Da die außerfamiliäre Betreuung so selbstverständlich geworden ist, wird nicht bedacht, dass die „Notwendigkeit” früher Fremdbetreuung nicht von den Kindern ausgeht.
Ebenso wenig wird gefragt, ob und wie die Fremdbetreuung als vereinheitlichender Teil der Frühsozialisation unserer Kinder, in ihnen (und künftigen Erwachsenen) einen kollektiven „Wandel einiger Persönlichkeitseigenschaften” nach sich ziehen könnte. Ich meine damit „Grundeigenschaften der Persönlichkeit”, die durch die mit dem Krippenalltag verbundenen Lebensbedingungen und Forderungen „unausweichlich” eingeschränkt oder gefördert werden.
Ich vermute, dass sich die „innere Fähigkeit mindert“, sich auf verbindliche Bezogenheit und Trennung mit allen damit verbundenen Gefühlen und Umständen einlassen zu können, ohne sich bedroht oder ohnmächtig zu fühlen, hoffnungsvoll zu bleiben, statt aggressiv zu agieren oder psychosomatische Symptome zu entwickeln.
Dagegen könnten die sozialen Anforderungen an die Kleinstkinder ihre „innere Motivation bestärken“, autark sein zu wollen, sich flexibel anzupassen, sich Gleichaltrigengruppen anzuschließen, sich letztlich weniger auf Menschen zu verlassen, als sich an materielle Dinge, an Besitz zu binden.
Solcherart Veränderungen fallen im Kleinkindalter nicht auf. Im Gegenteil, sie sind ein unbewusstes Rüstzeug sich als Erwachsener zu bewähren. Aber vermutlich können sie das soziale „Klima einer Gesellschaft“ verändern:
- „Verbindlichkeit von Beziehungen“, gegenseitiges Vertrauen, gegenseitige Bezogenheit weicht der Unverbindlichkeit, Austauschbarkeit sowohl in Partnerschaften, als in Sozialbeziehungen, als am Arbeitsplatz.
Die moderne Arbeitswelt verlangt vom Arbeitnehmer Flexibilität und Mobilität, sie vernachlässigt Routine und die Bedürfnisse von Familie und Kindern, die nicht beliebig mobil sein können, so dass nicht selten „familiäre oder persönliche Beziehungen zerstört“ werden. Beschäftigte müssen sich hin und her schieben lassen, z. B. in Zeitverträgen. Verantwortung, Treue, Selbstgestaltung sind wenig gefragt, dagegen eine möglichst „widerspruchslose Anpassung“.
- Das „Gewahr werden von Alleinsein, Getrenntsein“ und damit verbundener Sehnsucht nach einem intimen Kontakt und Austausch wird ausgelöscht durch materielle Dinge ersetzt, deren Verfügbarkeit sich absolut kontrollieren lässt.
Virtuelle Beziehungen im Internet, Dauertelefonate, online sein etc. dienen der Abwehr wahrzunehmen und zu erkennen, dass Alleinsein zwar aushaltbar, schwer erträglich ist, ohne in Aggression oder Ohnmachtsgefühle zu verfallen ist.
- Selbstregulations-/Affektregulations- und Kommunikationsfähigkeit sind jedoch basale Voraussetzungen für das emotionale und intellektuelle Lernen. Frühe Förder- und Bildungsprogramme sind angewiesen auf diese basalen Fähigkeiten. Sie entfalten sich im ko-konstruktiven Wechselspiel mit der Mutter (und dem Vater) entlang von Interaktionszyklen. Man kann es nicht oft genug betonen: Für diese Entwicklung brauchen Kinder und Eltern ausreichend Zeit besonders in den ersten Lebensjahren. Ein Aufenthalt in der Kinderkrippe kann diese überwiegend dyadischen* Lernerfahrungen nicht bieten.* Dyade bezeichnet eine intensive soziale Beziehung zweier Personen.
- Der sekundäre Narzissmus, also der (unbewusste) Wunsch nach Bestätigung, großen Effekten, Bewunderung nimmt zu, da es an früher affektiver Spiegelung mangelte und der primäre Narzissmus (echte Selbstliebe) nicht ausreichend befriedigt wurde. Weil echte Selbstliebe Fürsorge, Mitgefühl und Besorgnis für andere impliziert, müssen wir mit einer abnehmenden Bereitschaft rechnen, sich anderen rücksichtsvoll zuzuwenden. Es wird kälter zwischen den Menschen.
- Angesichts der zunehmend vorgegebenen, vereinheitlichenden Lebensformen nimmt die „Vielfalt möglicher Lebensformen” ab. Die Toleranz gegenüber der Vielfalt besteht nur scheinbar, weil es sich eher um Gleichgültigkeit, Desinteresse handelt.
Wir treffen auch auf „augenfällige Störungen”, also emotionale und soziale Auffälligkeiten und Pathologien, auf die auch verschiedene Langzeit-Studien hinweisen [1, 2, 3]. Ich denke an Impulsdurchbrüche, Vorherrschen von Bedrohungsgefühlen (sich angegriffen – verfolgt fühlen) und daraus entstehende primitive Ängste und Affekte wie Wut, Panik in Stresssituationen oder bei Konflikten sowie an aggressive Gespanntheit. Ich denke an motorische Unruhe und mangelnde Zentrierung in Anforderungssituationen, wie sie die Schule bietet.
Allen diesen Auffälligkeiten ist gemeinsam, dass sie an eine primitive körperliche Ebene gebunden sind und nicht „gedacht“ werden können. Anders gesagt, die Voraussetzungen und Fähigkeiten für ein lösungsorientiertes Stressmanagement sind geschwächt.
Im Zusammenhang mit dem Kontextwandel, wäre eine weitere Frage zu stellen: Was treibt die Promotoren der frühen institutionellen Fremdbetreuung an und was erhoffen sich die Eltern davon, trotz vieler Zweifel, so früh ihr Kind fremden Einflüssen zu überlassen? Diese Frage sollte uns unabhängig davon, wie schlecht oder gut die Qualität der frühen Fremdbetreuung ist, beschäftigen. Denn derzeit können wir angesichts des katastrophalen Personalmangels nur sagen: Was tun wir den Kindern an? Wieso beschädigen wir derartig die nachfolgende Generation, die in Zukunft die Verantwortung für uns und die Welt tragen wird?
von Agathe Israel
Stimmen der Eltern
Eltern äußern sich nicht gleichgültig, hart oder kalt. Aber sind sie wirklich davon überzeugt, wofür sie sich entschieden haben und was sie tun?
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Dies ist ein Artikel der Beitragsserie „Wie Kinder heranwachsen – Einsichten, Irrtümer und die Lehren für die Zukunft“. Wenn Sie vor Veröffentlichung der Einzelbeiträge den Artikel in Gänze lesen möchten, finden Sie ihn in unserem Elternkurs im Baustein „Kindheit“.
Links zum Thema
Krippenkinder in der DDR. Frühe Kindheitserfahrungen und ihre Folgen für die Persönlichkeitsentwicklung und die Gesundheit, Agathe Israel, Ingrid Kertz-Rühling, Brandes & Apsel
Die Bindungsbedürfnisse von kleinen Kindern
Resilienz – Das Geheimnis der psychischen Widerstandskraft
Kleine Kinder im Alter von 17 Monaten bis 2 Jahre und 5 Monate in kurzer Fremdbetreuung, Young children in brief separation, Robertson Films, UK
„Findings for Children up to Age 4 1/2 Years“, Zusammenfassung der NICHD-Studienergebnisse in laienverständlicher Form