Die 36. Jahrestagung der Internationalen Gesellschaft für Pränatale und Perinatale Psychologie und Medizin (ISPPM) fand in Kooperation mit dem Bundesverband „Das frühgeborene Kind“ e.V. vom 1.- 3. November 2024 in Schlangenbad statt. Die Vorträge wurden live online übertragen.
Die Tagung stand unter der Überschrift „Selbstbestimmung rund um Schwangerschaft, Geburt und frühe Kindheit – zwischen Wunsch und Wirklichkeit“ und würdigte die Arbeiten der Ärztin und Psychotherapeutin Eva Reich, die in diesem Jahr 100 Jahre alt geworden wäre. Eva Reich erforschte als Tochter des bekannten Psychoanalytikers Wilhelm Reich die Mechanismen der frühen Eltern-Kind-Interaktion und stellte die Bedeutung der Co-Regulation durch die Bezugspersonen heraus. Ihre Pionierarbeiten hatten großen Einfluss auf die moderne Körperpsychotherapie der Eltern-/ Säuglings- und Kleinkindtherapie, wie der Bremer Psychologe Thomas Harms in einem Online-Vortrag aufzeigte.
Bindung durch Berührung: Die Schmetterlingsmassage
Die Dipl.-Sozialpädagogin Paula Diederichs referierte am Samstag über die Selbstbestimmung der jungen Mütter nach der Geburt und bezog dabei die psychischen, körperlichen und politischen Ebenen mit ein. Mechthild Deyringer stellte die Schmetterlingsmassage vor. Dies ist ein Berührungskonzept, das auf der Grundlage der Schmetterlingsbabymassage von Eva Reich beruht und auch Elemente der Emotionellen Ersten Hilfe (EEH) nach Thomas Harms beinhaltet.
Bedeutung des Haut-zu-Haut-Kontakts für die Mutter-Kind-Bindung
Am Samstagnachmittag wurde der Frage nachgegangen, inwieweit der Wunsch nach Autonomie und Geborgenheit im stationären Kontext von Frühgeborenen vereinbart werden kann. Der Vortrag von Frau Dr. Marina Marcovich “Frühgeborene zwischen Freiheit und Geborgenheit“ wurde aus datenschutzrechtlichen Bedenken leider nicht online übertragen.
Frau Dr. Eva Heine forscht seit 2018 im klinischen Bereich der Neonatologie, speziell Mutter-Kind-Bindung und Haut-zu-Haut-Kontakt im Kreißsaal. Sie wies auf die Bedeutung des frühen Haut-zu Haut-Kontaktes von Mutter und Kind hin. Der frühe Haut-zu-Haut-Kontakt selbst bei ganz kleinen Frühgeborenen nach Kaiserschnitt gilt als Schutzfaktor für eine gute Mutter-Kind-Interaktion. Frau Dr. Heine zeigte eindrucksvoll Möglichkeiten auf, wie dies praktiziert werden kann.
Herausforderungen der Neonatologie bei der Förderung des Bondings
Obwohl seit Jahrzehnten bekannt ist, wie bedeutsam das frühe Bonding zwischen der Mutter und ihrem frühgeborenen Kind ist, wird das Bonding aufgrund von Sicherheitsbedenken oder organisatorischen Problemen auf den Stationen der Neonatologie nicht explizit gefördert. Die späte Abnabelung und der Haut-zu-Haut-Kontakt unmittelbar nach dem Kaiserschnitt gilt als Basis für einen erfolgreichen Still-Start und als bedeutsame Elemente späterer guter Mutter-Kind-Interaktion.
Selbstbestimmung während Schwangerschaft, Geburt und früher Kindheit
Der Dresdner Gynäkologe Dr. Sven Hildebrand würdigte in der Laudatio an Prof. Dr. Otwin Linderkamp seine Arbeiten und Werke im Bereich der Pränatal- und perinataler Psychologie früh- und reifgeborener Kinder. Am Sonntag gingen Dr. Sven Hildebrandt und der pränatale Psychotherapeut Dr. Ludwig Janus der Frage nach inwieweit Selbstbestimmung innerhalb der Schwangerschaft, Geburt und frühen Kindheit ausgestaltet werden kann und welche Bedeutung und Auswirkungen eine selbstbestimmte Geburt auf Mutter und Kind haben. Die Geburt ist als basales Ereignis zu betrachten und ist eine menschliche Grunderfahrung.
Es ist das ureigenste Potenzial einer Frau ein Kind zur Welt zu bringen und die des Kindes ist es, die Wehen für sich zu nutzen, um sich in die Welt vorzuarbeiten.
Podiumsdiskussion: Diskrepanz zwischen Wunsch und Wirklichkeit
Die Potenziale von Mutter und Kind können nur in einem sicheren Raum wirksam werden. Die (vor-) geburtlichen Entwicklungsbedingungen sind entscheidend darüber wie das Kind sich entwickelt und wie es seine inter- und intrapsychische Welt wahrnimmt. Die Online-Jahrestagung endete am Sonntagvormittag mit einer Podiumsdiskussion zum aktuellen Stand der Selbstbestimmung rund um Schwangerschaft, Geburt und frühen Kindheit, in der noch einmal aufgezeigt worden ist, wie groß teilweise die Diskrepanz zwischen Wunsch und Wirklichkeit ist.
Quelle
Selbstbestimmung rund um Schwangerschaft, Geburt und frühe Kindheit – Zwischen Wunsch und Wirklichkeit, ISPPM, Programm der Tagung
Links zum Thema
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