Sind Kleinkinder kompetente Wesen - Foto © privatVon Geburt an unterscheiden sich Kinder durch ihr angeborenes Temperament. Einige sind eher zurückhaltend, ängstlich, andere offen und neugierig. Für Eltern ist es nicht immer leicht herauszufinden, welches Temperament, welche Vorlieben ihr Kind mit auf die Welt bringt.

Kinder selbst sind Naturtalente, wenn es darum geht zu überleben; sie passen sich den Umweltbedingungen und den Herausforderungen an und sie verarbeiten die Eindrücke ihres Alltagserlebens auf eine einzigartige Art. Dabei treibt sie ihre Energie an, ihre Kompetenzen zu erweitern und zu vertiefen.

Kinder wollen die Dinge verstehen
und in eine Beziehung mit sich bringen

Durch ihre immer wiederkehrenden Versuche wächst das Verständnis für Gesetzmäßigkeiten, Regeln zu verstehen und die Gewissheit, dass morgen noch alles so ist, wie es heute erscheint. Das beruhigt und gibt Sicherheit.

Das alltägliche Erleben in der Familie und außerhalb wie in der Krippe äußern Kinder im Zusammensein mit dem Erwachsenen jedoch auf ganz unterschiedlicher Weise: im Spiel, in Bildern, in Geschichten und Gespräche. Je besser Mütter und Väter, aber auch Erzieher:innen und Lehrer:innen das Kind kennen und seine individuelle Kompetenz anerkennen, desto weniger Vermutungen müssen sie anstellen, um dem Kind helfen zu können, wenn die Wahrnehmungen und das Erlebte zu viel für das Kind werden.

Dass selbst ein Kleinkind kompetent ist und am besten weiß, was es braucht, beschreibt Ursula Stenger, Professorin für Erziehungswissenschaft, wie folgt:

Der empörte Ausruf, eines der am frühesten eroberten und am häufigsten gebrauchten Worte: ’selber‘ oder ‚(a)lleine‘, bekräftigen das unbändige Verlangen, selbst Protagonist seines Tuns und Versuchens zu sein. Es bedeutet: Ich will selbst herausfinden, wie es sich anfühlt, eine Treppe emporzuklimmen und dabei größer und größer zu werden. [1]

Was wäre, wenn wir die Kompetenz des Kindes von Anfang an anerkennen?

Dazu hat der Diplom-Pädagoge und Autor, Udo Baer, ein paar Beispiele in einer Online-Publikation: Kinderwürde in Aktion – Beziehungsfokussierte kreative Therapie mit Kindern und Jugendlichen [2] zusammengetragen und betont: „Viele der Kinder, die ihre Wahrnehmungen und ihr Erleben in Worten ausdrücken können, werden nicht verstanden oder auf sie wird nicht gehört.“ Ein Beispiel:

Ein zehnjähriges Kind malt ein Bild. Über 80% der Oberfläche des Bildes ist schwarz. Die Therapeutin vermutet, dass das Kind in seinem Bild seine Traurigkeit über die vor zwei Monaten verstorbene Großmutter zeigt. Sie fragt das Kind: „Bist du traurig?“ Das Kind schaut erstaunt und antwortet: „Nein!“. Die Therapeutin zeigt auf die dunkle Fläche und fragt die Zehnjährige: „Und was ist das denn?“ Das Kind antwortet: „Ich schlafe. Das Bunte sind meine Puppen in meinem Bett.“

„An diesem und ähnlichen Szenen wird sehr deutlich, dass wir keine Bilder deuten sollten“, sagt Udo Baer. „Wir ordnen Farben keinen bestimmten Qualitäten des Erlebens oder Gefühlen zu. Die Kompetenz der Kinder und Jugendlichen besagt, dass nur die Kinder selbst wissen, was wie in diesem Fall Schwarz für sie bedeutet.[3] Bei anderen Kindern mag Schwarz für Traurigkeit stehen. Vielleicht sogar bei ca. 90 %. Doch eine Therapeutin oder ein Therapeut weiß nie, ob das jeweilige Kind, mit dem gearbeitet wird, zu den 90 % oder zu den 10 % gehört. Klient:innen-Kompetenz zu achten, würdigt die Kinder und Jugendlichen.“ Ein anderes Beispiel:

Der dreijährige Anton spielt gerne mit Monstern. Die Monsterfiguren hat er von seinem Bruder geliehen. Drei herrlich wüst aussehende Monster. Er nimmt sich eins. Der Therapeut spielt mit. Anton ist ein großer Kämpfer. Sein Monster wirkt aggressiv und kämpft gegen die anderen Monster, vor allem gegen das des Therapeuten. Der Therapeut hatte vermutet, dass Anton in dem Spiel seine Aggressivität auslebt und war neugierig, wogegen sie sich wendet. Er vermutete, dass Anton sich von irgendwelchen Lebensumständen bedroht fühlte. Vielleicht von seinem großen Bruder, mit dem er oft aneinandergeriet und den er vermisste, seitdem dieser die Schule besuchte. Doch im Spiel entwickelte sich ein spannender Prozess. Anton kämpfte mit seinem Monster vor allem gegen das dritte Monster und versuchte, das Monster des Therapeuten zu schützen. Der Therapeut fragte: „Verteidigst du mich?“ Anton rief: „Ja. Gegen die Bösen!“ So ging es weiter.

Der Therapeut fühlte sich in einer Vaterrolle und nahm die Übertragung an. Er kämpfte mit seinem Monster nun gemeinsam mit dem von Anton gegen die Bösen und zeigte Anton, dass er sich auch selbst verteidigen konnte und wollte. Im Familiengespräch stellte sich später heraus, dass sich der Vater von Anton an seinem Arbeitsplatz Sorgen machte. Er hatte dort große Probleme mit einem Kollegen und hatte davon in der Familie erzählt und seine Befürchtungen geäußert, dass der andere Kollege ihn „fertigmachen“ wolle. Die Eltern hatten vermutet, dass Anton davon nichts versteht oder „nichts mitbekommt“. Anton hatte keine Einzelheiten verstanden, aber, weil er seinen Vater liebte, dessen Sorgen und das Gefühl, bedroht zu sein, gespürt. Im Kampf gegen das bedrohliche Monster versuchte Anton, seinen Papa zu schützen.

Anmerkung der Redaktion fürKinder: Kleine Kinder leben im Moment des Geschehens. Um zu verarbeiten, was um sie herum geschieht, erschaffen sie sich mit Hilfe der Fantasie eigene Zusammenhänge. Einige Kinder haben unsichtbare Freunde, wie z. B. im Buch von Janosch Hannes Strohkopp und der unsichtbare Indianer. Andere wie Anton, der scheinbar eine Vorliebe für Monster hat, rückt mit Spielfiguren seine innere Welt wieder zurecht, um sich sicher und geborgen zu fühlen. Die Sorgen des Vaters mögen hier ein Beispiel geben, doch bis ins Schulalter nimmt die Bewältigung des Nichtverstehens von größeren Zusammenhängen mit Hilfe der Fantasie und des Spiels eine zentrale Rolle ein.

Schließlich noch ein skurril klingendes Beispiel:

Eine alleinerziehende Mutter macht sich Sorgen um ihre Tochter Sara. Sara ist sieben Jahre alt, redet wenig und taucht immer mehr in Ängsten ab. Die Mutter geht mit Sara zu einem Psychiater, um Hilfe zu suchen. Dieser befragte im Beisein der Mutter Sara und stellte unter anderem die Frage, ob Sara Stimmen hört. Sara nickt. Der Psychiater diagnostiziert eine kindliche Schizophrenie und empfiehlt der Mutter, Sara in eine Kinder- und Jugendpsychiatrie zu geben. Die Mutter ist erschrocken und fragt Sara auf dem Rückweg: „Stimmt es denn, dass du Stimmen hörst?“ Sara nickt und sagt: „Ja. Das Fenster war offen. Und ich habe die Stimmen von den Vögeln gehört.“ …

Wir müssen Kinder fragen, fragen, fragen.

„Die Kompetenz der Kinder zu achten ist wesentlich für jede Diagnostik. Deswegen müssen wir Kinder beobachten und versuchen, ihr Verhalten nachzuvollziehen und zu verstehen. Und wir müssen Kinder fragen, fragen, fragen“, resümiert Udo Baer. „Nur dann entdecken wir ihre Kompetenz und können sie achten.“

von Redaktion fürKinder

[1] Stenger, Ursula: Grundlagen der Reggio-Pädagogik: Bild vom Kind. In: PÄD Forum Juni 2001, S. 181-186

[2] Online-Publikation: Kinderwürde in Aktion – Beziehungsfokussierte kreative Therapie mit Kindern und Jugendlichen – Ein Lehr- und Praxisbuch, Dr. phil. Udo Baer. Mit Abonnement des Newsletters „KinderWürde“ erhalten Sie die Buchkapitel kostenlos als PDF zugesandt.

[3] Diese Beschreibung gilt für Schulkinder, da Kinder unter 5 Jahre ihre eigenen Bilder nicht erklären oder deuten können. Mehr zu „Kinderzeichnungen und die Entwicklung des Selbsterkennens“ von der Erziehungswissenschaftlerin Dr. Erika Butzmann im Magazin für uns Ausgabe: angenommen

Links zum Thema

„Imaginäre Freunde“ aus unserer Kolumne: Menschen(s)kinder

„Kinderzeichnungen und die Entwicklung des Selbsterkennens“, Erika Butzmann, Magazin für uns, Ausgabe: angenommen

Lernen durch Spielen: Kinder verstehen