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Zur 35. Jahrestagung der Gesellschaft für Psychohistorie und Politische Psychologie (GPPP)

„Es ist heute aufgrund einer breiten empirischen Forschung belegt, dass in der Zeit vor der Geburt und in den ersten drei Lebensjahren die Basis für die spätere Persönlichkeitsentwicklung gelegt wird. Es ist ebenso belegt, dass das Kind wegen seiner „Unfertigkeit“ bei der Geburt und der dadurch bedingten Hilflosigkeit auf eine umfassende Unterstützung und emotionale Ko-Regulation durch die Eltern und insbesondere die Mutter angewiesen ist. Die Möglichkeit, dass die Eltern und die weitere Familie einen solchen begleiteten Entwicklungsraum für die Kinder zur Verfügung stellen können, hängt entscheidend von der gesellschaftlichen Wahrnehmung der grundlegenden Bedeutung dieser Entwicklungszeit und den entsprechenden gesellschaftlichen Entscheidungen ab.

Zurzeit ist es aber so, dass aus unserer patriarchalen Geschichte heraus die Wahrnehmung für diese primär weiblich-mütterliche Dimension unseres Lebens eingeschränkt und unvollständig ist. Darum erfolgen auch die gesellschaftlichen Entscheidungen in Bezug auf diese Zeit aus einer einseitigen und unvollständigen Kenntnis dieser Lebenswirklichkeit. Ein Beispiel dafür ist das Überwiegen wirtschaftlicher Gesichtspunkte in Bezug auf die Frühbetreuung und eine zum Teil mangelhafte Berücksichtigung der Entwicklungsbedürfnisse des Kindes.“

Der Psychohistoriker Dr. med. Ludwig Janus, der die inhaltliche Moderation während der dreitägigen Online-Tagung der Studiengemeinschaft für Pränatale und Perinatale Psychologie und Medizin (ISPPM) vornahm, führte mit dieser Feststellung in das Programm ein. In seinem Vortrag stellte er ausführlich die Wechselwirkung zwischen kollektiven Kindheitsbedingungen in einer Gesellschaft und deren spätere Friedensfähigkeit dar.

Auswirkungen einer gewaltsamen Erziehung

Kindheit ist politisch - Foto Adobe Stock © Vera KuttelvaserovaDiese Wechselwirkung wurde in besonders erschreckender Weise deutlich durch den Vortrag von Sven Fuchs. Er schilderte die politischen und gesellschaftlichen Auswirkungen einer gewaltsamen Erziehung, die Kriege, Gewaltexzesse und Terrorakte zur Folge hatte und in anderen Gesellschaften auch heute noch hat. Die schlimmste Katastrophe in unserer eigenen Geschichte konnte Fuchs auf die von Gewalt und Vernachlässigung geprägten Kindheiten der Mörder und Mitläufer zurückführen. Ergänzt wurden seine Aussagen von Prof. Dr. phil. Peter Petschauer, der zur Entstehung autoritärer Persönlichkeiten forscht.

Was hoch belastende Kindheitserfahrungen immer noch in unserer Gesellschaft bewirken, wurde aus dem Vortrag von Prof. Dr. Franz Ruppert mit dem Titel „Wer bin Ich in einer traumatisierten und traumatisierenden Gesellschaft?“ deutlich. Er geht aufgrund seiner Erfahrungen in der Psychotherapie davon aus, dass die Bewältigung von Kriegstraumata sich über drei bis vier Generationen hinzieht.

Ein erstes Resümee zu all diesen Erkenntnissen mündete in der relativ hilflosen Feststellung: Obwohl es schon ein paar Jahrzehnte her ist, dass wir die gewaltsame Erziehung von Kindern im Wesentlichen hinter uns gelassen haben, gibt es aufgrund der „Vererbung“ schwerer Traumata über Generationen noch immer viele traumatisierte Menschen, die mit sich und anderen kämpfen.

Wege aus der Gewaltspirale

Diese Erkenntnisse führen schon seit den Studien zum autoritären Charakter von Adorno zu Überlegungen, wie eine solche Entwicklung gestoppt und das Ruder umgelegt werden kann. Heute sind wir sicher, dass in der frühen Entwicklung der Kinder der Schlüssel für eine psychisch gesunde und sozial kompetente Persönlichkeit liegt. So konzentrierten sich die weiteren Vorträge bei dieser Tagung der Psychohistoriker auf die frühkindliche Entwicklung.

Vorgeburtliche Einflüsse

Kindheit ist politisch - 3.Foto iStock © pascalgenestKonsequenterweise folgten dann Vorträge, die die pränatale und die Phase nach der Geburt in den Blick nahmen. Weit mehr als bisher angenommen, prägen die vorgeburtliche Zeit, die Geburt und die Monate nach der Geburt unser gesamtes Leben. Wie die Hebamme und Dipl. Pädagogin Sarah Burgard ausführte, hat die Bindungsentwicklung ihre Wurzeln in der Pränatalzeit. Vorgeburtliche Belastungen und eine traumatische Geburt können die Bindungsentwicklung nachhaltig stören. Die Hebamme Bettina Duesmann wies darauf hin, dass sich schon mit dem ersten Wissen von der Schwangerschaft die Beziehung zwischen Mutter und Kind entwickelt. Was bedeutet das für den Fall, dass die Planung über das Leben mit dem Kind bereits die frühe Trennung bei einer Fremdbetreuung einbezieht? In der Diskussion stellte sich die Frage, ob das Kind dann die Verbindung zur Mutter als sicher empfinden kann.

Frühe Kindheit in Institutionen

Wie die vorliegenden Studien der vergangenen Jahre zeigen, geht es den meisten Kindern in unserer Gesellschaft gut. Es wurden dabei Jugendliche befragt, die mehrheitlich keine Krippen besucht hatten und als Kleinkinder noch viel gemeinsame Zeit mit ihren Eltern verbrachten, denn ein Rechtsanspruch auf einen Krippenplatz besteht erst seit 2013. Seitdem werden jedoch immer mehr Kinder früher außerhalb der Familie betreut. Erst zukünftige Studien werden eine belastbare Auskunft darüber geben, wie sich eine länger andauernde frühkindliche Gruppenbetreuung auf die Kinder auswirkt. Nach den Ausführungen in den Vorträgen von Dr. med. Rainer Böhm und Burkhardt Behncke, Dipl. Pädagoge, zu den Risiken der frühen Krippenbetreuung sind höhere Krankheitsrisiken mit Verhaltensauffälligkeiten, Aggressivität und depressiven Zügen erwartbar. Denn die lt. Böhm fast zwangsläufig auftretenden frühen Stressbelastungen verhindern eine gesunde körperliche und psychische Entwicklung. Die von Behncke referierten differenzierten Studien bestätigten das. *weitere Vorträge zum Thema siehe Mediathek/Betreuung (Anmerkung der Redaktion)

Blick in den Krippenalltag

Über die Realität des Krippenalltags in einer sehr guten Krippe berichtete eine Waldorferzieherin. Sie reflektierte nachdenklich, was Eltern bewegt, ihre Kinder früh in die Krippe zu geben, bevor sie das eigene Kind ausreichend kennen.

Kinderärzte würden Eltern häufig darin bestätigen, dass dies richtig sei.

In der 3- bis 6-wöchigen Eingewöhnungszeit erleben die Erzieherinnen viel Achtsamkeit der Eltern und die Kinder fühlen sich wohl, solange die Eltern dabei sind.

Doch wenn der Krippenalltag greift, wird es schwierig für die Kinder. Wenn ein Kind gerade „angekommen“ ist, wird ein neues Kind eingewöhnt und die Aufmerksamkeit der Erzieherin ist nicht mehr ausreichend vorhanden.

Das Schlafen und Wickeln sind sensible Bereiche und das Gelingen verlangt sehr viel von den Kindern und den Erzieherinnen.

Kindheit ist politisch - Foto iStock © trioceanDie Kinder suchen immer die Nähe der Erzieherin und die Sehnsucht nach den Eltern ist spürbar. Sie berichtete von einem Kind, das die Brust bei der Erzieherin gesucht hat. Häufig verweigern sich Kinder nach der gelungenen Eingewöhnungsphase und wollen nicht mehr in der Krippe bleiben. Denn wenn die personelle Situation schwierig ist, sind die Erzieherinnen „durch den Wind“, was sich auf die Kinder überträgt.

Die Verantwortung ist den Erzieherinnen sehr bewusst und das belastet sie enorm; besonders dann, wenn sie merken, dass die Kinder ihre Bedürfnisse zurückstellen, still werden und sich zurücknehmen. All dies wäre in der Ausbildung zur Krippenerzieherin kein Thema gewesen. Stattdessen lernten sie, wie sie sich professionell verhalten und sich distanzieren können.

Familienpolitik statt Humankapital

Was Dr. jur. Jürgen Borchert, Sozialrichter und Politikberater dazu sagte, wirkte keineswegs beruhigend. Für ihn gehört das zur Wachstumspolitik. Die Ökonomie hält die Familien für ebenso ausbeutbar wie die Natur. Familien sind „Humankapital“, darum muss man sich nicht sonderlich kümmern. Deshalb ist es völlig in Ordnung, wenn die Verantwortung für den Nachwuchs outgesourct wird, damit alle Frauen arbeiten können. Der langfristige Schaden am Humankapital interessiert nicht. Die Familienpolitik beschränkt sich darauf, Sozialpädagogen und Erzieherinnen gut auszubilden; in die Bildung der Eltern wird logischerweise dann nicht investiert.

Die eingangs von Ludwig Janus erwähnte mangelnde Wahrnehmung für die primär weiblich-mütterliche Dimension unseres Lebens wurde von Borchert durch den Hinweis auf eine häufig schlechte Geburtshilfe bestätigt. Diese würde dazu führen, dass Mütter sich sagen „nie wieder“ und kein weiteres Kind mehr wollen. Solche und weitere Fehlverläufe in der frühen Kindheit führen zu dem, was Klaus Käppeli-Valaulta, Dipl. Schulpsychologe aus der Schweiz, mit seinem Vortrag „Systeme brechen Kinder – Kinder sprengen Systeme“ darstellte. Er zeigte am Beispiel eines solchen „Schadens am Humankapital“, wie lange es dauern kann, bis ein Kind seine frühen Stressbelastungen nach außen trägt: Es kam zur totalen Schulverweigerung, die erst nach einer 12 Monate dauernden Therapie aufzufangen war.

Aufforderung zu Verantwortungsbewusstsein

Kindheit ist politisch - Foto Adobe Stock © IztokAlle Vorträge und Diskussionsbeiträge betonten die dringende Notwendigkeit, die Gesellschaft und besonders die Verantwortlichen der Familienpolitik zu mehr Aufmerksamkeit und Verantwortungsbewusstsein für die frühe Entwicklung von Kindern in der Familie zu bewegen. Der Fokus muss weg von der staatlichen Betreuung der Kleinstkinder in den Krippen und sich auf die Familienerziehung konzentrieren, wie das im Ansatz bereits von den Frühen Hilfen der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung gemacht wird.

Denn auch bei Kindern aus schwierigen Verhältnissen scheint die frühe Fremdbetreuung nicht das gewünschte Ergebnis zu bringen. „Lange war die Kita ein Hoffnungsträger, man hat gehofft, Nachteile von Kindern durch den Kita-Besuch auszugleichen. Aber die Daten geben das nicht her“, ließ Heidemarie Rose, Abteilungsleiterin der Bremer Sozialbehörde und Leiterin eines solches Förderprogramms, kürzlich verlauten. (Quelle: Weser-Kurier vom 10.3.2021, Bremer Förderprojekt Brise wird verlängert)

von Erika Butzmann

Links zum Thema

Kindheit ist politisch, 35. Jahrestagung der Gesellschaft für Psychohistorie und politische Psychologie (GPPP) – 5. – 7. März 2021

Krippenstart – Tränen und Stress

Die Kindheit entscheidet

Rezension zum Buch: Eltern wollen Nähe – Verteidigung einer Sehnsucht