nur dann ergibt sich daraus ein Verständnis für Prozesse des Zusammenlebens. Die Achtung vor gemeinsamen Beschlüssen, die den Kitakindern schon nahegelegt wird, entwickelt sich erst im späteren Grundschulalter.

Kleinkinder können keine Auswahl treffen

Bildungsprogramme zur Partizipation bleiben oberflächlich, denn die Partizipation muss im Tagesverlauf den Kindern bei normalen Tätigkeiten angeboten werden, um Eingang in ihr Selbstverständnis zu finden. Das bedeutet, alles was sie selbst machen wollen, sollte zugelassen werden; es genügt, wenn diese Aktionen nicht verhindert werden. Vorschläge zur Beteiligung müssen sich am Alter der Kinder orientieren, denn die bis zu vierjährigen Kinder haben auf Grund ihrer besonderen sozial-kognitiven Denkweise noch Probleme mit der Entscheidungsfähigkeit. Sie können zwei gleich gute Dinge nur nacheinander bedenken und nicht gegeneinander abwägen, sich also nicht gut entscheiden.

Das Ego steht bei Fünf- bis Sechsjährigen im Vordergrund

Krippe Kinderstube der Demokratie Rollenspiel - Foto 123rf © oksun70Am Verhalten der fünf- bis sechsjährigen Kinder ist zu erkennen, wie sinnlos Programme zum Demokratielernen in den Kitas: In dem Alter versuchen sie mit Macht über die anderen zu bestimmen. In ihrem normalen Entwicklungsprozess sind sie an dem Punkt angelangt, wo sich das Gehirn umbaut und mit sechs bis sieben Jahren die Schulfähigkeit ermöglicht. Aus dem vorlogischen Denken, das die Phantasietätigkeit hervorbrachte, entsteht jetzt ein durchgängig logisches Denken. In dieser Übergangsphase sind die Kinder ganz auf sich selbst bezogen, weil sie versuchen, ihre bisher erworbenen Fähigkeiten zu sortieren, um ein Bild von sich selbst zu erhalten. Von diesem Zeitpunkt an kann man erst von Selbstbewusstsein des Kindes sprechen. Das Verständnis für die Bedürfnisse der anderen ist vorübergehend eingeschränkt, weil das eigene Können und Wollen im Mittelpunkt steht. Sie bestimmen über andere, weil sie überzeugt sind, es besser zu wissen als die anderen. Mit der Regelung, der daraus in den Kita-Gruppen entstehenden Konflikten, haben die Erzieherinnen genug zu tun. Die Vermittlung von Respekt vor dem anderen ist hier nicht möglich, weil die Gehirne besonders der Jungen mit etwas ganz anderem beschäftigt sind.

Wenn alle reifungsbedingten Fähigkeiten der Kinder sich gut in einer verständnisvollen Familie und ergänzend über einen halben Tag in der Kita entwickeln können, dann sind die Grundlagen vorhanden, um sich im Laufe der überwiegend halbtags stattfindenden Grundschule demokratisches Wissen anzueignen. Denn dieses Wissen benötigt ohne einzwängende Zeitpläne weiterhin Erfahrungen in der Familie, in Vereinen und im Freundeskreis.

So gelingt Demokratiebildung nicht

Die Hochglanzbroschüren zur Demokratiebildung in den Kitas, z. B. von der Amadeo Antonio Stiftung oder dem Nifbe (Niedersächsisches Institut für frühkindliche Bildung und Entwicklung e.V.), erscheinen als Beschäftigungstherapie für Wissenschaftler:innen, wenn beachtet wird, dass die ganzen sehr differenzierten Ausführungen aus der Sicht der Erwachsenen stammen und den gesamten sozial-kognitiven Entwicklungsprozess der Kinder [1] aussparen. Das heißt sowohl die Kinder sind damit überfordert als auch die Erzieherinnen, die in einer 1:1 Betreuung diesen Ansprüchen nur genügen könnten.

Erst im Schulalter sind Kinder reif, demokratisch zu handeln

In den ersten beiden Klassen der Grundschule sind die Kinder noch sehr auf sich selbst bezogen, um den Anforderungen der Schule gerecht zu werden. Die ersten demokratischen Handlungen befassen sich mit der Wahl des/der KlassensprecherInnen; womit sich dann das Thema auch erschöpft hat.

Erst in der dritten und vierten Klasse ist die sozial-kognitive Entwicklung so weit fortgeschritten, dass die Bedürfnisse der Gruppe im Denken der Kinder verankert wird. Ab der vierten Klasse macht es dann Sinn, demokratische Lerninhalte zu vermitteln.

von Erika Butzmann

 

Quellenangabe

[1] Sozial-kognitive Entwicklung und Erziehung. Impulse für Psychologie, Erziehungswissenschaft und Sozialpädagogik, Erika Butzmann, Psychosozial-Verlag 2020

Links zum Thema

Empathie und soziales Verstehen

Erziehung zur Weltoffenheit: Zoes Geschichte

Selbstständigkeit durch eine sichere Bindung

Die demokratische Familie – so gelingt‘s