Wer „Die Krippen-Lüge" liest, bekommt einen realistischen Einblick davon, was in Krippen wirklich geschieht. Der Betreuungsalltag ist weit entfernt von dem, was Eltern in Hochglanzprospekten versprochen wird.
Kleine Kinder, großes Geschäft
ARTE zeigte kürzlich eine zweiteilige Dokumentation mit dem Titel „Kleine Kinder, großes Geld" [1]. Bis 6. April 2026 ist dieser Film noch in der Mediathek des Senders abrufbar. Es ist selten genug, dass in den Medien kritisch über Krippen und Kitas berichtet wird. Bemerkenswert also, dass hier zumindest einmal der Versuch unternommen wurde, das Betreuungssystem kritisch unter die Lupe zu nehmen. Allerdings sieht man sich schnell enttäuscht und vor allem getäuscht, denn man hat sich hier eines Tricks bedient: man schiebt die Krippenmisere ausschließlich dem vor allem in Frankreich und Großbritannien vorherrschenden Trend zur Privatisierung zu. Und damit dem „Kapitalismus" in die Schuhe. Doch sind die staatlichen Einrichtungen hierzulande wirklich besser? Erschreckend ist die Ankündigung, dass das Modell der Privatisierung auch nach Deutschland übertragen werden soll. Damit hätten wir es nicht nur mit einer unzureichenden staatlichen Betreuung zu tun, sondern zusätzlich mit einem privaten System – zum Nachteil der Kinder.
Verlässlich verbunden trotz Fremdbetreuung?
Wer hingegen „Die Krippenlüge" – ein aktuelles Buch der engagierten Kleinkindexpertinnen Anke Ballmann und Claudia Stolz – von Anfang bis Ende gelesen hat, der oder die weiß: der Teufel steckt nicht im Privatisierungsdetail, sondern im gesamten Betreuungssystem. Die promovierte Pädagogin Ballmann hatte bereits 2019 mit „Seelenprügel" ein bemerkenswertes Buch vorgelegt, das so ehrlich, offen und schonungslos war, dass man als Eltern oder Erzieherin nach der Lektüre eigentlich nicht einfach wieder zur Tagesordnung übergehen und sein Kind weiter in die Kita schicken konnte. „Was Kindern in Kitas wirklich passiert. Und was wir dagegen tun können", so lautete damals der Untertitel des Buchs. Die „Krippenlüge" kommt nun etwas sanfter daher, wenn sie im Untertitel betont, dass man „trotz Fremdbetreuung das Urvertrauen unserer Kinder stärken" kann.
Vom Mythos der frühen Förderung
Aber wie soll das bitteschön gehen, wenn doch „das System krank ist, und zwar nicht nur bei uns in Deutschland, sondern im gesamten DACH-Raum", wie die Autorinnen zu Recht anmerken? „Machen wir uns bitte nichts vor, wir reden uns die Krippen schön." Was die sogenannte „frühe Förderung" für viele Kinder wirklich bedeute, werde „in der Regel unter den Tisch gekehrt".
Denn ein Kleinkind würde nie von sich aus entscheiden, mehrere Stunden am Tag auf seine engsten Bezugspersonen zu verzichten.
Die Autorinnen verweisen auf die Forschung, die hier „eine klare Sprache" spreche:
„Frühe und langfristige Trennungen von den primären Bezugspersonen führen zu massivem Stress."
Es sei erstaunlich, dass in einer Gesellschaft, die sich auf die Fahnen schreibe, sich an der Wissenschaft zu orientieren, trotzdem der Mythos halte, außerfamiliäre Betreuung sei für jedes Kind machbar und förderlich.
Kalte Orte hinter bunten Mauern
Der Alltag in den allermeisten Krippen sehe in der Regel völlig anders aus, als er Eltern in den Hochglanzprospekten dargestellt werde. Von einem „kalten Ort" sprechen die Autorinnen, an dem die Kinder „durchhalten" und „funktionieren müssen". Das sei nichts anderes als „psychische Gewalt – hier werden, und das lässt sich nicht anders sagen, Kinderseelen geprügelt". Die Beispiele, die im Buch genannt werden, sind für die Leserschaft keine leichte Kost. Das Personal – „emotional völlig ausgelaugt" – sei gestresst, weil es den Druck spüre, „genau das durchziehen zu müssen, was Träger und Eltern erwarten". Der Jahresverlauf werde „zwanghaft abgearbeitet, sei es Advent, sei es Ostern, völlig unabhängig davon, ob es den Kindern guttut oder nicht".
Es ist im Grunde zum Heulen: keine Seite des Buchs lässt ein gutes Haar an den Krippen. Stattdessen fahren die Autorinnen schweres Geschütz gegen sie auf und sparen nicht mit harschen Urteilen und Worten: „Hinter bunten Krippenmauern werden viele Tränen geweint. Hinter bunten Krippenmauern fühlen sich viele Kinder einsam. Hinter bunten Krippenmauern schmerzen viele Kinderherzen."
Fachkräftemangel, Mangel an Wissen, Mangel an Haltung
Dazu passt eine Meldung aus der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 8. Mai 2023: „Mehr Fälle von Gewalt in Kitas gemeldet" [2]. Immer häufiger würden Verdachtsfälle von übergriffigem Verhalten des Personals in Kindertagesstätten gemeldet. Eine Umfrage der Deutschen Presse-Agentur unter Aufsichtsbehörden ergab, dass es 2022 in einigen Bundesländern mehr Meldungen von pädagogischem Fehlverhalten gab. Darunter fielen neben physischer auch psychische Gewalt mit seelischen Verletzungen. Aus Berliner Kitas etwa wurden 2022 mit 83 Fällen die höchste Zahl der vergangenen vier Jahre gemeldet. In Niedersachsen stieg die Zahl der Fälle um ein Drittel.
Interessanterweise betonte der Präsident des Kinderschutzbundes, Heinz Hilgers, dass nicht nur Personalmangel zu grenzüberschreitendem Verhalten in den Kitas führe, sondern „die Haltung des Personals" ebenso „ausschlaggebend" sei. Mehr Personal allein, wie vielfach lauthals gefordert, sei daher „nicht die Lösung des Problems" [3, 4]. Auch in der „Krippenlüge" wird die oft mangelhafte Haltung der Erzieherinnen immer wieder in den Fokus gerückt.
Die Tagespflege als Lichtblick?
Positiv wird dagegen die Tagespflege dargestellt. Das liegt wohl vor allem daran, dass eine der Autorinnen selbst langjährige Tagesmutter ist. Ihre Expertise wird in grau unterlegten Texten („Claudias Tagespflege-Tacheles") in die einzelnen Kapitel eingefügt: „Ich arbeite als Tagesmutter. Leise. Bescheiden. Und mit einer Qualität, die viele institutionelle Einrichtungen nicht erreichen." Wer wollte das bezweifeln? Als Leserin fragt man sich trotzdem: Ist es wirklich bei allen Tagesmüttern und -vätern so? Sind nicht auch dort die Kinder den ganzen Tag in fremden Händen, noch dazu weitgehend ohne Begutachtung von außen? Natürlich geht es bei Tageseltern individueller zu. Aber herrscht nicht auch dort ein enormes Stresslevel? Sicher, es kann eine wunderbare Beziehung sein zwischen dem Tageskind und seiner Tagesmutter, keine Frage. Aber garantiert und in jedem Fall?
Die Krippen-Lüge: Wahr oder erfunden?
Die Krux dieses so wertvollen wie unbedingt lesenswerten Buchs scheint folgende: Sämtliche deprimierenden Beispiele bleiben anonym. Man weiß also nicht, in welchen Krippen sich die zum Teil haarsträubenden Szenen abgespielt haben und/oder immer noch abspielen. Krippenbefürworter könnten daher alles für erstunken und erlogen halten und damit die Glaubwürdigkeit der Autorinnen anzweifeln. Gerade weil nahezu ein Schwarzweißbild gezeichnet wird: hier die gute Tagespflege, dort die schlechte Krippe. Das macht angreifbar.
Ratschläge für Eltern – ein Pflaster auf Wunden
Etwas hilflos wirken auch die gut gemeinten Ratschläge am Ende jedes Kapitels unter der Rubrik „Verlässlich verbunden": hier soll der Versuch unternommen werden, Eltern trotz Krippenmisere einen Weg aufzuzeigen, wie sie doch noch das Beste aus der ganzen Situation für ihr Kind herausholen können. Das Deprimierende ist aber: den Kindern bleibt dadurch der kalte Krippenalltag ja nicht erspart. Reicht es wirklich, nach Feierabend „da zu sein, offen zu bleiben, Verantwortung zu tragen"? Natürlich ist es besser als auch abends noch das Kind im Regen stehen zu lassen. Aber es klingt doch eher nach einer Kapitulation vor dem übermächtigen System Krippe (oder einem Zugeständnis an den Verlag, der ein so einseitig negatives Krippenbild vermeiden möchte?), dem sich weder Eltern noch Kinder entziehen können.
„Beenden wir die Krippenlüge. Und segeln wir in Richtung Wahrheit."
Das fordern die Autorinnen. Die Diagnose ist in jedem Fall richtig. Es bleibt jedoch die Frage: Wie gehen wir damit um?

Über die Buchautorin: Dr. Anke Elisabeth Ballmann
gilt als Bildungsvisionärin mit Herz. Sie setzt sich seit über 25 Jahren für kindgerechtes Lernen und gewaltfreie Pädagogik ein. 2007 gründete sie das Institut »Lernmeer« für die Fort- und Weiterbildung pädagogischer Fachkräfte. Aufrüttelnde Vorträge zu ihren Kernthemen brachten der langjährigen Bildungsreferentin in der Wirtschaft den Ruf einer innovativen Bildungsexpertin ein. www.seelenpruegel.com

Über die Buchautorin: Claudija Stolz
Mutter von drei Kindern, seit 20 Jahren aktiv im Bereich „Vereinbarkeit von Familie und Beruf" und über 14 Jahre betreute sie Kinder im Alter von 0–6 Jahren als Tagesmutter. Sie ist Safe-Mentorin, systemische Kinder- und Jugendtherapeutin, Ausbilderin von Tagespflegepersonen und ihr liegt besonders am Herzen, frühes Aufwachsen aus Kinderperspektive verständlich zu machen – für Eltern, Fachpersonal und politische Entscheider:innen.