Wie Kinder heranwachsen (16) Krippenalltag und soziale Spannungen durch frühe Trennungen - Foto iStock © JuanmoninoDa die außerfamiliäre Betreuung so selbstverständlich geworden ist, wird nicht bedacht, dass die „Notwendigkeit” früher Fremdbetreuung nicht von den Kindern ausgeht.

Ebenso wenig wird gefragt, ob und wie die Fremdbetreuung als vereinheitlichender Teil der Frühsozialisation unserer Kinder, in ihnen (und künftigen Erwachsenen) einen kollektiven „Wandel einiger Persönlichkeitseigenschaften” nach sich ziehen könnte. Ich meine damit „Grundeigenschaften der Persönlichkeit”, die durch die mit dem Krippenalltag verbundenen Lebensbedingungen und Forderungen „unausweichlich” eingeschränkt oder gefördert werden.

Ich vermute, dass sich die „innere Fähigkeit mindert“, sich auf verbindliche Bezogenheit und Trennung mit allen damit verbundenen Gefühlen und Umständen einlassen zu können, ohne sich bedroht oder ohnmächtig zu fühlen, hoffnungsvoll zu bleiben, statt aggressiv zu agieren oder psychosomatische Symptome zu entwickeln.

Dagegen könnten die sozialen Anforderungen an die Kleinstkinder ihre „innere Motivation bestärken“, autark sein zu wollen, sich flexibel anzupassen, sich Gleichaltrigengruppen anzuschließen, sich letztlich weniger auf Menschen zu verlassen, als sich an materielle Dinge, an Besitz zu binden.

Solcherart Veränderungen fallen im Kleinkindalter nicht auf. Im Gegenteil, sie sind ein unbewusstes Rüstzeug sich als Erwachsener zu bewähren. Aber vermutlich können sie das soziale „Klima einer Gesellschaft“ verändern:

  • „Verbindlichkeit von Beziehungen“, gegenseitiges Vertrauen, gegenseitige Bezogenheit weicht der Unverbindlichkeit, Austauschbarkeit sowohl in Partnerschaften, als in Sozialbeziehungen, als am Arbeitsplatz.

Die moderne Arbeitswelt verlangt vom Arbeitnehmer Flexibilität und Mobilität, sie vernachlässigt Routine und die Bedürfnisse von Familie und Kindern, die nicht beliebig mobil sein können, so dass nicht selten „familiäre oder persönliche Beziehungen zerstört“ werden. Beschäftigte müssen sich hin und her schieben lassen, z. B. in Zeitverträgen. Verantwortung, Treue, Selbstgestaltung sind wenig gefragt, dagegen eine möglichst „widerspruchslose Anpassung“.

  • Das „Gewahr werden von Alleinsein, Getrenntsein“ und damit verbundener Sehnsucht nach einem intimen Kontakt und Austausch wird ausgelöscht durch materielle Dinge ersetzt, deren Verfügbarkeit sich absolut kontrollieren lässt.

Virtuelle Beziehungen im Internet, Dauertelefonate, online sein etc. dienen der Abwehr wahrzunehmen und zu erkennen, dass Alleinsein zwar aushaltbar, schwer erträglich ist, ohne in Aggression oder Ohnmachtsgefühle zu verfallen ist.

  • Selbstregulations-/Affektregulations- und Kommunikationsfähigkeit sind jedoch basale Voraussetzungen für das emotionale und intellektuelle Lernen. Frühe Förder- und Bildungsprogramme sind angewiesen auf diese basalen Fähigkeiten. Sie entfalten sich im ko-konstruktiven Wechselspiel mit der Mutter (und dem Vater) entlang von Interaktionszyklen. Man kann es nicht oft genug betonen: Für diese Entwicklung brauchen Kinder und Eltern ausreichend Zeit besonders in den ersten Lebensjahren. Ein Aufenthalt in der Kinderkrippe kann diese überwiegend dyadischen* Lernerfahrungen nicht bieten.* Dyade bezeichnet eine intensive soziale Beziehung zweier Personen.
  • Der sekundäre Narzissmus, also der (unbewusste) Wunsch nach Bestätigung, großen Effekten, Bewunderung nimmt zu, da es an früher affektiver Spiegelung mangelte und der primäre Narzissmus (echte Selbstliebe) nicht ausreichend befriedigt wurde. Weil echte Selbstliebe Fürsorge, Mitgefühl und Besorgnis für andere impliziert, müssen wir mit einer abnehmenden Bereitschaft rechnen, sich anderen rücksichtsvoll zuzuwenden. Es wird kälter zwischen den Menschen.
  • Angesichts der zunehmend vorgegebenen, vereinheitlichenden Lebensformen nimmt die „Vielfalt möglicher Lebensformen” ab. Die Toleranz gegenüber der Vielfalt besteht nur scheinbar, weil es sich eher um Gleichgültigkeit, Desinteresse handelt.

Wir treffen auch auf „augenfällige Störungen”, also emotionale und soziale Auffälligkeiten und Pathologien, auf die auch verschiedene Langzeit-Studien hinweisen [1, 2, 3]. Ich denke an Impulsdurchbrüche, Vorherrschen von Bedrohungsgefühlen (sich angegriffen – verfolgt fühlen) und daraus entstehende primitive Ängste und Affekte wie Wut, Panik in Stresssituationen oder bei Konflikten sowie an aggressive Gespanntheit. Ich denke an motorische Unruhe und mangelnde Zentrierung in Anforderungssituationen, wie sie die Schule bietet.

Allen diesen Auffälligkeiten ist gemeinsam, dass sie an eine primitive körperliche Ebene gebunden sind und nicht „gedacht“ werden können. Anders gesagt, die Voraussetzungen und Fähigkeiten für ein lösungsorientiertes Stressmanagement sind geschwächt.

Im Zusammenhang mit dem Kontextwandel, wäre eine weitere Frage zu stellen: Was treibt die Promotoren der frühen institutionellen Fremdbetreuung an und was erhoffen sich die Eltern davon, trotz vieler Zweifel, so früh ihr Kind fremden Einflüssen zu überlassen? Diese Frage sollte uns unabhängig davon, wie schlecht oder gut die Qualität der frühen Fremdbetreuung ist, beschäftigen. Denn derzeit können wir angesichts des katastrophalen Personalmangels nur sagen: Was tun wir den Kindern an? Wieso beschädigen wir derartig die nachfolgende Generation, die in Zukunft die Verantwortung für uns und die Welt tragen wird?

von Agathe Israel

Stimmen der Eltern

Eltern äußern sich nicht gleichgültig, hart oder kalt. Aber sind sie wirklich davon überzeugt, wofür sie sich entschieden haben und was sie tun?

Die hochschwangere Frau P. ist verzweifelt. So lange habe sie sich gegen das Schwangersein gewehrt. Endlich fühle sie sich mit ihrem Baby verbunden, da müsse sie sich schon wieder trennen. Ich frage sie: „Wieso das?“. Sie antwortet: „Heute habe ich den Krippenplatz für unsere C. angemeldet, das muss man so früh machen, sonst hat man keine Chance.“

Frau Z. ist selbst mit 6 Wochen in die Krippe gekommen, weil ihre alleinerziehende Mutter ihre berufliche Hochschulkarriere nicht unterbrechen wollte. Darunter hat Frau Z. als Kleinkind sehr gelitten. Jetzt meint sie: „Zehn Monate zu Hause reichen mir, obwohl mir die Kleine leidtut.“

Frau P. will nach dem 12. Lebensmonat wieder in den Beruf einsteigen: „Ich fühlte mich heute so schrecklich wertlos. Als ich mich am Montag im Konzern zurückgemeldet habe und wegen des zweiten Kindes nur noch 30 Stunden arbeiten wollte, hat man mir gesagt, meine Stelle sei gestrichen worden. Ich sei entlassen. Aber heute habe ich im Internet die Ausschreibung meiner Stelle gesehen.“

Herr W. spricht über seinen 12 Monate alten Sohn: „Ich gebe ihn morgens ab, da weint er nicht so sehr wie bei seiner Mama. Vielleicht weil ich etwas gefasster bin.“

Herr O. meint mit Blick auf die anstehende Krippenaufnahme: „Zeitlich bedeutet das schon eine große Umstellung für das Kind, aber wir müssen eben zusehen, wie wir unseren Lebensstandard halten.“

Herr D. verschiebt die schwere Trennung auf das Krippenpersonal: „Ich hatte mir von der Eingewöhnungszeit mehr erwartet, schließlich werden die Erzieherinnen doch dafür bezahlt, dem Kind die Krippe schmackhaft zu machen.“

Frau Y. hat ein schlechtes Gewissen: „Mir blutet das Herz, ihn weggeben zu müssen. Aber ich muss es tun, sonst verdienen wir nicht genug. Als ich das meiner Psychotherapeutin sagte, antwortete sie mir: ‚Seien sie nicht so undankbar. Sie haben doch eine Krippe gefunden, die ihnen gefällt.‘ Dass ich mir Vorwürfe mache, wollte sie nicht hören.“

Frau B. gehört zu den wenigen Eltern, die es wagen ihre Zweifel offen zu zeigen. Sie spricht von ihrem Bauchgefühl, das sie zögern lässt ihre kleine Tochter – sie ist ihr drittes Kind – mit 1,5 Jahren in die Kita zu geben. „Zwar ist alles dort wunderbar gestaltet mit viel Holz, didaktischem Spielzeug, netten Erzieherinnen und mein Kind ist freundlich auf Erwachsene und Kinder zugegangen. Aber in einer Gruppe, meinte sie, seien 2 Erwachsene mit 8 Kindern unter zwei Jahren, da käme es schon vor, dass sie nicht gleich helfen könnten oder alle im Blick hätten.“

Frau B. fühlt sich mit ihrer Frage alleine gelassen: „Wann ist mein Kind reif genug für die Kita, einen Alltag ohne meine Anwesenheit?“ Denn ihre gesamte Umgebung wundere sich, dass das Kind nicht mit 12 Monaten in die Krippe gekommen sei. Kinder brauchten den Aufenthalt dort, um soziale Kompetenz zu erlernen. Das zweifele sie nicht an, aber ab wann ist das Ich des Kindes stark genug, um die Anforderungen nicht durch Anpassung lösen zu müssen und den Stress körperlich auszubaden?

Wieder andere Eltern suchen nach einem dritten Weg, so Eltern C.: „Zum Glück können wir auf die Großeltern zurückgreifen, bis wir den Platz bei der Tagesmutter haben, auch wenn es uns unangenehm ist, wieder von ihnen abhängig zu sein.“

Frau K. spricht über eine überraschende Wendung:Ich dachte, nach 6 Monaten gehe ich wieder arbeiten, aber beziehungstechnisch muss ich nun umpolen, weil ich nicht erwartet habe, dass ich so an ihr hänge.“

Sie berichtet, dass es nun unglaublich schwer sei, dem Arbeitgeber ihre Sinnesänderung beizubringen. Auch das Erziehungsgeld könne nicht einfach auf 12 Monate verlängert und ihr Krippenplatz nicht freigehalten werden.

Viele suchen nach einer „kindzentrierten“ Begründung, ihr Baby mit 12 Monaten in die Krippe zu geben, die ähnlich lauten könnte wie die des

Elternpaars C.: „Wir Eltern können der Kleinen nicht so viel Anregungen bieten wie die Krippe.“

Oder Elternpaar M.: „Man kann die Kinder nicht früh genug daran gewöhnen, sozial kompetent zu werden und sich an die Realität anzupassen.“

Weitere Informationen

Dies ist ein Artikel der Beitragsserie „Wie Kinder heranwachsen – Einsichten, Irrtümer und die Lehren für die Zukunft“. Wenn Sie vor Veröffentlichung der Einzelbeiträge den Artikel in Gänze lesen möchten, finden Sie ihn in unserem Elternkurs im Baustein „Kindheit“.

 

Der Umgang mit den kindlichen Grundbedürfnissen heute und in der Menschheitsgeschichte

  • Vom Schmerz sich zu binden
  • Das Bild vom Kind

Frühe Kindheit: Was erleben und brauchen Kleinstkinder?

Erziehungskonzepte verstehen

  • Die Gleichschaltung von Familie und Institution
  • Die Folgen eines autoritären Erziehungsstils
    1. Die entscheidenden Merkmale der DDR-Erziehungspraxis
    2. Die Auswirkungen der DDR-Erziehungspraxis

Prägende Kindheitserfahrungen

  • Was Kinder zu empathischen Mitmenschen macht
  • Was Kinder antreibt, egoistisch zu handeln
  • Wenn aus Kindern Eltern werden

Frühe Trennungen in der Kindheit – eine gesellschaftliche Norm

  • Der gesellschaftliche Kontext für das Großziehen von Kindern
  • Der stille Kontextwandel der Erziehung
    1. Die Situation der Eltern
    2. Die Situation in den Krippen
    3. Die Situation der Erzieher:innen
    Szenen aus dem Krippenalltag

Krippenalltag und soziale Spannungen durch frühe Trennungen?

  • Stimmen der Eltern

Die Paradoxie der Erziehung

  • Gesellschaftliche Widersprüche

Aktuelle Erziehungstrends

  • Wider besseres Wissen – Unbewusste Motive für den Widerstand
  • Woher kommen die Widerstände?
  • Zukunftsgedanken
[1] Belsky, J., Vandell, D., L., Burchinal, M., Clarke- Stewart, K., A., McCartney, K., Owen, M., T.: Are the long-term effects of early child care? Z.: Child Development, 2007, 78, Page 681-701

[2] Averdijk, M., Besemer Sytske, Eisner, M., Bijleveld, C., Ribeaud, Denis: The relationship between quantity, type, and timing of external childcare and child problem behaviour in Switzerland, EUROPEAN JOURNAL OF DEVELOPMENTAL PSYCHOLOGY 2011, 8 (6), 637–660, Zürich, University of Cambridge, University Amsterdam.

[3] NICHD Early Child Care Research Network: The Effects of Infant Child Care on Infant-Mother attachment Security: Results of the NICHD Study of Early Child Care. Child Development 1997, 68, S. 860-879

Links zum Thema

Krippenkinder in der DDR. Frühe Kindheitserfahrungen und ihre Folgen für die Persönlichkeitsentwicklung und die Gesundheit, Agathe Israel, Ingrid Kertz-Rühling, Brandes & Apsel

Die Bindungsbedürfnisse von kleinen Kindern

Resilienz – Das Geheimnis der psychischen Widerstandskraft

Kleine Kinder im Alter von 17 Monaten bis 2 Jahre und 5 Monate in kurzer Fremdbetreuung, Young children in brief separation, Robertson Films, UK

„Findings for Children up to Age 4 1/2 Years“, Zusammenfassung der NICHD-Studienergebnisse in laienverständlicher Form