Die Falle der Frohnatur der Familienclown - Foto iStock © bg_knightManchmal sind im komplexen Gefüge von Familie gerade die Kinder, die als unbeschwerte Frohnatur gelten, diejenigen, die von Angst und Unsicherheit geplagt sind. Heute werfen wir einen Blick auf den 14-jährigen Jonas, der mit Witz und Lebensfreude das Herz seiner Familie höher schlagen lässt.

Jonas ist für seine Eltern der Sonnenschein des Hauses. Jonas ist so lebhaft und fröhlich, immer für einen Spaß zu haben, schwärmt sein Vater, als der Kinder- und Jugendtherapeut ihn nach den Stärken seines Sohnes fragt. Der 14-Jährige scheint die Definition von Unbeschwertheit zu verkörpern. Mit seinem ständigen Lachen und seiner extrovertierten Art ist er bei Verwandten, Freund:innen und Nachbar:innen gleichermaßen beliebt.

Jonas fällt auf, wie er mit kindlicher Ausgelassenheit jede Situation aufhellen kann. Seine Eltern betrachten ihn als den „Entertainer“ der Familie, einen Jungen, der scheinbar mühelos das Glück in den Alltag bringt. Seine Gabe, Menschen zum Lachen zu bringen, wird oft als Segen betrachtet, und seine Eltern freuen sich über den unbeschwerten Charme ihres Sohnes.

Obwohl Jonas bei seinen Klassenkamerad:innen überwiegend beliebt ist, stoßen manche Kinder jedoch an ihre Grenzen, wenn sie seiner überdrehten Art ausgesetzt sind. Die Aufgeschlossenheit und Ausgelassenheit, die bei vielen gut ankommen, sind für manche überfordernd und nervenaufreibend.

Zudem stoßen Jonas‘ überdrehte Art und sein oftmals unreifes Verhalten bei Lehrer:innen auf Bedenken. Seine schulische Leistung wird zunehmend schlechter. „Jonas ist schnell überfordert. Sein Kopf ist immer mit Unsinn beschäftigt, was zu schlechten Noten führt“, erklärt der besorgte Vater. Seine Lehrer:innen bezeichnen ihn häufig als „zappelig“ und trotz seiner 14 Jahre verhält er sich oft eher wie ein 12-Jähriger.

Auf Anraten der Schule, Jonas auf eine mögliche Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) testen zu lassen, hat sich sein Vater entschieden, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen und setzt sich mit einem Kinder- und Jugendpsychotherapeuten in Verbindung.

Besser verstehen

Im Elterngespräch berichtet Jonas‘ Vater, dass Jonas bis zur 5. Klasse völlig unauffällig gewesen sei. Konzentrationsschwierigkeiten oder impulsives Verhalten waren in dieser Zeit nicht erkennbar, was den Kinder- und Jugendpsychotherapeuten dazu veranlasst, eine ADHS-Diagnose auszuschließen.

Auf die Nachfrage des Psychotherapeuten, ob es in dieser Zeit zu weiteren Veränderungen gekommen sei, berichtet der Vater davon, dass seine Frau Petra an einer Alkoholabhängigkeit leide. Was er früher als „etwas auffällig“ wahrgenommen habe, ist in den letzten Jahren völlig außer Kontrolle geraten. Petra hat kaum noch nüchterne Tage, was regelmäßig zu lautstarken Auseinandersetzungen zwischen den Eltern führt. Jonas‘ Vater versichert dem Therapeuten jedoch: „Die meisten unserer Streitereien bekommt Jonas gar nicht mit, weil sie nachts passieren. Und wenn er doch mal dabei ist, steckt er das sehr gut weg!“.

Der Wunsch, Angst, Anspannung & Unsicherheit loszuwerden

Die Falle der Frohnatur der Familienclown 2 - Foto iStock © art159In den darauf folgenden Therapiesitzungen offenbart Jonas jedoch eine emotionale Welt, die seinem fröhlichen Äußeren und der Einschätzung seines Vaters stark widerspricht. Im Vertrauen zu seinem Therapeuten gesteht Jonas, dass er regelmäßig Mamas versteckte Flaschenvorräte kontrolliert, um zu überprüfen, wie viel sie getrunken hat. Die quälende Angst, dass seine Mutter bald sterben könnte, liegt wie ein schwerer Schatten über ihm.

Die ständige Anspannung und Unsicherheit in seinem Zuhause setzen Jonas zu.

„Ich weiß nie, was mich erwartet, wenn ich nach Hause komme. Manchmal ist alles entspannt und manchmal ist die Stimmung total explosiv“,

vertraut er dem Therapeuten an. Der Umgang mit dieser Unsicherheit ist für Jonas eine konstante Herausforderung.

Inmitten dieser emotionalen Turbulenzen findet Jonas Trost und Bewältigung in seiner Fähigkeit, die Familie zum Lachen zu bringen. Diese Momente, in denen er durch seinen Witz die „Familienwelt“ für einige Stunden wieder in Ordnung bringt, sind für ihn von unschätzbarem Wert. Jonas erzählt dem Therapeuten, dass in diesen Augenblicken sogar sein Vater entspannter ist und sich mehr Zeit für Gespräche mit ihm nimmt.

Für Jonas sind diese humorvollen Interaktionen eine Flucht vor der Realität und eine Möglichkeit, die Angst, Anspannung und Unsicherheit zumindest temporär zu überwinden. Die scheinbare Unbekümmertheit, die Jonas nach außen trägt, wird in diesem Kontext zu einem Bewältigungsmechanismus, der ihm hilft, mit den Herausforderungen in seiner Familie umzugehen.

Dynamik in der Familie

Inmitten der familiären Dysfunktion, ausgelöst durch die Alkoholabhängigkeit von Jonas‘ Mutter, entfaltet sich eine komplexe Dynamik. Jonas übernimmt unbewusst die Rolle des „Clowns“, nicht nur, um das fragile Gleichgewicht des Familiensystems aufrechtzuerhalten, sondern auch, um seine eigenen emotionalen Bedürfnisse zu befriedigen.

Jonas verschafft sich durch seinen Humor Aufmerksamkeit, Zuwendung und Wertschätzung von seinen Eltern. Sein Lachen und seine lustigen Einlagen werden zu einer Art emotionaler Währung, die ihm in einem Umfeld, das von Unsicherheit und Anspannung geprägt ist, eine gewisse Stabilität verleiht.

Sein Humor dient als Ablenkung von den bestehenden Sorgen und Konflikten. Wenn Jonas die Szene betritt, können sich die Eltern und auch er selbst zumindest kurzzeitig von den belastenden Realitäten des Alltags abwenden. Sein Humor wird zu einem Schutzmechanismus, der die emotionale Integrität der Familie bewahrt.

Die äußere Erscheinung von Jonas als fröhliches und aufgedrehtes Kind führt dazu, dass Außenstehende selten die wahre Problematik hinter den Kulissen erkennen. Jonas‘ heitere Fassade fungiert als Tarnung für die Schwierigkeiten in seinem Zuhause. Die tatsächliche familiäre Situation wird oft unterschätzt oder übersehen.

Jonas‘ Rolle als „Clown“ ist also nicht nur für ihn persönlich, sondern auch für die familiäre Dynamik von unschätzbarem Wert. Ohne ihn droht die Familie an den Konflikten zu zerbrechen. Der scheinbar oberflächliche Beitrag seines Humors maskiert tiefer liegende Herausforderungen und ermöglicht es der Familie, zumindest kurzzeitig eine gewisse Normalität aufrechtzuerhalten.

Mehr wissen

Die Falle der Frohnatur der Familienclown 3 - Foto iStock © art159Das Clown-Kind, wie Jonas es repräsentiert, nimmt eine spezifische Rolle innerhalb des dysfunktionalen Familiensystems ein. Es fungiert als Ausdrucksträger für die unterdrückten Emotionen anderer Familienmitglieder, indem er aufkommende Spannungen von ihnen wahrnimmt und auf positive Weise abzubauen versucht.

Ähnlich dem stillen Kind strebt das Clown-Kind danach, sich emotional vom Familiensystem zu distanzieren, wenn auch auf eine sehr unterschiedliche Art und Weise. Statt sich zurückzuziehen, nutzt das Clown-Kind humorvolle Erleichterung, um sich von den familiären Problemen zu entfernen und seine wahren Gefühle von Unzulänglichkeit, emotionaler Not und zugrunde liegender Furcht zu verbergen.

Die kontinuierliche Verleugnung persönlicher Bedürfnisse und Emotionen kann jedoch dazu führen, dass das Clown-Kind zu einem passiv-nachgiebigen Erwachsenen heranwächst. Diese Personen sind oft auf die Führung anderer angewiesen. Das Clown-Kind kann dazu neigen, unreifes Verhalten an den Tag zu legen, Aufmerksamkeit zu suchen und Schwierigkeiten bei der Entwicklung von Autonomie und Selbstbewusstsein zu erfahren.

Es ist wichtig zu verstehen, dass die Clown-Rolle nicht nur eine vorübergehende Phase ist, sondern langfristige Auswirkungen auf die Persönlichkeitsentwicklung haben kann. Die Strategie des Humors als Abwehrmechanismus kann dazu führen, dass das Clown-Kind Schwierigkeiten hat, seine eigenen Bedürfnisse zu identifizieren und angemessen auszudrücken. Daher ist es von entscheidender Bedeutung, diese Muster zu erkennen und therapeutische Interventionen zu nutzen, um das Clown-Kind auf dem Weg zur Autonomie und emotionalen Gesundheit zu unterstützen.

Was können Eltern in einem solchen Fall tun? Was braucht Jonas, um aus seiner Rolle herauszukommen?

In den vorangegangenen Fallbeispielen haben wir bereits einen intensiven Blick darauf geworfen, was Eltern tun können, um ihren Kindern dabei zu helfen, aus ihren Rollen auszutreten. Doch nicht nur die Kinder, sondern auch die Eltern stehen in einer familiären Dysfunktion unter enormem Druck. Nur wenn auch sie eine gewisse Entlastung finden, stehen ihnen die emotionalen Kapazitäten für ihre Kinder zur Verfügung. Deshalb möchte ich hier auch einmal diese Seite genauer beleuchten.

Eltern, die sich in einer ähnlichen Situation wie Jonas‘ Familie befinden, stehen vor einer herausfordernden Aufgabe. Eine Substanzabhängigkeit, egal ob es sich dabei um Alkohol oder andere Drogen handelt, ist eine schwerwiegende Erkrankung, die oft mit einer fehlenden Krankheitseinsicht einhergeht. Solange Betroffene sich in der Verleugnung befinden, ist es schwierig, ihnen Hilfe anzubieten, um auf diesem Wege die familiäre Dysfunktion aufzuheben. Ähnlich wie in Jonas‘ Fall können auch bei anderen Familien Situationen auftreten, in denen ein Elternteil nicht in der Lage ist, aktiv am Aufheben der familiären Dysfunktion mitzuwirken.

Dennoch gibt es einige Schritte, die Eltern unternehmen können, um Entlastung für die Familie zu schaffen und Kinder wie Jonas dabei zu unterstützen, ihre Rolle zu verlassen. Angehörige von suchtkranken Menschen können sich beispielsweise auch ohne direktes Mitwirken der erkrankten Person an eine Drogenberatungsstelle wenden. Dort unterstützen geschulte Mitarbeiter:innen beratend und helfen Angehörigen, sich wieder auf Aspekte des Lebens zu konzentrieren, die außerhalb der Sucht stattfinden. Handelt es sich nicht direkt um eine Suchterkrankung, können auch Ehe-, Familien- und Lebensberatungsstellen in Betracht gezogen werden.

Für Angehörige, die mit der psychischen Erkrankung eines Familienmitglieds konfrontiert sind, gibt es spezielle Selbsthilfegruppen. Diese Gruppen bieten einen sicheren Raum, in dem Eltern sich austauschen können, um Unterstützung, Ratschläge und Verständnis zu finden. Egal ob es sich um Suchterkrankungen, Depressionen oder andere psychische Erkrankungen handelt, der Austausch mit Menschen, die ähnliche Erfahrungen gemacht haben, wirkt entlastend und ermutigend.

Auch für Kinder und Jugendliche gibt es Hilfsangebote. Im Rahmen von Suchterkrankungen ist hier beispielsweise das Trampolin-Programm zu nennen, ein wissenschaftlich fundiertes Präventionstraining. Hier lernen Kinder, besser mit der Suchterkrankung eines Elternteils umzugehen und sich vor potenziell negativen Auswirkungen zu schützen.

In Jonas‘ Fall ist zudem bereits ein bedeutender Schritt zur Hilfe getan: Er ist in therapeutischer Behandlung und hat Vertrauen zu seinem Therapeuten gefasst. Im Rahmen dieser Therapie kann er lernen, sein eigenes Verhalten zu reflektieren, seine Bedürfnisse zu erkennen und zu kommunizieren. All diese Maßnahmen können nicht nur dazu beitragen, die familiäre Dynamik zu verbessern, sondern auch den Weg für eine positive persönliche Entwicklung der Kinder ebnen.

von Alina Feito Caldas

weitere Informationen

Kinderrollen in dysfunktionalen Familien:
Das Rollenverhalten als Bewältigungsstrategie
, Diana Saft, Heilpaedagogik-Info.de

O’Shea Brown, G. (2021). Dysfunctional Family Systems. In G. O’Shea Brown (Hrsg.), Essential Clinical Social Work Series. Healing Complex Posttraumatic Stress Disorder (S. 47–60). Springer International Publishing. https://doi.org/10.1007/978-3-030-61416-4_4

Ein Beitrag aus unserer Praxis-Rubrik:

FamilieLeben – besser verstehen


Sind Eltern zufrieden und glücklich entwickeln sich ihre Kinder zu kleinen Persönlichkeiten mit einer großen Portion gesundem Selbstbewusstsein und Selbstwertgefühl. Doch was brauchen Familien, damit Spannungen und Konflikte gar nicht erst aufkommen und wie gestalten sie ihre Beziehung und erhalten sie aufrecht? Was wäre nötig, damit Väter selbstbewusst die Vaterrolle annehmen, die Verteilung der Familienarbeit gerecht aufgeteilt ist und die Unstimmigkeiten im Hinblick auf die Kindererziehung nicht ständig Thema sind. Kann Familie gelingen, wenn das geschlechtsspezifische Denken, Wahrnehmen und Verhalten im täglichen Umgang miteinander berücksichtigt wird?