Rezension Im Grunde gut - Rutger Bregman

Rutger Bregman
Im Grunde gut
Eine neue Geschichte der Menschheit
Rowohlt-Verlag
ISBN: 978-3-498-00200-8
480 Seiten
24,- Euro

Ist der Mensch des Menschen Wolf oder ist das Böse nur Fassade?

Schon mit dem Titel: „Im Grunde gut – Eine neue Geschichte der Menschheit“, wird die große Anstrengung deutlich, die der Autor Rutger Bregman auf sich genommen hat, um unter dem ganzen Elend dieser Welt das Gute im Menschen zu finden. Das bedeutet, es war ein tiefes Graben bis auf den Grund, wobei ganz viel historisches Geröll weggeräumt werden musste, um dort hinzulangen, wo das Gute im Menschen sitzt. Das ist dem Autor überzeugend gelungen.

Die Fassadentheorie

Bregman nimmt den Leser mit auf eine lange Reise durch mehr oder weniger rühmliche Ereignisse der Menschheitsgeschichte, um in jedem betrachteten Einzelfall zu beweisen, dass der Mensch doch etwas taugt. Bregman, Historiker aus den Niederlanden, hat dafür jahrelang recherchiert, ist immer wieder vor Ort gewesen, um herauszufinden, was damals wirklich geschah. Dabei ist er zu einer Erkenntnis gekommen, die er in Anlehnung an de Waal „Fassadentheorie“ nennt, d.h. es wurde und wird nur das wahrgenommen, was oberflächlich zu sehen ist und das ist in der Regel falsch.

Gleich eingangs macht er dies an einem weltberühmten Buch deutlich: Der Herr der Fliegen von William Golding, der 1983 dafür den Literatur-Nobelpreis bekam. Das Buch wurde als realistische Erzählkunst gewürdigt, weil es zeigt, wie unzähmbar Gewalt ist, besonders in der Welt der vermeintlich unschuldigen Kinder. Zwei Aspekte zieht Bregman heran, um das Gegenteil zu beweisen. Er fand einerseits heraus, dass Golding ein gewalttätiger Mensch war, der nur durch diese Brille seine Umwelt betrachtete. Andererseits entdeckte er durch Zufall eine wahre, hoch spannende Geschichte über Kinder, die aufgrund von unglücklichen Umständen 15 Monate auf einer einsamen Insel an der Ostküste Australiens friedlich miteinander überlebten. In gleicher Weise verfährt er mit Milgrams berühmten Expertiment über den unbedingten und destruktiven Gehorsam und Zimbardos ähnlich angelegten Stanford Prison Experminent mit denen Progrome, Völkermorde und Vernichtungslager in der NS-Zeit erklärt werden sollten.

Bregman fand heraus, dass Manipulationen, falschen Einschätzungen und vor allem falsche Vorannahmen zu den Ergebnissen führten, die bis heute weitgehend unwidersprochen akzeptiert werden. Hierbei sowie bei allen weiteren historischen Analysen von Kriegshandlungen, Machtausübung und Demokratieverlust zeigt er auf, dass genau geschaut werden muss, welche Menschen welche Rolle bei diesen Gewaltexzessen spielten. Sein Fazit daraus ist jedoch, dass der Mensch nicht von Natur aus böse ist. Dazu zieht er u.a. die Kontakttheorie und die Empathieforschung heran, ohne den Egozentrismus aus dem Auge zu verlieren. Bei der Kontakttheorie können falsche Vorannahmen wie sie Golding hatte (s.o.) – auch unbewusste – und abneigende Haltungen gegenüber anderen Personen vermindert werden, indem sie Berührungsängste durch persönliche Begegnung abbauen.

Für einen neuen Realismus

Als Gegengewicht zur Fassadentheorie plädiert der Autor dann für einen „neuen Realismus“. Er beschreibt mit der dem Mensch eigenen inneren Motivation eine der Voraussetzungen für die Entfaltung des Guten im Menschen und stellt die Frage, wie es gelingen kann, eine ganze Gesellschaft auf Vertrauen zu gründen. Folgerichtig nimmt er für die Wende zum neuen Realismus das Aufwachsen von Kindern in den Fokus und beklagt, hier auf harte Fakten zu stoßen:

Die motivationsfördernde Selbstbestimmung ist für Kinder heute kaum noch möglich. Die Freiheit der Kinder ist überall eingeschränkt, freies Spielen als Grundstoff des Lernens ging verloren, alles wird der vermeintlichen Bildung untergeordnet, vgl. S. 308.

Als Historiker geht Bregman hier nicht ganz auf den Grund, denn er berücksichtigt nicht die Bedeutung der frühen Bindungsentwicklung. Gelingt eine sichere Bindung an die primäre Bezugsperson, ist das Gute im Menschen als Grundlage vorhanden. Das hat ein weiterer Historiker und Kindheitsforscher, Michael Hüter, mit seinem Buch „Kindheit 6/7“ eindringlich beschrieben und wie das Böse entsteht, kann bei einem dritten Historiker und Gewaltforscher, Sven Fuchs, nachgelesen werden.

Im Grunde gut

So dürfte klar sein, dass der Mensch im Grunde gut ist, wenn er von anderen gut behandelt wird. Wie es gelingen kann, bei gegensätzlichen Standpunkten das Gute zu retten, kann mit der Fassadentheorie und Kontakttheorie erklärt werden. Bregman berichtet immer wieder von Gesprächen zwischen Kontrahenten, in denen tiefste gegenseitige Ablehnung zum Schluss zum Verständnis der unterschiedlichen Sichtweisen führten.

Um das Gute im Menschen zum Vorschein zu bringen muss die gute Behandlung in der frühen Kindheit beginnen; und zwar in der vorsprachlichen Zeit, wo die Kinder ihre Ansichten und Bedürfnisse noch nicht formulieren können. Kleinkindliche Äußerungen wie ausdauerndes Schreien, aggressives Verhalten und andere „Ungezogenheiten“ sind Ausdruck von Unzulänglichkeiten und Überforderungen und keine Bosheiten, die abtrainiert werden müssen. Entweder erlaubt eine hohe Empathiefähigkeit, das Kind zu verstehen oder der Erwachsene verfällt in die Fassadentheorie und interpretiert das Verhalten oberflächlich nach seiner aktuellen Wahrnehmung. Wenn z.B. ein 1-jähriges Krippenkind ein anderes schlägt, wird das als normal, aber korrigierenswert angesehen. Hinter die Fassade zu schauen würde bedeuten zu erkennen, dass dieses Kind in Not ist und man den Grund dafür – notfalls mit seinem entwicklungspsychologischen Wissen – herausfinden muss, um durch eine angemessene Reaktion das Gute im Blick zu behalten.

Besonders das vorsoziale Verhalten der Kinder in den ersten Jahren verleitet zur falschen Interpretation, weil auch diese Kinder sich kaum erklären können und auf das Verständnis der Erwachsenen angewiesen sind, s. a. Beitrag: Empathie und soziales Verstehen. Die erzieherische Feinfühligkeit und positive Entschlüsselung unterstützt das Gute im Kind.

Bregman hat mit diesem Buch eine ganze Menge gut analysierter Fakten gegen die immer noch gegenwärtige These des Philosophen Thomas Hobbes, dass der Mensch von Natur aus böse sei, vorgebracht. [1] Dem spannenden und erfrischend geschriebenen Buch ist eine breite Leserschaft zu wünschen, damit die ‚neue Geschichte der Menschheit‘ deutlicher ins allgemeine Bewusstsein dringt.

von Dr. Erika Butzmann

Über den Buchautor: Rutger Bregman

geboren 1988 in den Niederlanden, ist Historiker und Journalist und einer der prominentesten jungen Denker Europas. Bregman wurde bereits zweimal für den renommierten European Press Prize nominiert. Er schreibt für die «Washington Post» und die «BBC» sowie für niederländische Medien. www.rutgerbregman.com

Links zum Thema

Spielen, um zu fühlen, zu lernen und zu leben, André Stern, Elisabeth Sandmann Verlag

Die Kindheit ist politisch! Kriege, Terror, Extremismus, Diktaturen und Gewalt als Folge destruktiver Kindheitserfahrungen, Sven Fuchs, Mattes-Verlag

Empathie und soziales Verstehen, Dr. Erika Butzmann

weitere Informationen

[1] Im Spiegel-online-Interview von Lea Hensen, 11.4.2020, spricht Andy Neumann über die Natur von Kriminellen und sein Buch Der Mensch ist grundsätzlich böse, das anders sein soll als ein gewöhnlicher Krimi. Beruflich ermittelt er im BKA gegen Terroristen und in seiner Freizeit schreibt er Bücher.

Hier ein Auszug:
Neumann: Ich halte mich da an den Philosophen Thomas Hobbes, der den Satz geprägt hat: Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf. Ich glaube, dass der Mensch grundsätzlich böse ist und im Leben lernen muss, gut zu sein. So schwierig ist es also nicht, das Schlechte in uns zu finden und das aufzuschreiben. Im Übrigen sind alle Menschen fasziniert von dem Bösen. Allerdings sind sie das nach meiner Erfahrung immer nur so lange, bis es ihnen persönlich begegnet. Dann haben sie Angst oder sind entsetzt.

Anmerkung:
Auch diese Aussage von Neumann bestätigt die Fassadentheorie. Um dahinter zu schauen, warum der Mensch fasziniert vom Bösen ist, muss bekannt sein, welche  Ängste entwicklungsbedingt in den ersten Jahren auftreten. Zwischen 4 und 5 Jahren haben die Kinder diese entwicklungsbedingten Ängste (Butzmann 2020, S. 179) einigermaßen im Griff. Dann suchen sie mit einer gewissen Lust nach Gelegenheiten, ihre Ängste zu mobilisieren, um sie dann wieder in den Griff zu bekommen (Gürtler 1989, S. 61). Dies ist eine allen Menschen eigene Form, mit Ängsten zu spielen. Die ganze Jahrmarktsindustrie lebt davon. Das trifft jedoch nicht auf die Kinder zu, die von Beginn an eher ängstlich und sehr empfindlich sind.

Weitere Literatur:
Sozial-kognitive Entwicklung und Erziehung, Dr. Erika Butzmann, Psychosozial-Verlag Gießen, 2020
Kinderärger – Elternsorgen, H. Gürtler, Ravensburger Verlag, 1989