Lina flippt aus - Foto shutterstock © Igor SmirnoffLina kam mit 1 Jahr in die Krippe für 7 Stunden täglich. In den sechs Monaten davor wurde sie vom Vater betreut, der auch die Eingewöhnung in der Krippe vornahm. Diese lief problemlos, denn Lina orientierte sich sofort an einer der Erzieherinnen und den anderen Kindern. Sie ging über die folgenden zwei Jahre immer ohne Klagen in die Krippe.

Mit der Zeit entwickelte sie zu Hause jedoch extrem auffälliges Verhalten. Sie rastete aus dem Stand ohne erkennbaren Grund immer wieder aus, suchte aggressiv die Nähe der Mutter, ließ sich jedoch nicht in den Arm nehmen, ließ sich also nicht beruhigen. Sie zwang die Mutter bestimmte absurde Handlungen zu machen und reagierte hysterisch, wenn die Mutter das ablehnte. Alle Versuche der Eltern, die Situationen aufzulösen oder zu beenden, halfen nicht. Lina blieb bis zur Erschöpfung außer sich.

Da die Eltern sehr fürsorglich waren, immer wieder ihr eigenes Verhalten reflektierten und viele Versuche unternahmen, mit den schlimmen Situationen besser umzugehen, liegt es auf der Hand, die Ursache in der ständigen Überforderung durch die frühe und täglich zu lange Krippenbetreuung zu suchen.

Hier sind mehrere Gegebenheiten zu beachten, um das Verhalten von Lina zu erklären.

Im ersten Lebensjahr gab es eine Unterbrechung der Bindungsentwicklung an die Mutter, da der Vater ab dem 7. Monat die Betreuung allein übernahm. In der Hauptbindungsphase (6. bis 18. Monate) kam es demnach zweimal zum Wechsel der Bindungspersonen, zuerst zum Vater, dann zur Erzieherin. Es ist zu vermuten, dass dadurch die Bindungsentwicklung von Lina nur oberflächlich verlief, so dass sie sich an jede neue Bindungsperson anpasste, denn auch die Bindungsphase zum Vater war zu kurz. Dadurch fehlte ihr jedoch die Möglichkeit der primären Bindungsentwicklung an die Mutter, die ihr ein grundständiges Sicherheitsgefühl vermittelt hätte. So gelang die Eingewöhnung gut und die Zeit danach verlief offensichtlich problemlos. Erst mit dem zunehmenden Selbsterkennen und der Herausbildung des bewussten eigenen Willens trug Lina ihre aus der Bindungsdiffusion resultierenden Unsicherheitsgefühle nach außen. Mit zunehmendem Alter und Intelligenz suchte Lina immer neue Formen, die Eltern zu provozieren. Dies geschah am stärksten gegenüber der Mutter, weil das Kind unbewusst spürte, wo der Verlust lag.

Dieses Kind muss umgehend aus der Kita herausgenommen werden und zu Hause von der Mutter betreut werden ohne irgendein Programm. In diesem Fall konnte das zum Glück umgesetzt werden. Auf die Frage von Lina am ersten Tag, warum sie nicht in die Kita gehen müsse, erklärte die Mutter, dass sie Lina lieber zu Hause behalten wolle. Damit war das Kind zufrieden und beschäftigte sich ganz normal zu Hause allein und mit der Mutter.

Das extreme Verhalten war sofort, also gleich am ersten Tag, vollständig weg.

Am vierten Tag fragte Lina, ob sie wieder in die Kita gehen solle, worauf die Mutter antwortete, dass es schöner sei, wenn sie noch ein paar Tage zu Hause bliebe. Das Verhalten von Lina blieb positiv. Am fünften Tag wurde Lina krank. Dies muss als stressbedingte Erschöpfungsreaktion gesehen werden, die auch bei Erwachsenen vorkommt, wenn sie nach langen Stresszeiten – wie etwa im Beruf –  im Urlaub krank werden.

Nach einer Woche Krankheit gab es eine Familienfeier mit vielen Leuten, wo Lina am Ende des Tages wieder das schlimme Verhalten zeigte, sich jedoch bald beruhigen ließ und ihr Verhalten überdachte. Da die hohe Reizoffenheit von Lina auch ein Grund für die Belastungen durch die Krippe war, haben die Reize durch die vielen fremden Leute beim Familienfest wieder diese Überforderungsgefühle hervorgerufen. Durch diesen Trigger reagierte Lina mit dem vorher beschriebenen negativen Verhalten.

In der Folgezeit ging Lina wieder freiwillig in die Kita, wurde jedoch in der Mitte der Woche für einen Tag zu Hause behalten, was in dieser Familie zum Glück möglich war.

Ein Beitrag aus unserer Praxis-Rubrik:

KinderLeben – besser verstehen


Wenn die frühe Krippenbetreuung für Kinder eine zu hohe Belastung ist, zeigt sich dies in unterschiedlicher Weise an Verhaltensänderungen oder Verhaltensauffälligkeiten. Mit diesen Beispielen aus der Praxis von Kindertherapeuten, Erzieherinnen, Müttern, Tagesmüttern und ErziehungsberaterInnen wird dargestellt, wie überforderte Krippenkinder reagieren. Damit soll Eltern deutlich gemacht werden, in welcher Form und warum sich die Kinder im Verhalten verändern.

Dr. Erika Butzmann, Entwicklungspsychologin, erklärt, welches Vorgehen der Eltern notwendig ist, um die Belastungen des Kindes aufzulösen oder zu reduzieren.