In diesem Jahr wurde der 2. Internationale Kongress Frühkindliches Trauma in Duisburg wieder über die Akademie Ottenstein ausgerichtet. Hochqualifizierte Fachpersonen wie der Neurobiologe Prof. Dr. Jörg Bock von der Universität Magdeburg, Psychotherapeut Matthew Appleton aus Großbritannien, Mary Coughlin, Intensivkinderkrankenschwester aus den USA, Thomas Kühn, Neonatologe aus Berlin, die Professorin für Psychiatrie und Verhaltenswissenschaften Julie Larrieu aus den USA und der Hamburger Gynäkologe, Geburtshelfer und Psychotherapeut Dr. Wolf Lütje fokussierten sich vor allem auf perinatale Stresserfahrungen während der Schwangerschaft und Geburt.
Frühkindliche Traumata erkennen, verstehen und begleiten – Impulse aus Forschung und Praxis.
Die Vielfalt der internationalen Beiträge verdeutlichte, wie universell die Herausforderungen rund um frühe Traumatisierungen sind – aber auch, wie groß das Potenzial ist, durch interdisziplinäre Zusammenarbeit neue Erkenntnisse, Präventionsansätze und Gedanken zu gewinnen und wirksamere Unterstützungsangebote für betroffene Familien zu entwickeln. In Vorträgen, Fallbeispielen und Diskussionen wurde deutlich, dass das Verständnis für perinatale Stressbelastung in der klinischen Praxis noch vertieft werden muss – besonders im Hinblick auf Langzeitfolgen für Bindung und Entwicklung.
Insbesondere wurde das Thema Frühgeburt als kritisches Lebensereignis für das betroffene Kind und deren Eltern dargestellt. Aus eigener Erfahrung als Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin und Mutter von frühgeborenen eineiigen Zwillingen kann ich unterstreichen, dass nicht nur für das unreife Kind, sondern auch für dessen Eltern eine wochenlange intensivmedizinische Behandlung eine große Belastung ist, die traumatisch verarbeitet wird. Nicht nur die viel zu frühe Trennung zwischen Mutter und Kind ist belastend, sondern vor allem die Ohnmacht von Eltern und Kind, die intrusiven-medizinischen Eingriffe, die beunruhigende Atmosphäre auf der Neonatologie, Licht, Lärm, die angstbesetzte Atmosphäre, elterlicher Stress und der Stress der Fachkräfte, mangelnder Körperkontakt und zu wenige Eltern-Kind-Interaktionen. Die Folgen sind häufig eine Posttraumatische Belastungsstörung bei Eltern und Kind, die bei den unreifen Kindern zu gehirnphysiologischen Veränderungen führen können, was wiederum in Regulationsstörungen und in ein schwieriges, impulsives Verhalten mündet, die eine sichere Mutter-Kind-Bindung erschweren können. Vor dem Hintergrund frühen traumatischen Stresses erhöht sich somit zudem das Risiko von belastenden Bindungserfahrungen.
Umso erfreulicher ist es, dass es die oben genannten Fachkräfte gibt, die Präventionskonzepte entwickeln und ein Bewusstsein für das potenzielle Traumageschehen auf der Kinderintensivstation schaffen: Familienintegrierte Pflegemaßnahmen, d. h. das Einbeziehen der Eltern in die Pflege ihres Kindes, das Ermöglichen von Körperkontakt, mehr Empathie, Respekt und Verständnis von Seiten der Ärzte und des Pflegepersonals für die Bedürfnisse des frühgeborenen Babys und dessen Eltern können die negativen Erfahrungen auf der Neugeborenen-Intensivstation deutlich abmildern und sich somit schützend auf die (Gehirn-) Entwicklung des Kindes und positiv auf die elterliche Sensibilität auswirken.
Frühe Verletzungen – späte Narben
In ihrem Vortrag verdeutlichte die Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin Katrin Boger den Zusammenhang von frühen Verletzungen und späteren Narben. Schon vor der Zeugung des Kindes können unverarbeitete Belastungen und traumatische Erfahrungen der Mutter das ungeborene Baby beeinflussen. Die Hormone der Mutter, insbesondere das Stresshormon Cortisol, haben Auswirkungen auf die Gehirnentwicklung des Kindes. Nach der Geburt, insbesondere in den ersten Lebensjahren, sind kleine Kinder verschiedenen Risiken einer Traumatisierung ausgesetzt. Aufgrund der noch nicht abgeschlossenen Gehirnentwicklung können ausweglose Situationen in der frühen Kindheit lebenslange Spuren hinterlassen. Diese Erlebnisse sind nicht bewusst erinnerbar, sie werden im impliziten Gedächtnis und im Körpergedächtnis abgespeichert. Das frühe unverarbeitete Trauma, für das es keine Sprache und kein bewusstes Erinnern gibt, kann dann im Erwachsenenalter körperliche Symptome hervorrufen. Körperliche Beschwerden, wie beispielsweise Bluthochdruck, Verstopfung, Herzrasen etc. werden häufig nicht mit traumatischen Erlebnissen in Verbindung gebracht.
„Frühe Verletzungen führen zu Veränderungen in den Genen und in der Gehirnentwicklung. Sie beeinflussen wie wir uns, unsere Mitmenschen und die Welt wahrnehmen und steuern dadurch unsere Gedanken und unser Verhalten.“
Eine Integration der frühen seelischen Verletzungen kann mit der von Katrin Boger entwickelten „Integrativen bindungsorientierten Traumatherapie“ (I.B.T.) direkt am Kind oder am Erwachsenen erfolgen. Für eine Integration sei es niemals zu spät und niemals zu früh.
Scham und Beschämung in der frühen Kindheit
Die Psychologin Dr. Mauri Fries aus Leipzig stellte in ihrem Vortrag den Zusammenhang von Traumatisierungen und dem Gefühl von Scham her. Schamgefühle entstehen bei Kleinkindern zwischen dem zweiten und dritten Lebensjahr. Sie haben u. a. eine sinnvolle Funktion: Sie zeigen Grenzen auf und geben Orientierung im sozialen Umfeld. Welches Verhalten ist erwünscht? Welches nicht?
Scham ist – positiv betrachtet — ein (kulturelles) Regulationssystem zur Wahrung der (elterlichen) Grenzen, um im Rahmen sozial angepasstem Verhalten zu bleiben und somit nicht ausgeschlossen zu werden; ein Klebstoff der Gemeinschaft.
Problematisch wird es jedoch, wenn ein Kind sich unwillkommen und ungeliebt fühlt, in seinen Bedürfnissen missachtet, in seinen emotionalen oder körperlichen Grenzen verletzt wird. Erlebt es Gewalt oder Vernachlässigung oder setzen Eltern bei unerwünschtem Verhalten zu harsche Grenzen, reagieren mit Liebesentzug oder körperlicher Strafe, kann das Kind eine toxische Scham entwickeln. Bei dem Kleinkind entsteht ein Selbsterleben, welches mit Selbstablehnung und existenzieller Scham verbunden ist. Der verachtende Blick der Bezugsperson gräbt sich tief in das Selbstbild des Kindes und blockiert es in seiner Entwicklung. Das Kind internalisiert die Beschämung durch die Eltern, was zu einem Entwicklungstrauma führen kann.
Ein Kind benötigt Eltern, die deutlich machen können, dass gewisse Handlungen nicht in Ordnung sind, das Kind als Person aber dennoch geliebt wird.
Fazit
Eine hohe Feinfühligkeit der Bezugspersonen – vor allem in den ersten zwei Lebensjahren – bedeutet: Aufmerksame Begleitung und Wahrnehmung von Emotionen und Affekten des Babys und des Kleinkindes, können frühe Stressbelastungen unter und nach der Geburt deutlich abmildern. Mary Coughlin sagte dazu:
„Wir können nicht immer wählen, was und wann wir etwas tun, aber fast immer können wir entscheiden, wie wir es tun.“
Links zum Thema
Babygeplauder – Auch Babys erzählen Geschichten
Kinder denken einfach anders, 20 wegweisende Erkenntnisse der psychologischen Forschung, die das Familienleben leichter machen, Elisabeth Rose, Kösel-Verlag, München
Beschämung macht Kinder klein
Krankheitsscham – die verborgene Emotion