„Verlorene“ Kinder in sozialen Brennpunkten
Es gibt viele Hilfsangebote für Familien und Kinder in schwierigen Situationen und dennoch fallen so viele Kinder durch dieses anscheinend so weit gespannte Netz – vor allem, aber nicht nur, in sozialen Brennpunkten.
Eine kritische Analyse und Lösungsansätze
Den folgenden Beitrag in vier Teilen schreibt der Kinderarzt, Dr. Christof Rupieper, der sein gesamtes Berufsleben in einem der krassesten sozialen Brennpunkte in unserem Land, einem Stadtteil von Gelsenkirchen, Kinder behandelt, Eltern berät und um Lösungen für die „verlorenen“ Kinder kämpft – ein „echter Ruhri“, wie er sich selbst nennt.
Er hat erleben müssen, wie sich die Zustände, die Lebensverhältnisse der Kinder, die er behandelte, ständig verschlechterten, wie immer wieder von staatlichen, halbstaatlichen und privaten Initiativen Hilfen organisiert und angeboten wurden – und dann doch scheitern bei dem Versuch, die Familien und die Kinder aus den „abgehängten“ Milieus zu erreichen.
Hier nun beschreibt er am Beispiel einer fiktiven Familie „Mustermann“ die Situation so, wie er sie tagtäglich erlebt. Christof Rupieper versucht die Ursachen für das Scheitern von Hilfsangeboten zu ergründen und kommt zu sehr konkreten Lösungsvorschlägen.
Ein Diskussionsangebot besonders für alle, die engagiert an der Schaffung einer Welt arbeiten, in der Kinder behütet und frei aufwachsen und sich zu ebenso selbstbewussten wie emphatischen Persönlichkeiten entwickeln können.
von Redaktion fürKinder
30 Jahre Kinderarzt in sozialen Brennpunkten: Familien und Kinder ohne Zukunft? „Weiter so!“ ist nicht die Antwort.
Seit 30 Jahren praktiziere ich als Kinderarzt in einem sozialen Brennpunkt und habe dadurch hautnah miterlebt, wie sich der soziale Abstieg der Bevölkerung entwickelt hat. Anhand einer fiktiven Familie werde ich die Problematik beispielhaft darstellen.
Während ich solche Familien vor 30 Jahren ein- bis zweimal im Quartal gesehen habe, sehe ich aktuell zwei bis drei pro Woche.
Es soll nicht der Eindruck entstehen, dass ich die Maßnahmen der vielen Hilfsangebote, wie
schlecht reden will. Die vielfältigen Angebote des Gesundheits- und Jugendamtes, der Kindertagesstätten, ehrenamtlicher privater, kirchlicher und kommunaler Organisationen leisten eine bemerkenswerte Arbeit. Ich freue mich immer, wenn eine Familie mit entsprechender Unterstützung zu mir kommt, weil ich dann sehe, dass in und mit der Familie gearbeitet wird und die Kinder Entwicklungsfortschritte machen, weil sie nicht mehr vor dem iPad bei YouTube verblöden. Leider sehe ich diese Erfolge in meiner Praxis höchstens einmal pro Monat, die „Familie Mustermann“ aber nahezu täglich!
Und das, obwohl sich in den letzten Jahren vieles verbessert hat: Als ich vor knapp 30 Jahren einmal einen Fall schwerer Kindeswohlvernachlässigung im Rahmen häuslicher Gewalt dem Jugendamt meldete, erhielt ich die Antwort: „Wer sind Sie denn?“ Als ich mich als behandelnder Kinderarzt vorstellte, erhielt ich die Antwort: „Ach, Sie sind der Kinderarzt vom hinter‘m Bahnhof. Sie wissen ja, dass Sie damit gegen die Schweigepflicht verstoßen!“
Die Meldung einer Kindeswohlgefährdung nach § 8a SGB VIII mit Weitergabe von persönlichen Daten ist nur nach vorheriger Gefährdungseinschätzung (je nach Einrichtung nach vorheriger verpflichtender Beratung durch eine „insoweit erfahrene Fachkraft“) zulässig.
Wenn ich heute eine Meldung einer Kindeswohlgefährdung nach § 8a SGB VIII per Mail ans Jugendamt sende, erhalte ich innerhalb von zwei Stunden eine schriftliche Rückantwort mit der Information, welcher Sachbearbeiter bzw. Sachbearbeiterin für den „Fall“ zuständig ist.
Da hat sich bis heute viel getan, ist vieles besser geworden. Und dennoch – die Situation hat sich ständig verschlechtert.
Die Probleme in „sozialen Brennpunkten“ scheinen kaum lösbar, aber …
Die Ursachen für die exorbitante Zunahme der Fälle liegen im Kernruhrgebiet in der extrem hohen Arbeitslosigkeit, dem niedrigsten Lohnniveaus und deshalb auch niedrigen Lebenshaltungskosten inklusive niedrigsten Mietspiegel in ganz Deutschland. Der dadurch bedingte Zuzug vieler EU-Bürger aus Osteuropa sowie Überalterung der Gesellschaft durch Abwanderung der gut ausgebildeten jungen Generation trägt zu diesem Phänomen bei – wobei sich andererseits im Ruhrgebiet die größte Hochschuldichte Deutschlands findet.
Mein Arbeitsumfeld unterscheidet sich deutlich von dem in Freiburg oder Pforzheim. Gelsenkirchen ist das sozioökonomische Schlusslicht! Deutschlandweit haben wir die höchste Arbeitslosenzahl, jedes vierte Kind lebt von Sozialhilfe, hier ist der Durchschnittsverdienst am niedrigsten. Und meine Praxis liegt genau in diesem Brennpunkt.
Seit 2015 sind knapp 20.000 Bulgaren und Rumänen wegen der extrem niedrigen Mieten hierher gezogen, bzw. von kriminellen Menschen hierher gelockt worden. Allein 2016 waren plötzlich 1.200 Kinder unter sechs Jahren da. Es gab viel zu wenig Kindergartenplätze und konnten auch gar nicht so schnell gebaut werden, vom notwenigen Personal ganz zu schweigen. Heutzutage gehen diese Kinder ohne Kenntnisse der deutschen Sprache in die Schule. Die Lehrkräfte schicken jetzt die Kinder in die Praxen mit der Bitte um Logopädie, aber das geht nicht, denn das Erlernen der deutschen Sprache ist keine Krankheit.
Der Blick auf die Familie Mustermann und die Grenzen der Hilfsangebote
Schauen wir uns den Lebensweg einer typischen Familie an und betrachten den „Fall“ aus der Sicht der involvierten Institutionen sowie abschließend der betroffenen Personen. Nach dieser Analyse wird deutlich, warum die bisherigen Maßnahmen der Hilfsorganisationen bei belasteten und schwer erreichbaren Eltern und ihren Kindern oft scheitern und wie alternative Herangehensweisen aussehen könnten.

Anna, Tochter der Familie Mustermann, wird 2014 geboren und entwickelte sich bis 2017 altersgemäß wie auch ihr Bruder Benjamin.
Bei der U7a erscheint Anna etwas entwicklungsverzögert und wird zur weiteren Diagnostik weiterverwiesen. Auch Benjamins U7-Untersuchung ist auffällig, es wird Physiotherapie verordnet. Die Mutter wird gefragt, ob sie eine Erklärung für die langsame Entwicklung habe und ob sie mit Anna schon bei der Diagnostik war. Sie verneinte dies, da sie aufgrund ihrer dritten Schwangerschaft mit Celine nicht dazu gekommen sei.
2018 ist die U8-Untersuchung bei Anna hoch auffällig, dieses Mal mit einer deutlichen Sprachentwicklungsverzögerung, weshalb eine weitere Überweisung ausgestellt und Logopädie verordnet wird. Bei der Diagnostik erscheint Anna jedoch nicht, da Celine als Schreikind sehr anstrengend ist.
Auch Celine ist motorisch entwicklungsverzögert und erhält ebenfalls Physiotherapie. Dabei stellte sich heraus, dass die Mutter mit Benjamin die Therapie überhaupt nicht begonnen hat. Benjamin erscheint im Herbst zur Vorsorgeuntersuchung U7a und erhält ein Rezept für Logopädie und eine Empfehlung zur Frühförderung. Einige Monate später zeigt Celine weiterhin Entwicklungsrückstände und erhält Krankengymnastik. Bei einem Gespräch mit der Frühförderstelle wird zufällig bekannt, dass die Mutter die Kinder bisher dort überhaupt noch nicht vorgestellt hat.
Es setzt sich fort, dass alle Kinder bei ihren Vorsorgeuntersuchungen Entwicklungsverzögerungen aufweisen und die Mutter keine Therapien einleitete. Als Grund gibt sie an, dass die Kinder abwechselnd immer krank gewesen seien. Aus einem Bericht der Logopädin geht hervor, dass Anna vier Einheiten erhalten hatte, die Mutter aber danach nicht mehr erschien und auch telefonisch nicht mehr zu erreichen war.
Der Kita „platzte der Kragen“ und meldete Anna der offenen Sprechstunde. Der Kinderarzt meldet das Kind gemäß § 8a beim Jugendamt. Bei der Schuleingangsuntersuchung ist die Amtsärztin entsetzt und empfiehlt eine sofortige Vorstellung von Anna in einem Sozialpädiatrischen Zentrum (SPZ), sowie die Verordnung von Logopädie und Ergotherapie.
Die Familie Mustermann hat viele Gesichter und spiegelt eine Vielzahl von Situationen wider:
- Eine Mutter, die die Auffälligkeiten ihrer Kinder nicht ernst nimmt und als unbedeutend abtut („Das ist doch normal, ich war als Kind genauso …“)
- Ein alleinerziehender Vater von drei Kindern, arbeitslos, depressiv.
- Eine arabischstämmige Mutter, die eine andere Vorstellung von Erziehung hat („Das sind doch Kinder.“).
- Südosteuropäische Zuwanderer, die keine Kenntnisse über Kindertagesstätten oder Förderstellen haben.
- Großfamilien, die die Notwendigkeit von Förderung nicht erkennen, insbesondere im Bereich der Sprache, oft in zweisprachigen Roma- und Spanisch-Gemeinschaften mit vielen Cousins und Cousinen.
- Sprachliche Barrieren, wie bei einer türkischsprachigen Minderheit in einer bulgarischen Enklave oder bei kurdischen Familien
- Mutter mit Legasthenie oder partieller Legasthenie, deren Muttersprache kyrillisch oder arabisch ist.
- Mütter, deren Familien seit drei Generationen Sozialhilfe beziehen und die nichts Anderes kennt.
- Traditionell muslimische Familien, in denen Eingriffe in das Familienleben problematisch sind.
- Eine schwarz-afrikanische Mutter mit gebrochenen Englischkenntnissen, die darauf vertraut, dass ältere Geschwister sich um die jüngeren kümmern: „Bin froh, dass große Kind sich um kleine kümmert.“ (komplett andere Erziehungsstile)
- Eine taubstumme Mutter, die selten mit Gebärdendolmetschern erscheint.
- …
Die beteiligten Institutionen und Personen
In der Kinderarztpraxis
Der Kinderarzt oder die Kinderärztin hat nur sehr unregelmäßig Kontakt zu den Kindern. Während der Herbst- und Wintermonate, wenn Infektionen häufig auftreten, kommt die Familie häufiger in die Praxis. Zu diesen Zeiten ist jedoch oft keine Gelegenheit für ausführliche Gespräche oder Rückfragen zu den verordneten Therapien. Bei den Vorsorgeuntersuchungen wird die Mutter regelmäßig ermahnt und es werden Unterstützungsmöglichkeiten angeboten, wie beispielsweise die Einleitung einer sozialpädagogischen Familienhilfe beim Jugendamt, eine Empfehlung für Frühförderung sowie die Verordnung von Ergo- und Logopädie. Die Mutter verspricht stets, sich sofort darum zu kümmern, doch dann passiert nichts. Infolgedessen wird mit einer Meldung an die Kinderschutzstelle gedroht.
In der Kindertagesstätte
Die Erzieherinnen sehen die Kinder täglich, oft in schmutziger und abgetragener Kleidung, aber auch immer wieder mit zwei verschiedenen Socken. Die Kinder sind übergewichtig und haben deutlich sichtbare Anzeichen von Karies. Häufig werden die Kinder von ihrer Mutter zu spät in den Kindergarten gebracht oder abgeholt, was wiederholt zu Konflikten mit dem Personal führt.
Halbjährlich werden verschiedene Entwicklungsfortschritte dokumentiert, darunter ein allgemeiner Fragebogen, ein Fragebogen der Heilpädagogen über die Meilensteine der Entwicklung sowie ein Sprachentwicklungsbogen. In allen Bereichen finden sich in der Begutachtung deutliche Entwicklungsdefizite. Trotz des Engagements des F.I.T. Teams (Frühförderung in Tagesstätten) und ihrer regelmäßigen Berichte in Form eines standardisierten Tests über die stark verzögerte Entwicklung des Kindes, sind die Erzieherinnen frustriert darüber, dass trotz des hohen Arbeitsaufwandes in einer übervollen Kita mit Personalmangel und fehlender Deutschkenntnisse vieler Kinder, keine Therapien angeordnet werden.
Die Mutter der Familie Mustermann versichert den Erzieherinnen stets, dass die Vorsorgeuntersuchungen unauffällig verlaufen seien und der Kinderarzt oder die Kinderärztin keine Notwendigkeit für Therapien sieht. Das Personal ist verärgert darüber, dass der Kinderarzt „das“ nicht erkennt. Schließlich beschließt die Kindertagesstätte, das Kind dem Kinder- und Jugendärztlichen Dienst am Gesundheitsamt zur „offenen Sprechstunde“ vorzustellen.
Die „0ffene Sprechstunde“ am Gesundheitsamt
Da einige Familien nicht zu den Vorsorgeuntersuchungen gehen, obwohl das vom Jugendamt kontrolliert wird, oder weil in einigen Arztpraxen nicht auf die mentale Entwicklung der Kinder geschaut wird oder keine Therapien verordnet werden, wurde für gesetzlich Versicherte eine „offene Sprechstunde“ eingerichtet. Dort können Kinder ohne Kenntnis der Eltern laut § 8 SGB VIII von den Kindertagesstätten vorgestellt und untersucht werden. Nach der Untersuchung werden die Kinder zum Kinderarzt geschickt, da der öffentliche Gesundheitsdienst keine Therapien einleitet. Sofern erfragbar, wird vorher der behandelnde Kinderarzt bzw. Ärztin angeschrieben und nachgefragt, ob das Kind bei der letzten Vorsorge war und welche Maßnahmen empfohlen wurde. War das Kind bei einem Kinderarzt, ist die Zuständigkeit nicht mehr beim Gesundheitsamt. Das Kind wird dort nicht untersucht. – Die Akte wird geschlossen.
Das Jugendamt
Wie eingangs erwähnt, gibt es heute eine Anlaufstelle beim Jugendamt als Ansprechpartner bei dem Verdacht auf Kindeswohlgefährdung und -vernachlässigung. Allerdings wird auch dort auf Grund von Personalknappheit eine Selektierung vorgenommen. Es gab Zeiten, da war nur jede dritte Stelle besetzt, so dass nur die „härtesten Fälle“ kurzfristig eine Sozialpädagogische Familienhilfe bekamen. Ein weiteres Dilemma des Amtes ist auch der Tatsache geschuldet, dass im Einzelfall ein gerichtlicher Beschluss erwirkt werden muss. Richter sind oft überfordert, die familiäre Situation angemessen zu beurteilen, und orientieren sich stattdessen an harten Fakten wie dem Gewicht und der Größe des Kindes oder der Einhaltung von Vorsorgeuntersuchungen und Impfungen gemäß den Vorgaben der Ständigen Impfkommission (STIKO).
Solange diese Kriterien erfüllt sind, wird das Vorliegen einer akuten Gefährdung für das Kind verneint und angestrebte Zwangsmaßnahmen abgelehnt. Diese Zurückhaltung beim Einleiten von Familienhilfe und die vermeintliche „Tatenlosigkeit“ der Gerichte führen zu einem negativen Ruf des Amtes und entmutigen die Mitarbeiter. Sie sehen sich zunehmend in der Rolle der bloßen Verwalter des sozialen Notstands, ohne wirkliche Hilfe leisten zu können.
Die Einschulungsuntersuchung
Vor dem Schuleintritt untersuchen Ärzte des Gesundheitsamtes jedes Kind auf Schulfähigkeit. Weniger als die Hälfte der Eltern bringt das Vorsorgeheft zu dieser Untersuchung mit. Deshalb herrscht blankes Entsetzen, warum der Kinderarzt die stark verzögerte Entwicklung des Kindes nicht gesehen hat. Die Familien werden mit einem Schreiben zurück zum Kinderarzt geschickt, der nun sofort Frühförderung, Logopädie und Ergotherapie verordnen soll.
Da diese Untersuchung bei aufgeregten Müttern in einer fremden Umgebung durch fremde Menschen durchgeführt wird, machen nicht alle Kinder mit, so dass auch Kinder zum Kinderarzt mit Therapieempfehlungen geschickt werden, deren Entwicklung unauffällig ist.
Warum wird Frau Mustermann von den Hilfen nicht umfassend erreicht?
Versetzen wir uns in die Situation der Mutter „Mustermann“. Warum verhält sie sich so? Die Unterschiede in ihrer Sozialisation im Vergleich zu unserer eigenen liefert eine Erklärung dafür.
- An ihren eigenen Vater kann sie sich kaum erinnern, und ihre Mutter war zwar physisch anwesend, kümmerte sich aber nur um das Allernötigste.
- Sie kann sich nicht erinnern, dass ihre Mutter sie jemals in den Arm genommen oder sie gelobt hat, eher kamen abfällige Bemerkungen.
- Auch in der Schule war das so. Seitens der Lehrer:innen fielen oft abfällige Bemerkungen wegen ihrer oft schlechten Leistungen und von den Mitschülerinnen wurde sie oft gehänselt.
- Mit 13 wurde sie in einer Parfümerie beim Stehlen eines Lippenstiftes erwischt, was die Lehrerin nur zu der Bemerkung vor der Klasse veranlasste: „Die ist sogar zu blöd zum Klauen!“.
- Als sie einmal ein paar Jahre später geschminkt in der Schule erschien, wurde sie von der ganzen Klasse ausgelacht: „Wie sieht die denn aus.“
- Partnerschaften waren nur von kurzer Dauer und die erste längere Beziehung beendete ihr Partner sofort als er erfuhr, dass sie schwanger war. Ähnlich erging es ihr bei den beiden nachfolgenden Schwangerschaften.
- Beruflich schlug sie sich meistens nur mit kleinen Gelegenheitsjobs durch, wobei sie oft nur halbtags arbeitete. Seit einigen Jahren erhält sie nur noch Sozialleistungen.
- Diese Sprüche hört Frau Mustermann immer wieder: „Riesiger Flachbildschirm, Tüte Chips und Kinder machen, das kann sie, aber sonst nichts.“ oder „Verlotterte ungezogene Bande, lebt auf unsere Kosten, sollte lieber arbeiten gehen, von mir würde die nichts bekommen.“.
Zwischen Fernsehen, Familienzeit und Selbstzweifeln
Ja, Frau Mustermann hat den großen Flachbildschirm, den sie über zwei Jahre abstottern muss. Sie meint, dass Ihre Kinder damit bei YouTube lernen können. Abends kuscheln sie alle gemeinsam mit einer Tüte Chips und schauen sich Unterhaltungsfilme an, während sie selbst vormittags in den Seifenopern nachsieht, wie viele dumme Menschen es doch gibt.
Die Stunden mit den Kindern vor dem Fernsehen genießt sie. Sie ist glücklich mit Ihren Kindern und fühlt sich als Mutter richtig gut, wenn sie ihren Kindern nah ist, sie umarmt. Sie hat Angst davor, erneut als unfähig angesehen zu werden und sich dumme Sprüche anhören zu müssen, wenn sie zu den Therapien gehen würde oder eine Familienhilfe ins Haus käme. Es fehlt ihr auch oft einfach die Kraft, sich zu solchen Maßnahmen aufzuraffen.
Vielfältige Ursachen der Kindeswohlvernachlässigung: Einblick in unterschiedliche Familienstrukturen und -kulturen
Wie bereits erwähnt, gibt es viele unterschiedliche Ursachen für die Vernachlässigung von Kindern. Ich habe anhand eines Beispiels einige dieser Ursachen aufgezeigt und möchte nun kurz weitere skizzieren. Neben dieser oben beschrieben Mutter gibt es Familien aus völlig anderen Kulturkreisen oder anderen Familienstrukturen.
- Familien, insbesondere aus dem südosteuropäischen Raum, die als Armutsmigranten hierherkommen. Sie kennen aus ihrem Heimatland nur staatliche Repressalien und hegen daher eine tiefe Ablehnung gegen alle staatlichen Maßnahmen.
- Familien aus sehr armen Regionen, die keine Therapien oder Frühfördermaßnahmen kennen. Sie finden ihr in unseren Augen deutlich entwicklungsverzögertes Kind als völlig normal.
- Arabische Familien, selbst Akademiker, die es als eine bodenlose Unverschämt empfinden, dass der Kinderarzt sich in ihre Familienangelegenheiten einmischt.
- Eine afrikanische Familie, die auf das zweite Kind wartet, damit dieses sich, um das hochproblematische, verhaltensauffällige erste Kind kümmert.
- Familien, die nicht mehr zum Arzt gehen, weil dieser die erwünschte Sprachtherapie zur Erlernung der deutschen Sprache nicht verschreibt.
Die Grenzen früher Hilfen: Herausforderungen und Dilemmata in der Unterstützung von Familien
Vorab möchte ich noch einmal klarstellen, dass viele Maßnahmen in unserem System der frühen Hilfen durchaus Erfolge zeigen und auf allen Ebenen mit großem Herzblut und Engagement umgesetzt werden. Mein Anliegen ist es nicht, etwas oder jemanden schlechtzureden, sondern vielmehr aufzuzeigen, wo diese Maßnahmen nicht greifen und warum das der Fall ist.
Wir, die „Helfer“, sind in einer gut bürgerlichen Umgebung sozialisiert worden. In unserer Entwicklung war ein klarer, offener und respektvoller Umgang selbstverständlich. Unsere Fähigkeiten wurden gefördert, wir wurden bei jedem Erfolg belohnt, und wir sind stolz auf uns, auf unsere Arbeit, unsere Familie und Freunde und das, was wir erreicht haben.
Frau Mustermann, die Mutter in diesem Beispiel, hat aber einen völlig anderen Hintergrund. Diese Mutter hat ihre Selbstachtung und ihren Stolz verloren. Egal, was sie bisher gemacht hat, nie hat sie Respekt, Lob oder Zuwendung erfahren. Wie alle anderen Mütter liebt sie ihre Kinder und möchte ihnen alles geben. Vor allem möchte sie sie vor den schlimmen Erfahrungen bewahren, die sie selbst gemacht hat. Der große Fernseher ist ihr ganzer Stolz, auch wenn alle anderen darüber lachen. Sie kann ihren Kindern etwas bieten!
Was also ist das Dilemma?
Eltern haben Rechte! Wenn sie Therapien nicht für notwendig erachten, dann ist es schlichtweg ihre Sache. Aber aus (Eltern-) Rechten entstehen auch (Eltern-) Pflichten! Vernachlässigung ist Kindeswohlgefährdung und das ist eine Verletzung der Fürsorgepflicht, somit ein Straftatbestand!
Was sind die Herausforderungen?
Warum scheitern viele der als „richtig“ angesehenen Hilfsangebote der Gesellschaft, die als Ganzes (wissenschaftlich gestützt) immer „klüger“ geworden ist und mehr noch: deutlich wohlhabender?
Aber: wer ist das: „die Gesellschaft“, „die Ärzte“, „die Journalisten“?
Ja, im arithmetischen Mittel ist die Gesellschaft klüger und wohlhabender geworden, aber gleichzeitig wird die Spannweite zwischen Armen und Reichen jedes Jahr größer!
Und irgendwann merken „die da unten“, dass sie nicht mithalten können. Die Anforderungen werden in den Berufen immer mehr, einfache Tätigkeiten immer weniger. Früher gab es Berufe wie Dachdeckerhelfer. Die schleppten jeden Tag die Dachpfannen auf das Dach, heute macht das schneller und billiger ein Kran. Die Zahl der Menschen, die nur solche einfachen Tätigkeiten ausführen können, ist sicher konstant, die Zahl der Berufe für diese Menschen hat aber stetig abgenommen.
Diese Menschen merken irgendwann einmal, dass sie sich noch so anstrengen können, aus der Armutsfalle kommen sie nicht mehr heraus. Parallel dazu gaukelt Ihnen die virtuelle Realität (Fernsehserien, Internet, Soziale Medien) ein tolles sorgenfreies Leben vor. Man ist immer und überall „gut drauf“, nicht aber im eigenen Leben. Das führt dazu, dass diese Menschen zunehmend frustriert werden und ihre Selbstachtung und ihren Stolz verlieren.
Stillstände und Fehlentwicklungen
Unsere Gesellschaft erlebt einen massiven Umbruch auf allen Ebenen. Jedoch die Verwaltungsstrukturen wurden seit „Kaisers Zeiten“ kaum verändert oder angepasst. Es gibt ein klar umgrenztes Gesundheitswesen mit spezifischen Aufgaben sowie ein Sozialwesen mit eigenen, separaten Strukturen und Aufgabenbereichen. In den letzten Jahren wurden jedoch vermehrt betriebswirtschaftliche Techniken eingeführt, anstatt sinnvolle Kooperationen zu fördern, insbesondere im Bereich der Kinderversorgung. Dies hat zu einem Anstieg von Bürokratie und Dokumentationsaufwand sowohl im medizinischen als auch im pädagogischen Bereich geführt.
- Ärzte sind verpflichtet, sämtliche Tätigkeiten nicht nur akkurat zu dokumentieren, sondern auch gemäß der International Classification of Diseases, 10. Revision (ICD-10), korrekt zu klassifizieren. Allein für einen grippalen Infekt stehen 15 verschiedene ICD-Codes zur Verfügung! Im nächsten Jahr soll die elfte Überarbeitung erfolgen, bei der die Krankheitsbilder noch genauer klassifiziert werden sollen.
- Kindertagesstätten müssen halbjährlich mehrere Beurteilungsbögen ausfüllen. Mir wurde bereits ein 25-seitiger Bericht über den Entwicklungsstand eines dreijährigen Kindes bei der Vorsorge vorgelegt. Das Erstellen solcher Berichte führt dazu, dass weniger Zeit für die eigentliche Arbeit mit und an den Kindern bleibt. Da immer mehr beschrieben und dokumentiert wird, verhindert dies gleichzeitig eine intensivere Zusammenarbeit der einzelnen Institutionen.
Die Systeme müssen entbürokratisiert und besser koordiniert werden.
- Ähnlich das Problem im „Gesundheitsmanagement“, wo nur auf Zahlen geschaut wird, von dem Leben vor Ort aber nur wenig Ahnung vorhanden ist! Die „Manager“ entwickeln Konzepte, die nicht immer überall – vor allem in der sozialen Unterschicht – nicht funktionieren!
Beispiel: In der Stadt Essen gibt es eine „ausreichende“ Anzahl Psychotherapeuten für Kinder. Im reichen Süden kommen auf einen Therapieplatz 950 Kinder, überqueren Sie die A40 sind sie im Essener Norden, einem Brennpunkt im Ruhrgebiet. Da ist das Verhältnis anders. Ein Therapeut bzw. eine Therapeutin betreut dort 11.500 Kinder! Die frisch gebackene Gesundheitsmanagerin sieht die für die Bevölkerungszahl ausreichende Gesamtzahl der Therapeuten auf dem Papier, lehnt sich zurück und ist zufrieden.
- Und schließlich: die „Versäulung der Systeme“. Ich nenne es immer Schnittstellenproblematik.
Es gibt diverse Zuständigkeiten und Rechtsgrundlagen, die alle einen zeitlichen Rahmen stecken. Wenn dann (wie fast üblich) keine sinnvolle und zügige Übergabe bzw. Zusammenarbeit erfolgt, ist das Scheitern der Familie vorprogrammiert.
Beispiel: Die Familienhebamme des Gesundheitsamtes betreut eine Junkie-Mutter. Sie darf aber nur bis zum ersten Geburtstag des Kindes die Betreuung übernehmen, dann müsste eigentlich das Jugendamt eine Familienhilfe stellen. Selbst wenn das zeitnah möglich ist, ist so eine Maßnahme auch zeitlich begrenzt. In diesem Fall kann sich die Frau an den „Nienhof“ wenden. Eine Organisation, die psychisch kranke Eltern und Kinder betreut. Hier in Gelsenkirchen gibt es am Jugendamt viel zu wenig Personal. Ist allen dort die Adresse des „Nienhof“ oder anderer Hilfseinrichtungen bekannt? Und wenn ja, erscheint dort die Mutter da ohne weiteres und aus eigenem Antrieb? Probleme über Probleme. Fragen über Fragen!
Lösungsansätze
Eine rasche Lösung großer globaler und kommunaler Probleme vor Ort ist natürlich nicht realisierbar, und auch mittelfristig werden diese Probleme nicht gelöst werden. Die Lösung erfordert viel Zeit.
Mehr vom Gleichen?
Eine häufige Forderung lautet daher: Wir brauchen mehr Ärzte und Therapeuten! Doch brauchen wir diese wirklich? Im Jahr 1994 gab es in ganz Gelsenkirchen vier Logopädische Praxen, während es 2020 bereits 18 waren, wobei jede mindestens zwei Angestellte hatte. Trotz dieser Zunahme an Logopäden zeigen immer noch 25% der Kinder bei der aktuellen Schuleingangsuntersuchung Sprachauffälligkeiten!
Wenn wir die Anzahl der Kinderärzte und -innen um das 9-fache erhöhen würden – also statt der aktuellen 20 insgesamt 180 Ärzte und -innen –, würde sich die Situation wirklich entspannen?
Sicherlich nicht, denn die sozialen Herausforderungen lassen sich eben nicht allein durch medizinische Maßnahmen bewältigen.
Wie können vor Ort dennoch Veränderungen herbeigeführt und die Zusammenarbeit verbessert werden?
Die Ursache, warum viele gute Projekte nur begrenzt funktionieren, ist ganz einfach die, dass im gegenwärtigen System die Zielgruppe aktiv von sich aus auf die Helfersysteme zukommen muss. Ein Projekt dagegen müsste aufsuchend arbeiten und nachhaken, wenn Hilfeleistungen nicht angenommen werden.
In Herne gibt es das Programm die „Soforthilfe-Herne!“, an das sich jeder wenden kann, der in einer Familie Probleme sieht. Die Mitarbeiter dieses Programms verfolgen die gemeldeten Informationen und prüfen, wie sie der betroffenen Familie helfen können.
Auch in Gelsenkirchen gibt es die „offene Sprechstunde“ des Kinder- und Jugendärztlichen Dienstes. Die „offene Sprechstunde“ ist eine Einrichtung des Gesundheitsamtes. Jede Kita kann dort Kinder vorstellen, die dann untersucht werden. Mit einem Schreiben werden die Eltern zum Augen-, HNO und Kinderarzt geschickt. Dieser soll dann Ergo- und Logotherapie aufschreiben – was dann aber oft genug nicht umgesetzt wird. Eine Rückmeldung erfolgt aber nicht.
Abhilfe könnte eine Koordinierungs- bzw. Kontrollstelle schaffen. Meine Einschätzung warum sich viele Stellen gegen so eine Koordinierungsstelle wehren, erklärt das arabische Sprichwort:
„Wenn man wirklich etwas will, findet man immer einen Weg, wenn man etwas wirklich nicht will, findet man immer eine Ausrede.“
Es wird immer eine kleine Gruppe Menschen geben, die sich nicht helfen lassen wollen oder können, die durch das Netz fallen. Daran kann man nichts ändern. Aber von den vielen, die in den sozialen Brennpunkten leben und sich aufgegeben haben, kann man deutlich mehr in die Gesellschaft zurückholen, wenn man auf sie zugeht auch mit Respekt vor ihrem „Anders-Sein“, wenn man sie „anschubst“, auch durch „Kontrolle“ und „aktive Ansprache“, wenn man ihnen wieder Stolz und Selbstachtung vermittelt.
Einige Beispiele:
- Vermeidung von Doppeluntersuchungen, insbesondere im Bereich der kindlichen Entwicklung: Wenn ein Kind bei den Vorsorgeuntersuchungen auffällig ist, händige ich den Eltern einen Fragebogen aus, den zwei Erzieherinnen ausfüllen sollen. Es sind lediglich 10 Kreuze zu setzen, z. B. in Bezug auf die Feinmotorik:+2 für ausgezeichnet,
+1 für gut/überdurchschnittlich,
0 für normal/altersentsprechend,
-1 für „ist nicht sein Ding“ / nicht ganz altersentsprechend / bedarf Unterstützung,
-2 für deutlicher Entwicklungsrückstand. Wenn ein Kind in der Kita alle Items zwischen 0 und +2 erfüllt, müssen die Erzieherinnen keine weiteren zeitaufwendigen Berichte anfertigen, und der Arzt muss keine ausführliche Diagnostik durchführen, wenn ein Kind mit einem solchen Bogen aus der Kita kommt. Dies würde allen Beteiligten Zeit sparen, die sinnvoll für Kinder genutzt werden könnte, die intensiver gefördert werden müssen.
- Nachverfolgung, ob eine verordnete Therapie wirklich eingehalten wird: Es müsste eine Stelle eingerichtet werden, an die die Empfehlungen für Frühförderung, Ergotherapie und Logopädie gemeldet werden, wenn der Arzt den Verdacht hat, dass das Rezept nicht eingelöst wird. Diese Stelle könnte die Eltern nach einiger Zeit kontaktieren und Hilfe anbieten. Im letzten Jahr habe ich 16 Mal Motopädie/REHASport verordnet. Davon sind 12 nicht bei der Einrichtung erschienen, zwei haben abgebrochen (einer nach dem ersten und einer nach dem vierten Besuch).
- Einsatz von Logopäden in Kindertagesstätten: Statt Einzeltherapien zu bezahlen, sollten die Krankenkassen lieber angestellte Logopäden in den Kindertagesstätten finanzieren, damit dort besonders die Kinder mit Problemen besser erreicht werden können. Sprache lernt man am besten durch Kommunikation in und mit der Gruppe.
- Wenn in Brennpunkt-Kitas zusätzlich eine Logopädin, Ergotherapeutin oder Physiotherapeutin bzw. eine in diesen Bereichen ausgebildete Fachkraft arbeiten würde, wäre das sehr niederschwellig und kostengünstig wirksame Prophylaxe. Als Kostenträger müssen die Krankenkassen mit ins Boot genommen werden. Diese profitieren mittel- bis langfristig davon am meisten! Weniger Therapieverordnungen (LOGO, ERGO, KG) und vor allem langfristig gesündere Kinder! Es könnte so einfach sein, aber die Verantwortlichen drehen sich nur dezent weg.
Die vorgeschlagenen Maßnahmen erscheinen äußerst einfach umsetzbar. Sie sind effizient, personal- und kostensparend. Dennoch bleibt so vieles einfach „beim Alten.“
Vor allem dem Selbstwertgefühl aufhelfen
Abschließend möchte ich noch eine weitere Empfehlung geben: Loben, Loben, Loben.
Diese nicht oder schwer erreichbaren Eltern können manchmal nerven und stoßen bei uns auf völliges Unverständnis, aber ihr Verhalten ist oft erklärbar, wie oben erläutert. Es fällt jedem schwer, bei dieser Klientel freundlich zu bleiben, besonders wenn es sich um NWPs handelt (Nicht-wartezimmerfähige Patienten). Loben Sie Kleinigkeiten, die für uns selbstverständlich sind, wie z. B. die Kleidung des Kindes oder ein Einfaches „Schön, dass Du da bist!“ Lob macht die Mütter stolz, zeigt diesen Menschen Respekt und baut so Vertrauen auf.
In den 30 Jahren meiner Praxiserfahrung habe ich immer wieder erlebt, dass Mütter sich später bei mir bedankten, nachdem sie ihr psychisches Tief überwunden und Hilfe angenommen hatten. „Sie waren der einzige, der an mich geglaubt hat“, sagten sie dann. Natürlich habe ich das nicht immer geglaubt, aber gehofft, dass es wahr war.
von Christof Rupieper