Ist es nicht verrückt, dass einen die Vergangenheit nicht loslässt, obwohl man sie gar nicht kennt? „Vielleicht gerade deshalb“, resümiert ihre Schwester treffend, eine der Protagonistinnen im Film des Bayrischen Rundfunks „Auf dem Grund“ (zuletzt in der ARD ausgestrahlt). Ich möchte ihnen diesen Film ans Herz legen, da er mir besonders in Bezug auf die Kopplung traumatischer Erfahrung in ihrer Auswirkung auf familiäre Bindung sehenswert erscheint. Zudem wird in einfühlsamer Weise das Phänomen von Traumafolgen aus Kindheitstagen –die Krankheitsscham – behandelt, ohne dass dieser Begriff jedoch ausgesprochen oder in der Filmankündigung verwendet würde. Dies ist weniger verwunderlich, da der Begriff der Krankheitsscham erst neuerdings in die Fachwelt eingeführt wurde [vgl. 1]. Der Begriff findet, wie uns nicht zuletzt der Film plastisch vor Augen führt, noch viel zu wenig Beachtung. Eindrücklich wird jedoch gezeigt, wie wirkmächtig diese Emotion sein kann, wie sie Menschen nachhaltig verstört, ganze Familiengefüge zum Erliegen bringt – und zugleich unentdeckt und unerkannt bleibt.
Wenn man im Erdboden versinken will
Von Krankheitsscham ist, um es kurz auszudrücken, zu sprechen, wenn eine Person ihr Ansehen durch Erkrankung massiv in Frage gestellt sieht, einhergehend mit starken Wertlosigkeits- und Nichtigkeitsgefühlen [1]. Krankheitsscham ist, wie die ihr überzuordnende Emotion Scham, nur schwer zu greifen. Der Volksmund beschreibt treffend: Die mit ihr einhergehenden Gefühle als „sich in Luft auflösen wollen“, „im Erdboden versinken wollen“ oder auch „sich ins Mäuseloch verkriechen“.
Menschen, die unter Krankheitsscham leiden, tun fast alles, um diese Emotion anderen nicht zu zeigen – oft ist ihnen diese Emotion und das damit einhergehende Erleben selbst nicht mehr zugänglich, „sie sind ihnen häufig auch als krankheitsauslösende und- aufrechterhaltende destruktive Kraft nicht bewusst“ [2, S.70]. So auch in der im Film gezeigten Familie: Alle im System sind mitbetroffen, ohne wirkliche Ursachen für ihr teils rigides und unfreundliches Handeln benennen zu können.
Auf dem Grund – die Filmhandlung
Mitten in einem Rennen um ihre Olympiaqualifikation fällt die junge erfolgreiche Schwimmerin Anne unerklärlich zurück, versagt. Sie kann sich auch als Erwachsene diesen Vorgang nicht erklären. Als sie damals nicht weiter schwimmt, das Rennen unterbricht, sieht sie auf dem Boden des Bassins ein in Wirklichkeit nicht vorhandenes Kind liegen, dass sie meint retten zu müssen. Diese Vorstellung fand sie so aus dem Nichts gegriffen, so absurd, dass sie später als Erwachsene erzählt: „Ich habe mich geschämt, habe das niemandem erzählt. Ich dachte, ich bin verrückt!“ Annes Mutter bewegt sich, für den Zuschauer zunächst wenig erklärlich, zwischen Depression, Rückzug und Aggression. Besonders Anne hat unter dieser auch nicht besprechbaren, psychischen Sonderbarkeit der Mutter zu leiden. Erst als Anne ein Familiengeheimnis aufdeckt, in das sie tief verstrickt war, beginnen sich die Dinge und Vorgänge zu klären.
Traumafolgen aus Kindheitstagen
Wie viele Menschen, die von traumatischen Erfahrungen, die mit Verdrängen einhergehen, belastet sind, hat auch Anne, an Traumafolgen aus Kindheitstagen und damit einhergehender Krankheitsscham zu leiden. Anne entdeckt erst als Erwachsene und nach vielen Jahren stummen Leidens die Wurzeln ihres ihr selbst so unerklärlich erscheinenden Verhaltens.
Das Familiengeheimnis, das Trauma, daraus resultierende Krankheit und Krankheitsscham bestimmen das Leben der Familienmitglieder auf tragische Weise für Jahrzehnte massiv. Anne ist inzwischen Trainerin ihrer Nichte (Tochter ihrer Schwester), was die familiäre Dynamik in besonderer Weise ankurbelt. Ein ungutes Netz aus Krankheit, Scham und Schuld hat sich zwischen den Familienmitgliedern gesponnen: Im Film lässt sich nachspüren, atmosphärisch feinfühlig nachgezeichnet und schauspielerisch meisterlich umgesetzt, wie Krankheitsscham und Schuld familiäre Dynamik torpediert und aushöhlt, bis zu einer Grenze, an der Menschen glauben, so nicht mehr weiterleben zu können. Annes Mutter begeht einen Selbstmordversuch. Anne sucht detektivisch nach Antworten auf die vielen Fragezeichen und findet sie letztlich in ihrer gemeinsamen Vergangenheit.
Folgenreich: wie Trauma und Krankheitsscham Bindung schwer belasten
Annes Verhältnis zur Mutter ist schwer belastet. Die Mutter nimmt Unmengen Tabletten, zieht sich immer wieder in ihr Zimmer zurück, schließt sich ein: Das ist nicht besprechbar. Die Depression der Mutter wird nie explizit benannt. Auch die Mutter zeigt massive Zeichen von Krankheitssscham. Sie versteckt ihre depressiven Rückzüge unter „Nähen müssen“, taucht nach langer Zeit dann in der Familie mit vorgetäuschter Leichtigkeit auf. Der Zuschauer weiß eben so wenig wie Protagonistin Anne, woran die Mutter eigentlich leidet. Zugleich muss Anne gerade unter ihrer Mutter, die ihr immer wieder, oft grundlos, aggressiv begegnet, der sie nichts recht machen kann, leiden. Geradezu hasserfüllt überschüttet sie Anne mit Vorwürfen: „Ich hatte nicht soviel Glück wie du […], aber wenns drauf ankommt, hast du gepatzt, immer, wenns drauf ankommt.“
Wir erleben inszenierte Familienfeiern in scheinbarer Normalität: Und wieder und wieder bricht etwas durch, das ans Unausgesprochene mahnt, die Mutter entschwindet in ihr Zimmer, Anne gekränkt von dannen. Anne beginnt wiederholt unter ihr unerklärlichen Panikattacken zu leiden, und schämt sich für diese so sehr, dass sie keine Hilfe aufsuchen mag, verbirgt, was ihr widerfährt.
Krankheitsscham nimmt Anne gefangen.
Auch Annes Vater überspielt und hält mühsam Fassade aufrecht, eifrig unverdrossen zitiert er heiter Sprüche und Aphorismen: „Nicht alles, was wahr ist, soll gesagt werden.“ Voltaire wirft er ein und dem Betrachter wird beklemmend deutlich, dass hier wohl vieles gesagt werden müsste. Erst der Selbstmordversuch der Mutter und Dokumente in deren Schublade bringen Anne auf eine heiße Spur. Hättet ihr mich doch sterben lassen, dann wär ich jetzt bei ihm. Wer ist dieser „Ihm“, von wem spricht die Mutter nach ihrem Suizid? Offenbar ein Sohn aus der ersten Ehe der Mutter, der nicht mehr bei ihr wohnte und nur zu Besuch kam, als Anne 2 Jahre alt war … Anne findet durch ihre Recherchen heraus, dass dieser verschwiegene Halbbruder inzwischen verstorben ist. Offenbar ist er bei einem Schwimmunfall zu Tode gekommen, als Anne mit ihm im Wasser war und ihn nicht retten konnte, da er sich in Schlingpflanzen verfangen hatte. Diese Erfahrung war zu viel für Anne, sie hat sie traumatisch erlebt und mit Verdrängung kompensiert.
Krankheitsscham: die Kopplung von Krankheit und Scham
Jede Erkrankung kann mit belastender Scham einhergehen. Manche Krankheiten haben per se einen hohen Schamfaktor, in unserer Kultur etwa Haut- und Geschlechtskrankheiten sowie psychische Erkrankungen. Es lässt sich zwischen gesunder und belastender Krankheitsscham unterscheiden.
Definition: „Unter belastender Krankheitsscham soll hier das Sich-Schämen einer Person verstanden werden, das gekoppelt, synchron (oder im Anschluss) mit einer Erkrankung sowie ihren Symptomen und Folgen auftritt. Krankheitsscham wird, dem Verständnis des Leibphilosophen Hermann Schmitz folgend, als ergreifende Gefühlsmacht [Schmitz, 2007] aufgefasst, die das Subjekt gesamtleiblich, also körperlich, seelisch und geistig ebenso wie seinen sozialen Umraum betrifft und mit weitreichenden Folgen für sein Wahrnehmen, Denken, Fühlen und Handeln einhergeht. Belastende Krankheitsscham muss als tiefgreifende Lebensbeschwernis mit Beeinträchtigungen für die Lebensqualität gelten. Die mit dieser Emotion einhergehende Tendenz zum Verbergen, Verdecken, Abspalten erschwert medizinische und therapeutische Arbeit, die in Verbindung auftretende Beschämung ist oft schwer von Krankheitsscham zu trennen. Die Schwere und der Verlauf der Krankheitsschamdynamik hängen maßgeblich vom Krankheitsverlauf und den zur Verfügung stehenden Bewältigungsmechanismen (Copings) und Ressourcen sowie Bindungsfähigkeiten und sozialen Unterstützungsnetzwerken ab. Diese Kopplung von Krankheit und Scham kann zeitnah, flüchtig und kurz, partiell, aber auch dauerhaft und chronifiziert auftreten. Krankheitsscham kann sogar über die Krankheit hinaus andauern“ [1, S.20f].
Aber auch traumatische Erlebnisse, die massiv Verhalten und Erleben prägen, bergen ein hohes Risiko für Krankheitsscham. Anne hat das massive traumatische Erlebnis mit ihrem Bruder „vergessen“, sie weiß nicht einmal mehr, dass sie einen Bruder hatte. Erkennbar sind für das Gegenüber oft nur mit großer Achtsamkeit zu lesende Spuren der Krankheitsscham:
Ein verändertes Blickverhalten, eine andere Weise zu sprechen oder Veränderung in der Kopf- und Körperhaltung. Die meist unbewussten Handlungen sind geprägt vom Verbergen und sich auflösen Wollen. Wenn häufig kein Blickkontakt aufgenommen wird oder der Blick starr fixiert ist, kann auch das ein Hinweis auf Schamdynamiken sein. Der gesamte Körper kann gebückt und gedrückt und spannungslos wirken, Gestik und Gang gehemmt. Kognitive Prozesse wirken ebenso gehemmt, es kann zu Stottern und Verlust der Geistesgegenwart kommen [2] wie auch das Verstummen eine Ausdrucksform der Scham sein kann.
Erst wer die Wahrheit kennt, kann trauern
Annes Eltern lassen sie, so erfahren wir später im Film, nach dem Unfall im Verdrängen, da sie glauben, dass es für alle Beteiligten besser sei. So trauert die Mutter im Verborgenen um ihren großen Verlust und delegiert die Schuld unausgesprochen für den Unfall an Anne. Diese ist einer dauernden unterschwelligen Aggression der Mutter ausgesetzt, für die sie keine Erklärung findet. Ein Boden für Panikattacken und Flashbacks, die ihr ebenso unerklärlich erscheinen. Diese verstärken wiederum ihre Krankheitsscham. Eine tiefe Selbstverunsicherung beginnt. Wie viele Betroffene hat Anne den „Blick der anderen“, hier vor allem der Mutter, verinnerlicht, er wird zur vernichtenden Dauerpräsenz. Dem Blick der anderen kommt eine besondere Bedeutung in der Entwicklung von Krankheitsscham zu:
- Sowohl der elterliche Blick in der Säuglings- und Kindheitsentwicklung, aber auch die gesellschaftliche Reaktion auf Erkrankung [3].
- Andere sind maßgebliche Orientierungspunkte. So sehen Menschen ihre Krankheit gleichsam „im Blick der tausend Augen“ der anderen [3].
Bei belastender Krankheitsscham greifen Abwehrmechanismen, die von Betroffenen, oft unbewusst genutzt werden, um auslösende Situationen zu meiden [1 nach 4]:
- Die Krankheit, für die man sich schämt, wird verleugnet, verharmlost.
- Es wird ein Schuldiger für Krankheit und die damit verbundene Scham gefunden (Sündenbock).
- Verhärten, sich unangreifbar machen (Zynismus),
- Zurückfallen in kindliche Opferpositionen,
- Betroffene versuchen, unsichtbar zu werden, gehen in die Selbstaufgabe, um nicht angreifbar zu sein.
- Überanpassung, kein Widerspruch beim Arzt, perfektionistisches Umsetzen von Behandlungsanweisungen,
- Erkrankungen, lebensbedrohliche und unerklärliche, werden dissoziiert (abgespaltet), da die Wahrnehmung das subjektiv „Aushaltbare“ übersteigt,
- Betäubung durch Medikamente und Suchtmittel, um die mit der Krankheit einhergehende Krankheitsscham und andere Gefühle nicht spüren zu müssen
Emotionen, an denen man nicht arbeitet, werden im Körper eingeschlossen
Typisch für Menschen mit Krankheitsscham, so auch bei Anne, die Unfähigkeit, sich Hilfe zu holen. Wie viele Betroffene hat Anne Angst, von anderen für verrückt erklärt zu werden. Sogar vor ihrem Ehemann, der unter Annes Kühle und Abgeschlossenheit leidet, sie betrügt, hat sie eine Fassade der Undurchdringlichkeit aufgebaut. Anne wirkt seltsam isoliert und einsam, in ihrem Gefängnis der Gefühle, die nicht nach Außen dringen sollen. Nicht selten gehen mit den Folgen der Krankheitsscham Partnerschaftsprobleme einher.
Wenn das Gefühl „Ich bin schuld“ zum Teil des Selbst wird
Nicht jeder Mensch, der ein Trauma oder eine chronische Erkrankung erleidet, leidet in der Folge an Krankheitsscham. Besonders betroffen sind Menschen, die ungute Bindungserfahrungen gemacht haben. Auch hier kann der Inhalt des Films als typisch gelten: Die Mutter erleidet über ihren Verlust ihres Sohnes eine schwere Depression und Anklagehaltung, die massiv in die Bindung zu ihrer Tochter einfließt. Oftmals ist das Ausmaß, das Krankheits-und Traumaerfahrungen in die Mutter-Kind-Beziehung wie überhaupt in die familiären Beziehungen spielen, noch therapeutisch wenig berücksichtigt [5].
Nicht selten entstehen Entwicklungstraumata, die mit der ihnen einhergehenden Tendenz zur Abspaltung zu einem Teil der Persönlichkeit werden [6].
Anne saugt dieses der Krankheitsscham oft zugrundeliegende Gefühl „Ich bin schuld“ von Kindesbeinen an auf. Es scheint förmlich Teil ihres Selbst zu werden. Die Mutter ist in ihrer Erkrankung, für die sie (vielleicht auch aus Scham) keine Hilfe holt, ebenso gefangen und letztlich nicht zu einer guten Bindung zu ihrer Tochter fähig. Im Gegenteil fühlt sie sich als Opfer dieser Tochter. So ist Anne weder in der Lage, bei der Mutter Hilfe zu suchen noch bei anderen, sie stellt sich lange stumm in Frage und hält ihre Symptomatik für selbst verursacht. Sie kompensiert, indem sie eine erfolgreiche Schwimmtrainerin wird. Wenn dann Belastung hinzukommt, wie im Film verpasste wichtige Termine, Unmut des Kollegen etc. wird die Krankheitsschamspirale enger.
Befreiend zu erleben, wie Anne das Netz der Sprachlosigkeit zunehmend aufdeckt, „auf den Grund“ geht
Auch in der therapeutischen Szene ist das Phänomen der Krankheitsscham wie auch der Scham noch ein unterrepräsentiertes, wenn nicht übersehenes [7]. Wie sehr man Anne und ihrer Mutter einen einfühlsamen Therapeuten oder Therapeutin wünscht! Denn es mag gelten:
„Die Tür zu unbewussten, nicht erkannten oder geleugneten Inhalten öffnet sich langsam, wird nicht aufgestoßen, wenn der Prozess heilsam sein soll. Denn wer will schon auf einen Schlag erkannt und durchschaut werden.“ [8, S.303]
von Waltraut Barnowski-Geiser
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