Langes Stillen Gina - Foto © Grüter natural photography

Interview mit Kathrin Burri – kaum eine frischgebackene Mutter weiß oder plant, wie lange die Stillzeit mit ihrem Kind dauern wird. Und plötzlich ist das Kind älter, und es wird immer noch gestillt. Und es fühlt sich einfach normal an. Das Interview führte Sibylle Lüpold.

Sibylle Lüpold: Du hast das Buch »Langes Stillen – natürlich, gesund, bedürfnisorientiert« geschrieben. Wie bist Du dazu gekommen, ein Buch zu schreiben?

Kathrin Burri:
Ich hatte unsere beiden Kinder länger als der Durchschnitt gestillt. Schon beim ersten Kind habe ich festgestellt, dass ich kaum andere Mütter im Umfeld kannte, die auch lange stillten. Erst mit der Zeit konnte ich mich in Stillgruppen und virtuell darüber austauschen und merkte, welch ein Tabu langes Stillen ist und dass auch anderen Mütter der Austausch mit Ähnlichdenkenden fehlte.

Für meine Abschlussarbeit zur Doula Geburtsbegleiterin wählte ich das Thema „langes Stillen“. Beim Schreiben spürte ich, dass ich mich noch weiter in diese Thematik vertiefen und auch anderen Familien Raum geben möchte, sich dazu zu äußern. 2018 lancierte ich eine anonyme Umfrage, in der die Befragten sich offen und ehrlich mitteilen konnten und war über die große Resonanz sehr erstaunt. Über 5.500 Frauen und Männer haben daran teilgenommen! Aus den Ergebnissen ist ein Buch entstanden, das Mut machen soll, den individuell passenden Weg zu gehen, ohne dogmatisch zu wirken. Die LeserInnen finden im Buch viele Erfahrungsberichte, Interviews mit Fachpersonen, Umfrageergebnisse, Fakten rund ums Stillen, wunderschöne Stillfotos und mögliche Antworten, wie auf Äußerungen des Umfeldes reagiert werden kann.

Stillen – Tage, Wochen, Monate, Jahre?

Sibylle Lüpold: Was hältst Du vom Begriff „Langzeitstillen“ und ab wann sprechen wir von „langem Stillen“?

Kathrin Burri: Ich halte nicht viel von diesem Begriff und er gefällt mir auch nicht. Er impliziert, dass eine Stillzeit „außergewöhnlich lange“ dauert, obwohl langes Stillen völlig natürlich ist. Die WHO empfiehlt, Kinder sechs Monate ausschließlich und anschließend nebst adäquater Beikost bis zum zweiten Geburtstag und darüber hinaus zu stillen – so lange wie es für Mutter und Kind stimmt.

In meiner Umfrage gingen die Meinungen, wie lange Stillen „normal“ ist, extrem auseinander: Die einen sprachen bereits ab sechs Monaten, sobald ein Kind Beikost zu sich nimmt, von „langem Stillen“. Manche denken, ab dem Zeitpunkt des ersten Zahnes solle abgestillt werden. Andere finden, bis zwölf Monate sei ideal, da Muttermilch im ersten Lebensjahr als Hauptnahrungsquelle dienen solle. Wieder andere definieren langes Stillen ab zwei Jahren. Mütter, die selbst nicht stillen, werden wohl eher einen kürzeren Zeitraum angeben als eine schon länger stillende Mutter. Alle Meinungen haben ihre Berechtigung und sollten vom jeweiligen Umfeld akzeptiert werden.

„Langes Stillen“ ist also relativ. Entscheidend ist, wie lang (oder besser gesagt: wie kurz) in einer bestimmten Kultur respektive dem jeweiligen sozialen Umfeld gestillt wird – und wie nahestehende Personen über das Stillen denken.

Sibylle Lüpold: Was würdest Du einer Mutter sagen, wie lange sie ihr Kind stillen soll (wenn sie Dich fragen würde)?

Kathrin Burri: So lange, wie es sich für sie und ihr Kind stimmig anfühlt. Niemand hat das Recht, eine so persönliche Angelegenheit zu bewerten.

Nicht-Stillen hat Nachteile für Mutter, Kind und uns alle

Sibylle Lüpold: Welche Vorteile bringt das längere Stillen (über ein Jahr) für das Kind mit sich?

Kathrin Burri: Die Vorteile sind zahlreich:

  • So wird ein Kind auch nach einem Jahr noch hervorragend mit Nährstoffen versorgt und seine Immunabwehr wird weiterhin unterstützt.
  • Nichtstillen vergrößert unter anderem das Risiko, an Allergien, Asthma, Fettleibigkeit, Diabetes I oder II zu erkranken.
  • Langes Stillen hat aber auch auf die Bindung, die emotionale, kognitive und motorische Entwicklung eine positive Wirkung.
  • Und ganz wichtig: Muttermilch ist für ein Menschenkind die perfekte angepasste, arteigene und optimale Milch.

Sibylle Lüpold: Und für die Mutter?

Kathrin Burri: Stillen verringert ihr Risiko für Brust-, Eierstock-, Gebärmutterkrebs und Diabetes. Diese positiven Faktoren nehmen mit der Länge der Stilldauer sogar noch zu und nicht etwa ab. Beim Stillen wird das Hormon Oxytocin gebildet, und zwar bei der Mutter wie auch beim Kind. Für die Mutter führt dies zu einer verbesserten Stressresistenz, mehr Gelassenheit und Kraft, um besser mit Schlafmangel und anderen Belastungen umzugehen. Grundsätzlich können wir sagen: Nicht-Stillen hat Nachteile.

Sibylle Lüpold: Hat langes Stillen Vorteile für die gesamte Gesellschaft?

Kathrin Burri: Zu dieser Frage habe ich eine kleine Umfrage gemacht, um zu erfahren, wie andere darüber denken. Die Ergebnisse sind:

Stillen stärkt das Immunsystem. Dadurch, dass »lange gestillte« Kinder weniger anfällig auf Krankheiten sind, wird das Gesundheitssystem weniger belastet. Dies hat dann auch tiefere Krankenkassenkosten zur Folge.

Es entlastet das Gesundheitssystem, da auch bei den Müttern mit einer längeren Stilldauer das Risiko für einige Krankheiten sinkt.

Mehr Liebe, mehr Urvertrauen, mehr Empathie, mehr „back to nature“, mehr Vertrauen in den eigenen Körper, mehr Mitgefühl. Ich finde, so etwas wirkt sich so wunderbar auf die gesamte Gesellschaft aus.

Kinder, die nach der Geburt über 12 Monate oder länger von ihren Müttern gestillt wurden, hatten in einer brasilianischen Kohorte im Alter von 30 Jahren einen um fast 4 Punkte höheren Intelligenzquotienten als nicht-gestillte Kinder.

Um mal den emotionalen Aspekt zu bedienen: Stillen macht Kinder glücklich, entspannt, zufrieden, schenkt ihnen Nähe, u.v.m.. Ich bin daher der Überzeugung, dass viele Menschen wesentlich empathischer, ausgeglichener und glücklicher wären, wenn im Baby- und Kindesalter auf ihre Bedürfnisse derart liebevoll eingegangen worden wäre.

Umweltschutz: Gestillte Kinder brauchen keine Flaschen und Milchpulver. Das spart Unmengen an Verpackungen, aufwendig produziertem Milchpulver und entsprechendem Transport. – Genau das Gleiche für die Flaschen, Sauger etc. – Genauso wie Energie und Wasser für das Zubereiten der Flaschen.

Es produziert keinen Abfall und ist CO2 neutral. Zudem wird Tierleid vermieden, was für mich als vegane Mama auch durchaus gesellschaftlich wichtig ist. Tiere gehören für mich zur Gesellschaft und mein Stillen als Veganerin hat Außenwirkung auf die Gesellschaft. (…) Evtl. hilft auch öffentliches Stillen der Gesellschaft, ein normales und gesundes Körperbild wieder zu erlangen. Derzeit ist doch immer noch gerade der Körper der Frau nie ok und oder bitte nur für den Mann da, dann auch gern fast nackt zu betrachten in der Öffentlichkeit.

Langes Stillen baucht keine Rechtfertigung

Sibylle Lüpold: Wie sollen sich Mütter verhalten, die sich unwohl dabei fühlen, ihr etwas älteres Kind in der Öffentlichkeit zu stillen?

Kathrin Burri: Ein etwas älteres Kind wird vielleicht gut verstehen können, dass nur noch zu Hause gestillt wird, es aber jederzeit in Mamas Arme kommen darf, wenn es Nähe und Trost sucht. Wenn eine Mutter weiterhin in der Öffentlichkeit stillen mag, kann sie sich mit guten Argumenten eindecken, um sich im Bedarfsfall prompt äußern zu können oder aber: sie lässt sich erst gar nicht auf Diskussionen ein! Ich wünschte mir, dass unsere Gesellschaft das Stillen eines (Klein)Kindes als etwas Normales betrachten würde, denn es ist so viel mehr als Nahrungsaufnahme.

Sibylle Lüpold: Die meisten westlichen Mütter wollen mit Stillen beginnen – viele stillen aber bereits mit wenigen Monaten ab. Weshalb ist das so?

Rezension Langes Stillen - Kathrin BurriKathrin Burri: Als erstes fehlen Stillenden Vorbilder: Andere Frauen im Umfeld, die ebenfalls oder sogar länger als der Durchschnitt stillen. Die Angebote der La Leche Liga sind vielen Frauen immer noch völlig unbekannt, obwohl sie an deren Stilltreffen wunderbaren Austausch pflegen könnten. Auch Angebote von Stillberaterinnen IBCLC und verschiedenster Organisationen sind teilweise rar. Die fehlende Akzeptanz des Stillens in der Gesellschaft trägt nicht dazu bei, dass sich Mütter, die länger als einige Monate stillen, wohl fühlen.

Dazu kommt, dass die aktuelle Empfehlung von Kinderärzten lautet, die Einführung von Beikost mit vier Monaten zu beginnen, teilweise ungeachtet der Beikostreifezeichen. Diese frühe Einführung kann zu einer Überforderung des Kindes führen, weil es vielleicht noch gar nicht bereit dazu ist. Das wiederum führt zu Stress im Familiensystem. Viele Eltern denken auch, dass das Schlafverhalten mit dem Stillen zu tun hat, und wenn dies nicht ihren Vorstellungen entspricht, wird oft vorschnell abgestillt. Jede stillende Frau sollte sich qualifizierte Hilfe suchen, wenn sie Unterstützung in Still-, Schlaf-, Trage- und Abstillfragen hat.

Sibylle Lüpold: Was könnte Mütter dazu motivieren, länger als üblich zu stillen?

Kathrin Burri: Austausch mit anderen Frauen, die stillen oder Stillerfahrungen haben verbunden mit dem Wissen, dass sie nicht alleine sind, können helfen, sich unterstützt zu fühlen. Wenn sie die Vorteile des längeren Stillens sowie gute Argumente zu gängigen Klischees kennen, würde es ihnen bestimmt leichter fallen, auf ihren Bauch und ihr Herz zu hören. Es ist einzig und allein die Entscheidung der Familie, wie lange die Stillzeit dauern soll. Ungefragte Ratschläge können getrost überhört oder freundlich abgewiesen werden. Und natürlich werden sie motiviert, indem sie mein Buch lesen und erfahren, wie natürlich, gesund und bedürfnisorientiert langes Stillen ist.

Vielen Dank für dieses Interview!

Kathrin Burri © natural photography Gina Grüter

Über unsere Interviewpartnerin: Kathrin Burri

zweifache Mutter und seit 2015 in der Geburtsbegleitung tätig. Sie ist ausgebildete Doula und unterstützt werdende Eltern emotional und praktisch während Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett. 2018 führte sie eine Online-Erhebung zum Thema »Langes Stillen« mit mehreren Tausend TeilnehmerInnen durch. Kathrin Burri hat zahlreiche Weiterbildungen im Bereich Stillen, Geburtshypnose und Geburtsbegleitung absolviert. www.facebook.com/deinedoula.ch

Links zum Thema

Langes Stillen – natürlich, gesund, bedürfnisorientiert, Kathrin Burri, Kösel Verlag

Stillen fördern – die Ziele der Agenda 2030 umsetzen

Dieses ewige Stillen – langsam nervts! Anne Motzkuhn im Mama@Alltag #1 – Elternvlog – Von Eltern für Eltern, herzriese – Erziehungsberatung & Coaching, 03.10.2020

Stillen erhöht IQ und späteres Einkommen der Kinder, Lancet Global Health (2015; 3: e199–e205), aerzteblatt.de, 18. März 2015

Stillen fördern und unterstützen

Natürliche Argumente für’s Stillen

Stillen: So wichtig ist das Gewicht der Mutter. Adipöse Mütter stillen seltener und kürzer – aber warum? DocCheck, Forschern aus Pennsylvania, 2022