Manchmal sind im komplexen Gefüge von Familie gerade die Kinder, um die man sich am wenigsten Sorgen macht, diejenigen, die besonders belastet sind, wie uns heute die 16-jährige Lisa zeigt.
Bittet man Lisas Eltern, von ihrer Tochter zu erzählen, breitet sich ein Strahlen in ihrem Gesicht aus. „Lisa ist eine bemerkenswerte Teenagerin“, sagen sie dann. Und damit haben sie Recht. Die 16-Jährige scheint ganz besonders reif für ihr Alter zu sein, zeigt keinerlei Interesse daran ihre Grenzen auszutesten wie Gleichaltrige und hält sich von jedem Ärger fern.
Sie unterstützt ihre Mutter tatkräftig im Haushalt und hat eine liebevolle Beziehung zu ihrem jüngeren Bruder Max, der sonst nur wenige Menschen so nah an sich heranlässt. Durch ihre freundliche Art kommt Lisa generell mit jedem gut zurecht, weshalb sie sich großer Beliebtheit bei Gleichaltrigen erfreut.
Auch um ihre schulische Leistung müssen sich Lisas Eltern nie sorgen. Die Teenagerin besucht die Oberstufe eines Gymnasiums und bringt stets gute Noten nach Hause. Zudem ist sie dort in der SMV (Schülermitverantwortung) aktiv und setzt sich engagiert für ihre Mitschüler:innen ein.
Kurzum: Die 16-Jährige bereitet ihren Eltern nie Grund zur Sorge. Ihre Mutter und ihr Vater sind mächtig stolz darauf, wie sie jede noch so große Aufgabe scheinbar mit Leichtigkeit bewältigt. Niemand bemerkt, wie überfordert Lisa eigentlich ist.
Besser verstehen
Als Lisa 12 Jahre alt ist, verändert sich ihr Leben drastisch. Ihr Vater ist plötzlich nicht mehr wiederzuerkennen. „Dein Papa ist krank. Er leidet an etwas, das man Depression nennt“, erklärt ihr ihre Mutter.
Die Veränderungen beginnen schleichend: der sonst so unternehmungslustige Mann hat plötzlich immer weniger Lust auf ihre gemeinsamen Sonntagsausflüge und zieht sich nach der Arbeit in das elterliche Schlafzimmer zurück.
Mit der Zeit bemerkt Lisa immer mehr Veränderungen an ihrem geliebten Vater: er klagt nun über Schlaflosigkeit. Nachts hört sie seine nervösen Schritte im Haus. Die verlorenen Stunden Nachtruhe holt er wann immer möglich tagsüber nach. Zudem klagt er regelmäßig über Kopfschmerzen.
Lisas Vater wird immer gereizter und meckert oft am Rest der Familie herum. Es scheint, als könnten sie plötzlich nichts mehr richtig machen. Besonders ihrem jüngeren Bruder Max, der ein echtes Papakind ist, macht die Situation zu schaffen. Doch auch ihre Mutter wirkt immer gestresster.
Das Bedürfnis nach Aufmerksamkeit & Anerkennung
Lisas Mutter findet sich in einer anspruchsvollen Situation wieder. Die Aufgaben, die sie sich früher mit ihrem Ehemann geteilt hat, liegen nun allein auf ihren Schultern. Da bleibt immer weniger Zeit für die Kinder.
Lisa versteht mit ihren 12 Jahren bereits deutlich besser als ihr jüngerer Bruder Max, wie belastend die aktuelle Situation für alle Familienmitglieder ist. Deshalb springt sie ein, wo sie nur kann. Sie übernimmt den Wocheneinkauf und die Wäsche, kocht für sich und ihren Bruder Max, wenn sie aus der Schule kommen, und hilft ihm bei den Hausaufgaben.
Abends, nach einem anstrengenden Tag, kuscheln die Geschwister sich ins Bett, und Lisa liest Max eine Geschichte vor. Lisa empfindet oft Erschöpfung, aber wenn Max am Ende des Tages sagt, dass sie die Einzige ist, die sich wirklich Zeit für ihn nimmt, fühlt sie sich wertvoll – und das ist all die Mühe wert.
Für ihre Mutter wird Lisa die wichtigste Unterstützung Zuhause. Mit 16 Jahren ist sie zudem ihre engste Vertraute geworden, denn für Freundschaften hat sie schon lange keine Zeit mehr. Lisa ist stolz darauf, dass ihre Mutter sie wie eine Erwachsene behandelt, die oft sagt: „Du bist mein Engel. Ohne dich könnte ich das alles nicht schaffen!“
Für diese Zuwendung schenkt sie ihrer Mutter gerne stets ein offenes Ohr. Sie erfährt von ihren Sorgen und Ängsten – selbst davon, dass ihre Mutter erwägt, sich von ihrem Vater zu trennen. Obwohl Lisa die Erwachsenenrolle schmeichelt, belastet es sie gleichzeitig, ihre Mutter so traurig zu sehen.
Doch Lisa hat gelernt, diese Last in Kauf zu nehmen. Ohne die Zuwendung, die sie von ihrem Bruder und ihrer Mutter geschenkt bekommt, würde sie vollkommen übersehen werden. Sie genießt die Aufmerksamkeit und Anerkennung, die sie für ihre Leistungen bekommt. Mehr noch: sie braucht sie.
Eigene Sorgen und Ängste behält sie lieber für sich. Sie möchte nicht noch mehr Grund zur Sorge bieten und ihren Status als die Starke in der Familie nicht verlieren. Doch insgeheim leidet sie genauso sehr wie Max unter der Situation, die Zuhause herrscht. Eigentlich ist sie völlig überfordert, doch ihr Selbstwertgefühl ist von der Anerkennung ihrer Vertrauenspersonen abhängig.
Lisa hat den Glaubenssatz entwickelt, nur wertvoll zu sein, wenn sie belastbar und erfolgreich ist. Ein Heraustreten aus der Rolle, in der sie gefangen ist, stellt somit eine starke Bedrohung für ihr Selbstwertgefühl dar. Deshalb hält sie an den immer gleichen Verhaltensweisen fest, was wiederum verhindert, dass sie lernt, ihren Selbstwert auch anhand anderer Werte und Fähigkeiten zu beziehen.
Dynamik in der Familie
Ausgelöst durch die väterliche Erkrankung, entsteht in Lisas Familie eine Dysfunktion. Diese drängt Lisa in eine Rolle, die man in Fachkreisen als „Held:innen-Rolle“ bezeichnet. Diese Rolle erschwert Kindern wie Lisa ein unbeschwertes Kind sein zu können – massiv.
Da Lisas Vater aufgrund seiner Erkrankung seinen Aufgaben nicht mehr nachkommt und Lisas Mutter mit der Vierfachbelastung von Beruf, Haushalt, erkranktem Partner und der Versorgung der Kinder völlig überlastet ist, beginnt Lisa, Aufgaben zu übernehmen, die eigentlich in den Verantwortungsbereich der Erwachsenen gehören, wie die Versorgung ihres jüngeren Bruders.
Diese Rollenumkehr zwischen Eltern und Kind nennt sich Parentifizierung. Parentifizierte Kinder werden durch die äußere Situation gezwungen, sich besonders reif zu verhalten. Das kann einerseits positive Auswirkungen haben, denn um ihren Eltern Sorgen zu ersparen, zeigen Kinder wie Lisa oft prosoziale Verhaltensweisen, entwickeln soziale Kompetenzen und gute Problemlösefähigkeiten.
Doch die scheinbare Reife hat einen Preis, denn mit der plötzlichen Verantwortungsübernahme endet ein einfaches Kindsein. Unbekümmertheit und Spontanität gehen verloren. Zudem kann es zu Grenzverletzungen kommen, die später zu psychischen Problemen führen können.
Eine emotionale Grenzverletzung ist in Lisas Fall darin zu sehen, dass ihre Mutter sie wie eine gute Freundin behandelt. Während sie ihr ihre Geheimnisse und Sorgen anvertraut, ignoriert sie Lisas Gefühle. Sie übersieht, welche Ängste dies in ihrer Tochter auslöst und geht nur wenig auf deren Bedürfnisse ein.
Die Anforderungen, die an parentifizierte Kinder gestellt werden, sind oftmals überfordernd. Diese Überforderung wiederum kann zu Schuld- und Minderwertigkeitsfgefühlen führen, da sie den auferlegten Ansprüchen nicht gerecht werden können.
Parentifizierte Kinder neigen zudem dazu, ihre eigenen Bedürfnisse und Gefühle zu vernachlässigen, wodurch sie im schlimmsten Fall nicht lernen, was sie für ihr eigenes Wohlergehen brauchen.
Mehr wissen
Innerhalb einer dysfunktionalen Familie wird die Held:innen-Rolle oftmals von den ältesten Geschwistern übernommen. Sie haben am ehesten bereits eine bestimmte Selbstständigkeit entwickelt. Auch Lisas Geschlecht prädestiniert sie für diese Rolle, denn Mädchen wird aufgrund von Geschlechtsstereotypen und Rollenmodellen stärker als Jungen beigebracht, sich umsichtig und fürsorglich zu verhalten.
Ein weiteres Problem der Rolle besteht darin, dass ein Verhalten von solch Held:innen-Kindern indirekt zur Aufrechterhaltung der familiären Dysfunktion beiträgt. Mit ihrer umsichtigen und verantwortungsvollen Art dient Lisa ihrer Familie als Ruhepol, besonders im Vergleich zu ihrem Bruder Max, der durch sein aufmüpfiges Wesen stets Unruhe stiftet.
Sie schafft es, trotz dem Chaos, stets Ordnung und Struktur in den Alltag zu bringen. Durch ihren Erfolg versorgt sie ihre Familie zudem mit Selbstwert. Das klingt erstmal gut. Doch es fängt die Auswirkungen der Dysfunktion ab und erzeugt so schnell die Illusion, dass doch alles gar nicht so schlimm sei. Dadurch bleibt der Status Quo länger aufrechterhalten.
Was können Eltern in einem solchen Fall tun? Was braucht Lisa, um aus ihrer Rolle herauszukommen?
Parentifizierte Kinder sind oft schwer zu erkennen, da ihre Rolle die Probleme, mit denen sie zu kämpfen haben, verbirgt.
Daher ist es von entscheidender Bedeutung, dass Eltern und andere Bezugspersonen besonders bei überangepassten, hilfsbereiten und extrem verantwortungsvollen Kindern aufmerksam hinsehen.
Wenn eine familiäre Dysfunktion, wie im Fall von Lisa, aufgrund einer (psychischen) Erkrankung entsteht, ist es hilfreich, wenn Eltern feinfühlig und altersgerecht mit ihren Kindern über die Erkrankung sprechen. Dies hilft ihnen dabei, die damit einhergehenden Veränderungen besser zu verstehen und das Verhalten der Eltern angemessen einzuordnen. Öffnen sich betroffene Kinder, ist es zudem wichtig, einfühlsam auf ihre Gefühle einzugehen, ohne sie zusätzlich zu belasten.
Kinder vor einer Überforderung zu schützen bedeutet nicht, dass sie Zuhause nicht helfen dürfen oder sogar sollten. Hier machen die Dosis und der Anspruch das Gift. Übertragen Eltern ihren Kindern altersgerechte, klar definierte Aufgaben, kann ihnen das helfen, Gefühle der Hilflosigkeit zu überwinden und Selbstwirksamkeitserfahrungen zu machen.
Dabei ist es jedoch immer wichtig sicherzustellen, dass Eltern ihre elterliche Sorge behalten und das Kind trotz dieser Aufgaben seine Freizeitaktivitäten genießen kann.
Das oftmals angeschlagene Selbstwertgefühl der Kinder kann gestärkt werden, indem Eltern ihnen nicht-leistungsbezogene Anerkennung bieten und sie darin ermutigen, ihre Interessen und Hobbys zu erkunden. Dies kann das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten stärken und Überforderungsgefühlen entgegenwirken.
Bestärken Eltern ihre Kinder zudem darin, Zeit mit Freund:innen zu verbringen und soziale Kontakte zu Gleichaltrigen zu pflegen, lernen sie, dass sie nicht allein dastehen und Unterstützung von anderen erhalten.
Bemerken Eltern oder Außenstehende Anzeichen einer Parentifizierung, bei der das Kind seine eigenen Bedürfnisse hintenanstellt, sollte man es im Alltag dabei unterstützen, seine Bedürfnisse, Interessen und Gefühle auszudrücken und durchzusetzen. Es ist wichtig, Kindern zu erlauben, „Nein“ zu sagen.
In Fällen, in denen eine umfassende Veränderung erforderlich ist, kann eine systemische Familientherapie oder Beratung in Betracht gezogen werden. Diese unterstützt die Familie darin, Familienbeziehungen zu stärken und eine Parentifizierungssituation, wie im Fall von Lisa, zu verhindern bzw. aufzulösen.
In einer Familientherapie können Eltern im Rahmen von Elterngesprächen zudem Situationen besprechen, in denen sie sich im Umgang mit ihren Kindern unsicher, hilflos oder gar überfordert fühlen. Hierbei können Handlungsalternativen erarbeitet werden.
Es ist entscheidend zu verstehen, dass jede familiäre Situation einzigartig und individuell ist. Die Inanspruchnahme professioneller Hilfe ist keine Schande, sondern zeugt von Stärke und Mut.
Dabei ist es wichtig, dass Eltern eins im Blick behalten: Eine tiefgreifende Veränderung erfordert Zeit und Kraft. Nicht zuletzt deshalb ist es wichtig, besonders in solch harten Phasen auch Spaß und Lebensfreude immer wieder in den Fokus zu rücken und sie mit ihren Kindern zu teilen!
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Sind Eltern zufrieden und glücklich entwickeln sich ihre Kinder zu kleinen Persönlichkeiten mit einer großen Portion gesundem Selbstbewusstsein und Selbstwertgefühl. Doch was brauchen Familien, damit Spannungen und Konflikte gar nicht erst aufkommen und wie gestalten sie ihre Beziehung und erhalten sie aufrecht? Was wäre nötig, damit Väter selbstbewusst die Vaterrolle annehmen, die Verteilung der Familienarbeit gerecht aufgeteilt ist und die Unstimmigkeiten im Hinblick auf die Kindererziehung nicht ständig Thema sind. Kann Familie gelingen, wenn das geschlechtsspezifische Denken, Wahrnehmen und Verhalten im täglichen Umgang miteinander berücksichtigt wird?