Unabhängig von der Eifersuchtsproblematik haben Geschwister unter sechs Jahren eine Vielzahl von Streitanlässen, die in ihrer engen Beziehung und dem unterschiedlichen sozial-kognitiven Entwicklungsniveau begründet sind. Die nachfolgenden entwicklungsbedingten Merkmale führen am häufigsten zum Geschwisterstreit in der Vorschulzeit. Die Flexibilität des Elternverhaltens ist hier gefordert. Um einfühlsam und gelassen mit Streitigkeiten zwischen Geschwistern umgehen zu können, ist es wichtig, dass Mütter und Väter selbst eine ausgeglichene Stimmung haben. Eine lange familiäre Trennung aufgrund einer starken beruflichen Beanspruchung in den ersten Lebensjahren der Kinder kann sich negativ auswirken.
Unterschiedliche sozial-kognitive Entwicklungsniveaus
- Insbesondere das Gerechtigkeitsdenken der Geschwister, die sich auf verschiedenen Entwicklungsniveaus befinden, führt zu Streitsituationen. Jedes Kind hat ein anderes Verständnis, die Zwei- bis Dreijährigen denken „Ich muss das bekommen, weil ich das will!“, die Vier- bis Fünfjährigen „Ich muss das bekommen, weil ich größer bin!“ und Eltern vertreten den Gleichheitsgrundsatz. Wenn das jüngere dann fast ein Schulkind ist, rückt das gerechte Verhalten der Eltern in den Mittelpunkt der geschwisterlichen Wahrnehmung. Erst wenn das ältere Kind 10 Jahre alt ist, kann es die unterschiedlichen Bedürfnisse der Geschwister berücksichtigen.
- Bei den Vorschulkindern erschwert das aus der egozentrischen Perspektive resultierende Gerechtigkeitsverständnis auch den geschwisterlichen Akt des Teilens. Da das Hauptmotiv zum Teilen, Freundschaft herzustellen oder zu erhalten bei Geschwistern nicht zur Wirkung kommt, gibt es Streit oder aufrichtige Ausflüchte, wie das folgende Beispiel zeigt:
Der 5-jährige Wolfgang hat eine Tüte mit Plätzchen geschenkt bekommen. Schon nach kurzer Zeit ist die Tüte leer. Die Mutter: „Sag mal, Wolfgang, du hast alles allein gegessen. Hättest du nicht auch mal an deine Schwester denken können?“ Darauf Wolfgang: „Hab‘ ich doch, Mami. Ich habe die ganze Zeit nur gedacht, hoffentlich kommt sie jetzt nicht herein, solange noch Plätzchen da sind!“
Die Bedürfnisse des anderen sind dem Kind bekannt, die eigenen stehen jedoch als vollkommen berechtigt im Vordergrund.
Die Beziehung zwischen beiden Bedürfnissen kann noch nicht hergestellt werden und das eigene negative Verhalten kann nicht bedacht werden.
- Bei Kindern bis ins fünfte Lebensjahr hinein lässt sich nicht unterscheiden, ob sie fabulieren oder die Wahrheit sagen, da sie in aller Aufrichtigkeit, entsprechend ihrer Wunschvorstellung über einen Konflikt berichten. Das ist entwicklungsbedingt angemessen. Die Empörung des älteren Kindes, das Fantasie und Wirklichkeit auseinanderhalten kann, ist ebenso entwicklungs-angemessen und berechtigt.
Die Nichtbeachtung dieser unterschiedlichen Fähigkeiten durch die Eltern ist Stoff für weiteren Streit, weil jedes Kind in seiner Position bestätigt werden will. Bestätigen Eltern nur vage jedes Kind und gehen eher mit der Betonung darüber hinweg, dass man nicht dabei gewesen sei und die Wahrheit nicht kennt, beruhigt sich die angespannte Lage.
- Wenn das ältere Kind einen Konflikt verursacht hat, sollte in den ersten fünf bis sechs Jahren keine Entschuldigung eingefordert werden. Wird das Kind dazu gedrängt, obwohl es sich im Recht fühlt, ist der nächste Konflikt schon vorprogrammiert. Die Bedeutung einer Entschuldigung erkennt das Kind erst, wenn es sich über die Perspektive des anderen im Klaren ist. Das ist zwischen sechs und sieben Jahren der Fall. Dann begreift es die Verletzung, die es dem anderen zugefügt hat und erkennt den Sinn einer Entschuldigung. Das trifft besonders auf Jungen zu; bei Mädchen wirkt die Gefühlsansteckung stärker, so dass viele von ihnen sich schon früher überzeugt entschuldigen können. Wenn Kinder von klein auf immer wieder aufgefordert werden, sich zu entschuldigen, wird daraus ein oberflächliches Lernen des Begriffs ohne Verständnis. Das Kind geht dann davon aus, mit einer Entschuldigung jedes Fehlverhalten abhaken zu können. Wirksamer ist das positive Vorbild der Eltern, ebenso wie beim Handgeben oder Danke und Bitte sagen.
- Das typische Machtstreben der Fünf- und Sechsjährigen ist ein ebenfalls häufiger Auslöser für Konflikte zwischen Geschwistern. Die Dominanzpartnerschaft im Spiel, also jeder bestimmt einmal, ist ein entwicklungsangemessenes und notwendiges Verhalten, das für die beteiligten Kinder unproblematisch ist, auch wenn es dabei zu Streitsituationen kommt. Meisten regeln das die Kinder untereinander, ansonsten müssen Erwachsene dazwischen gehen und die Bestimmer auf ihr störendes Verhalten hinweisen.
- Situationsbezogenes Denken und Wahrnehmen der Vorschulkinder führen auch dazu, dass ein Streit schnell vergessen ist und keiner Aufarbeitung bedarf. Eltern müssen bei heftigen Streitigkeiten nur für eine kurze Auszeit sorgen, dann spielen die Kinder schnell wieder zusammen. Während der Auszeit besteht die Chance, über den Vorfall nachzudenken. Nur unter solchen Umständen lernen die Kinder etwas über das eigene Konfliktverhalten und das der anderen.
Flexibilität des Elternverhaltens
Flexibilität bedeutet, Eltern greifen nicht ein, so lange nicht eins der Kinder in Not ist; beim Eingreifen wird nur die Situation geregelt, ohne viel zu schimpfen. Im Anschluss werden die Kinder getrennt in ihre Zimmer geschickt, damit die Köpfe wieder frei werden. Ein solch moderates Elternverhalten ist möglich, wenn die Hintergründe für den Streit der Kinder verstanden werden. Dann nervt der Streit auch nicht so. Wenn der Streit nervt, können die Kinder auch schon vor der Eskalation getrennt werden. Sie werden dann schnell wieder aufeinander zugehen und weiterspielen.
Schlüssel zur Konfliktentschärfung bei Geschwisterstreit
Die Berücksichtigung der besonderen Denkstruktur beim Vorschulkind bietet Eltern darüber hinaus Möglichkeiten zur Konfliktentschärfung bei Geschwisterstreit. Beispielsweise sind Kinder zwischen 2 ½ und 6 Jahren schnell zufrieden mit dem Vorschlag, sich in einer favorisierten Sache abzuwechseln. Das entspricht ihrer Fähigkeit, Dinge nur nacheinander bedenken zu können, nach dem Muster „Wenn-Dann“. Beim Streit um gerechtere Verteilung einer Sache hilft es, eines der Kinder aufzufordern zu teilen und dem anderen die Option zu geben, auszusuchen, welches Teil es nimmt. Das führt zwangsläufig zu einer gerechten Aufteilung. Beim Streit um einen Gegenstand hilft es, den Gegenstand wegzunehmen.
Eltern sollten später, wenn die Kinder größer sind nur eingreifen, wenn deutliche körperliche oder seelische Verletzungsgefahr besteht. Sonst können die Kinder die Fähigkeit zur Konfliktlösung nicht entwickeln. Geschwisterkinder brauchen ein gewisses Maß an „aggressiver Interaktion“ ohne Einmischung der Eltern. Besonders Jungen sind auf körperliche Auseinandersetzungen für ihr Wohlbefinden angewiesen. Wenn es Eltern gelingt, keines der Kinder deutlich vorzuziehen, vergessen die Kinder Streitigkeiten ganz schnell. Das Positive an ihrer Geschwisterbeziehung ist ihnen meistens bewusst, besonders wenn der Altersabstand zwischen ihnen nicht zu groß ist. Sie geben sich gegenseitig Sicherheit und sind im Spiel und im Notfall füreinander da.
Bei älteren Kindern hilft es, die Gefühle der Kontrahenten nach dem Streit zu thematisieren, die Absichten herauszufinden und gemeinsam nach Lösungen zu suchen. Wenn es Eltern dabei gelingt, ohne Schuldzuweisungen vorzugehen, ist der Streit der Kinder schnell vergessen.
Die offene Aussprache kann dazu führen, dass die Kontrahenten begreifen, wie weh es tut, von den Geschwistern ausgeschlossen oder ausgelacht, die Treppe heruntergeschubst oder geschlagen zu werden. Die immer fürsorgliche Schwester kann dann dazu stehen, wie oft sie Angst davor hat, geschlagen zu werden. Wenn Rachegefühle, Neid und Missgunst geweckt sind, darf nicht vergessen werden, dass die Beziehung der Geschwister nicht in Gefahr ist, vor allem dann, wenn Kinder ihre Eltern als fürsorgliche, verständnisvolle und authentische Erwachsene erleben. Wenn im Kinderzimmer wieder einmal heftig gestritten wird, hilft es den Geschwistern, wenn sie erfahren, dass Mutter oder Vater sie nicht als böse und missratene Kinder verurteilen. Denn sie erschrecken oft selber vor der Wucht ihrer Aggressionen und nehmen sich vor, weniger zu streiten. Ob das gelingt, hängt von der Häufigkeit des Stresses in der Familie ab.
Mit solchen Erfahrungen entwickeln Kinder dann Handlungsmuster, auf die sie später bei Konflikten zurückgreifen können.
Ein weiterer Grund für mehr Geschwisterstreit kann im unterschiedlichen Temperament liegen. Kinder, die eher außenorientiert sind, schnell mit Wutanfällen auf Einschränkungen reagieren, geraten auch schneller mit Geschwistern in einen Streit. Sie haben ein größeres Bewegungsbedürfnis und neigen zu Raufereien. Wenn beide Kinder diese Persönlichkeitsstruktur haben, kommt es schnell und häufig zu solchen Raufereien, die die Kinder lieben, die aber irgendwann zum Streit führen. Dann ist in jedem Fall das Trennen der Kinder und in die Zimmer oder nach draußen schicken angebracht.
Ist eines der Kinder eher ängstlich, muss es u. U. vor dem anderen hin und wieder geschützt werden. Prinzipiell kommen unterschiedlich veranlagte Kinder mit ihren verschiedenen Fähigkeiten jedoch gut zurecht, weil das Andere am Anderen interessant ist und das gemeinsame Spiel bereichert.
Unter dem geschlechtsspezifischen Aspekt gibt es Konflikte um Dominanz und Rivalität am häufigsten zwischen Brüdern. Bei Schwestern kommt das seltener vor. Bei Schwestern zeigt sich je nach Temperament das Bestimmer-Verhalten oder ein starkes Kümmern um die anderen, sowohl um die Mütter als auch um die jüngeren Geschwister.
Die Geschwisterbeziehung entwickelt sich positiv, wenn Eltern weitgehend unparteiisch sind und die Kinder ihre Gefühle den Geschwistern gegenüber frei äußern können.
Geschwisterstreit passiert häufiger, wenn eins der Kinder oder beide viel Stress haben, dann fungiert der andere als Ventil für die eigenen schlechten Gefühle.
Einflüsse, die Geschwisterstreit verstärken und die Beziehung belasten
Ein wichtiger Punkt, der die Geschwisterbeziehung belastet, ist das Gefühl eines Kindes, von Mutter oder Vater weniger geliebt zu werden. Eltern weisen das in der Regel von sich, die Kinder empfinden das jedoch so. Es ist normal, dass bestimmte Kinder Eltern näherstehen als die anderen, auch wenn Eltern das vermeiden wollen. Für dieses Empfinden gibt es verschiedene Gründe, wobei der häufigste sich darum dreht, wie ähnlich eines der Kinder einem selbst ist. Dann ist der Umgang mit diesem Kind einfacher und man ist dem Kind gegenüber positiver eingestellt.
Häufig ist das jüngste von mehreren Kindern der Liebling eines der Eltern. Auch das Temperament spielt eine Rolle. Ein fröhliches, kreatives und sozial kompetentes Kind macht mehr Freude als ein stilles, in sich zurückgezogenes Kind oder ein lautes und eher rücksichtsloses Kind. Ein stilles Kind wird dann vorgezogen, wenn Eltern häufig unter Stress stehen, weil diese Kinder keinen zusätzlichen Ärger machen. Das ist jedoch nicht vorteilhaft für das betroffene Kind, weil es sich bemüht, nicht aufzufallen und damit auf Dauer überfordert ist.
Ein größeres Problem entsteht, wenn eines der Kinder besonders hilfsbedürftig aufgrund von angeborenen Einschränkungen ist. In solchen Fällen müssten sich Eltern der Bevorzugung dieses einen Kindes bewusst werden, also diese Geschichte akzeptieren, um den Geschwisterstreit klein zu halten. Die Bewusstwerdung (das Entstehen, sich Entwickeln einer bewussten Haltung, Vorstellung von etwas) ist notwendig, um die Aufmerksamkeit dann gezielt auf das andere oder die anderen Kinder zu lenken. Das Lieblingskind kann dann durchaus protestieren, darf zurückgewiesen werden mit der Ansage, dass jetzt die anderen „mal“ dran sind. Das nutzt beiden, dem Lieblingskind und den anderen.
Streit der Eltern
Streit der Eltern fördert den Geschwisterstreit ebenfalls, weil die Kinder dadurch verunsichert und verängstigt sind.
Denn immer dann, wenn es den Kindern nicht gut geht, lassen sie dies an den Geschwistern aus.
Jüngere Geschwister sind dann das notwendige Ventil. Dass dies nicht in Ordnung ist, verstehen sie erst nach der Pubertät.
Die meisten Eltern wissen das und versuchen die Kinder zu beruhigen. Das Zeigen, wie man sich wieder verträgt, hilft dabei. Sind Eltern beim Streit der Kinder in solchen Phasen besonders nachsichtig, d. h. regeln sie die Situationen nur, ohne die Kinder zu kritisieren, werden diese allmählich wieder ruhiger.
von Erika Butzmann
Entwicklung der Geschwisterbeziehungen