Bindungstheorie - Foto iStock © Peopleimages In der westlichen Welt ist es unstrittig, dass eine sichere Bindung an die primäre Bezugsperson, i.d.R. die leibliche Mutter, normalerweise als Garant für eine gute psychische Entwicklung gilt. Intensive Forschungen über mehrere Jahrzehnte bestätigen dies immer wieder und in der Praxis ist das Bindungsverhalten von Babys und Kleinkindern gegenüber der Mutter kaum zu übersehen. Das Bindungsbedürfnis kann als das empirisch bestabgesicherte Grundbedürfnis angesehen werden, gerade auch aus neurobiologischer Sicht.

Was will dann eine Wissenschaftlerin wie Heidi Keller mit ihrem Buch „Mythos Bindungstheorie“ bezwecken, wenn sie unter Heranziehung anthropologischer Forschungen die Bindungstheorie als Mythos bezeichnet? Eine Gegenrede zu diesem Buch von Erika Butzmann:

Heidi Keller will damit die Fachpraxis in den Krippen von den Anforderungen, die sich aus einer ‚unkritischen Rezeption der Bindungstheorie‘ ergeben, entlasten, wie sie auf Seite 19 in ihrem Buch schreibt. Ihre Kritik erfolgt, indem sie das Bindungskonzept ausschließlich aus kultureller Sicht betrachtet und die emotionale und kognitive Entwicklung des Kindes ausblendet. Ihre Argumentationskette bezieht sich dementsprechend auf ihre Erfahrungen in afrikanischen Ländern, wobei eine kritische Sicht der Bedingungen, unter denen viele der Kinder dort aufwachsen müssen, nicht vorhanden ist. Ebenso wenig beachtet sie die Tatsache, dass es den meisten Kindern in der westlichen Welt gut geht.

Kann ihre Sichtweise eine Standardempfehlung für unsere westliche Welt sein?

Heidi Kellers Hauptaussagen lauten:

Die Bindungstheorie sei ein Konglomerat an Versatzstücken, zusammengehalten durch eine bestimmte Erziehungsideologie, ihre Grundannahmen seien entweder diffus oder unklar, falsch oder ideologisch einseitig (S. 89). Die Bindungstheorie gelte bestenfalls für die westliche Mittelschicht, die Klassifikationen und Untersuchungsmethoden seien ungeeignet.

Der Universalitätsanspruch der Bindungstheorie sei unzutreffend. Sie begründet das mit dem kulturell andersartigen Aufwachsen der Kinder ohne spezifische Mutterbindung z. B. in Zentralafrika.

Sie kritisiert das Berliner Eingewöhnungsmodell bei einer Krippenbetreuung, das die Bindung zur Bezugserzieherin zum Ziel hat. Sie plädiert für das Aussetzen der Eingewöhnung und setzt auf die Bindungsfunktion der Kindergruppe, da sie dies für das Erfolgsmodell der afrikanischen Kindererziehung hält.

Zur Kritik an der Bindungstheorie

Wer die Komplexität und die intensiven Forschungen zur Bindungstheorie kennt, kann diese Kritik kaum einordnen. Heidi Keller bezweckt mit dieser Aussage, eine ‚neue‘ Bindungstheorie mit einem interkulturellen Schwerpunkt zu konzipieren, wie sie betont. Sie bedenkt dabei weder die psycho-soziale Entwicklung von Kindern, noch berücksichtigt sie, dass die ‚Erziehungstechniken‘ in der ganzen Welt sich unterschiedlich in ihren Differenzierungen ausgebildet haben, je nach erreichtem Zivilisationsgrad.

Wem nützt es, Altes durch etwas Neues zu ersetzen?

Bindungstheorie - Foto iStock © lisegagneBindungsverhalten hat zu Beginn nichts mit einer Erziehungsideologie zu tun, da dies vom Kind ausgeht. Ideologien können erst greifen, wenn die Kinder erzogen werden. Das ist in der Regel erst nach der frühen Bindungsphase gegen Ende des zweiten Lebensjahres der Fall, wenn sich das Kind selbst erkennt, aktiv die Umwelt erkundet, die Ichbezogenheit einsetzt und es langsam begreift, was die Eltern wollen. Wenn Heidi Keller die Bindungstheorie vornehmlich in der westlichen Mittelschicht verortet und für sozial schlechter gestellte Schichten nicht zutreffend hält, entgeht ihr offensichtlich, dass sich die Gründe für Erfolg und Misserfolg in der Erziehung mit der Bindungstheorie erklären lassen. Voraussetzung dafür ist, diese genau zu kennen, um keine falschen Deutungen vorzunehmen.

Zur Kritik an der Bedeutung der Mutterbindung

Bindungstheorie - Foto iStock © monkeybusinessimagesDer Kernpunkt ihrer Kritik am Universalitätsanspruch der Theorie bezieht sich darauf, dass sie die Bedeutung der Mutterbindung für das Kind und die Bindungshierarchie in Frage stellt. Dies würde einen hohen Druck auf die Mütter ausüben, wobei die Liste von Heidi Keller über die wissenschaftlich vorgegebenen Merkmale mütterlicher Feinfühligkeit in der komprimierten Darstellung eher überspitzt wirkt [S. 67]. Nicht auszuschließen ist jedoch, dass der heutige Druck auf junge Mütter durch eine nie dagewesene Flut von Informationen sehr hoch ist. Welche Rolle die überbordenden wissenschaftlichen Veröffentlichungen dabei spielen, ist noch nicht erforscht.

Ihre Kritik begründet Heidi Keller mit den andersartigen Erziehungspraktiken und Bedingungen des Aufwachsens bei nichtwestlichen und besonders bei zentralafrikanischen Kindern. Diese hätten ein großes Betreuungsnetzwerk, es könne vorkommen, dass ein Baby während der etwa 8 Stunden Wachzeit von 7 bis 14 Personen gehalten wird [S. 75]. Die Mütter tragen die Kinder über zwei Jahre hinweg meistens am Körper, dann werden andere kleine Kinder [die bis zu 5-Jährigen] zu Hauptbezugspersonen [S. 72]. Ein Blick- und Lächelkontakt zwischen Mutter und Kind fände nicht statt. Solche Konstellationen gäbe es in vielen dörflichen Kulturen der nichtwestlichen Welt; d.h. Kinder sind dort die Hauptbezugspersonen von Kindern [S. 72]. Die Beziehung zwischen Erwachsenen und Kindern seien häufig durch Regeln und Normen festgelegt und unterliegen Tabus (nicht in die Augen schauen, zu Boden schauen, Respekt zeigen). Das dadurch notwendige Zurücknehmen der Gefühle bei diesen Kindern sei lediglich eine kulturelle Variante der Intensität des Emotionserlebens [S. 83].

Die psychologischen Folgen der dauerhaften Unterdrückung von negativen Gefühlen beachtet Heidi Keller nicht.

Bindungstheorie - Foto iStock © sdominickUnter entwicklungspsychologischen und bindungstheoretischen Gesichtspunkten bedeutet dies folgendes: Wird ein Kind zwei Jahre am Körper der Mutter getragen, entwickelt sich durchaus eine primäre Bindungsbeziehung zur Mutter. Die rhythmisch motorische Stimulation und das rhythmische Sprechen der Mutter fördern das Bindungsempfinden  des Babys. Das entwicklungsfördernde Explorationsverhalten im zweiten Lebensjahr wird bei einem überwiegend getragenen Kind jedoch unterdrückt. Problematisch für die Entwicklung des Kindes wird dann der abrupte Übergang in die Kindergruppe, in der es von wenig älteren Kindern beaufsichtigt wird. Diese haben entwicklungsbedingt noch kein ausreichendes soziales Verstehen, werden also wenig empathisch mit den Kleinstkindern umgehen können. Durch die vorgegebenen Regeln und Normen funktionieren sie jedoch und sie werden den Druck von oben an die Kleineren weitergeben. Dies fördert ein Machtempfinden gegenüber den Schwächeren, was die Ohnmacht gegenüber den etwas Älteren vielleicht kompensiert. Eine solche Erziehung durch nur wenig ältere Kinder und die durch strenge Regeln charakterisierte Beziehung zu den Erwachsenen kann psychologisch betrachtet nur eine autoritäre Erziehungspraxis zur Folge haben. Es ist nicht auszuschließen, dass auch Gewalt gegenüber den Jüngeren ausgeübt wird.

Ist das Aufwachsen von Kindern kulturell beliebig?

Psychohistoriker forschen seit vielen Jahrzehnten, welche Folgen eine autoritäre und gewaltsame Erziehung für eine Gesellschaft hat. Dem entsprechend kann das Aufwachsen von Kindern nicht neutral als kulturell beliebig, sondern muss psychologisch, d.h. auch bindungstheoretisch betrachtet werden. Am Beispiel der von Heidi Keller favorisierten Nso- und Aka-Familien [S. 75 u. S. 83] aus Kamerun lässt sich das verdeutlichen: Das Auswärtige Amt warnt vor Reisen in dieses Land, weil es dort Terrorismus, kriminelle Übergriffe mit Waffengewalt und Todesfällen, vielfältige Betrugsdelikte und politisch instabile Verhältnisse gibt. So muss an dieser Stelle die Frage hinzukommen, warum so viele Menschen aus der nichtwestlichen Welt, insbesondere aus Afrika in die westlichen Länder flüchten.

Zur Kritik an der bindungsbezogenen Eingewöhnung in der Krippe

Bindungstheorie 1000 Tage - brain developmentDie Untersuchungsmethode der Bindungsforschung zur „Fremde Situation“ bezeichnet Heidi Keller als unethisch [S. 151], weil sie für die Kinder und die Mütter hoch belastend seien. In Konsequenz aus dieser Feststellung müsste sie auch die frühe Krippenbetreuung für unethisch halten, denn auch hier ist die Gegebenheit der „Fremde Situation“ sehr ähnlich und es leiden viele Kinder und Mütter. Doch dieses Problem löst sie mit einem kulturellen Schwenk, indem sie rein theoretisch der Kindergruppe die Bindungsfunktion zuspricht. Sie bringt jedoch keine Beweise dafür, dass dieses Modell irgendeinen langfristigen Erfolg zeigt. Zudem vergleicht Keller ursprüngliche kleine afrikanische Dorfgemeinschaften mit den Bedingungen in unserer hoch zivilisierten Welt. Beide Welten klaffen weit auseinander, so dass auch der beliebte Spruch für den Sinn der Krippen in den westlichen Ländern, dass jedes Kind ein afrikanisches Dorf zum Aufwachsen brauche, nicht zutreffen kann.

Die positiven Beispiele auf den Fotos im Buch aus den Kinderhäusern des Kibbuz sind situativ wirksame Aktionen, wo besonders ältere Kinder zu sehen sind, die sich in der Kindergruppe wohlfühlen. In den von ihr favorisierten, hierarchisch geordneten Kulturen würden die Kinder füreinander Verantwortung übernehmen und sich trösten [S. 123]. Verantwortungsbewusstsein ist bei Kindern unter sechs Jahren jedoch noch kaum erwartbar und das Trösten ist für die Kleinstkinder lediglich ein Überlebensmechanismus. Sie trösten andere Kinder über die Gefühlsansteckung oder wenden sich an eine Erzieherin, weil sie mitleiden und sich hilflos fühlen: Empathie und soziales Verstehen. Hier zeigt sich, wie wenig die Forschungen zur Gefühlsansteckung und die Wirkung der Spiegelneuronen bekannt sind und wie wenig stimmig die allgemeine Annahme ist, die Kinder würden in der Krippe sozial lernen. Dass ältere Kinder den Jüngeren bei Konflikten helfen, ist in jeder Kultur so, weil dies ein Bedürfnis – besonders der Mädchen – ist, insbesondere in der Zeit, wo die Gefühlsansteckung die Empathiefähigkeit noch weitgehend steuert. Daraus zu schließen, die Erzieherin sei in solchen Situationen überflüssig, lässt den Überblick über die Gesamtsituation vermissen.

Abwertung der großen Entwicklungstheorien vs. Grundbedürfnisse

Bindungstheorie - Foto iStock © RyanKing999Heidi Keller betrachtet die großen Entwicklungstheorien, wie die Bindungstheorie, die genetische Erkenntnistheorie von Piaget und die moralischen und sozial-kognitiven Entwicklungstheorien als historisch und nicht mehr gültig. Sie verkennt dabei, dass diese Theorien ebenso wie die psychoanalytische Entwicklungstheorie durch die neue Hirnforschung eindrucksvoll bestätigt werden. Die Gehirne der Menschen entwickeln sich seit tausenden Jahren nach dem gleichen Reifeprozess, so dass sich die Bedürfnisse der Menschen kaum geändert haben. Die Bindung an die leibliche Mutter ist ein Grundbedürfnis seit dieser Zeit. Wie schwierig es ist, über kulturelle Einflüsse bis in die Neuzeit diesem frühkindlichem Bedürfnis gerecht zu werden, verdeutlichte die 35. Jahrestagung der Gesellschaft für Psychohistorie und politische Psychologie im März 2021. An dieser kulturell begründeten Zurückweisung der Grundbedürfnisse des Kindes arbeitet Heidi Keller mit ihrem Buch „Mythos Bindungstheorie“ weiterhin.

von Erika Butzmann

Links zum Thema

Empathie und soziales Verstehen

Die erste Bindung – Wie Eltern die Entwicklung des kindlichen Gehirns prägen, Nicole Strüber – Rezension

Die ersten 1000 Lebenstage sind entscheidend, Quelle: Dee Dee Yates, TED-Talks zu Elternschaft, Erziehung und Bildung, Originalvortrag