
„Mama, warum kommst du nicht?“
Dieser Erfahrungsbericht einer verunsicherten Mutter erreichte die Redaktion von fürKinder. Da ähnliche Erlebnisse häufig in Blogs und sozialen Medien geteilt werden, haben wir eine Expertin um eine Stellungnahme gebeten – sowohl als konkrete Hilfestellung für die Mutter als auch zur fachlichen Einordnung der Kita-Eingewöhnung.
Das Berliner Modell im Kita-Alltag
Unsere eineiigen Zwillinge, fast drei Jahre alt, sollten nach dem Berliner Modell eingewöhnt werden – ein Standard in vielen deutschen Kindergärten. Aus Sicht des Kindergartens galten sie als „große Jungs“, denn die meisten Kinder in Brandenburg beginnen die Eingewöhnung bereits mit einem Jahr.
Vorbereitungsgespräch und erste Zweifel
Im Vorgespräch betonte ich, dass mir eine sanfte Eingewöhnung wichtig ist, dass wir keinen Zeitdruck hätten und dass meine Kinder das Tempo bestimmen sollten. Beim Gespräch saßen wir draußen im Garten, die Kinder spielten frei um uns herum. Die zukünftigen Bezugserzieher:innen traten betont cool, locker und verständnisvoll auf. Ich hatte ein gutes Gefühl, wobei ich im Nachhinein sagen kann, dass mich mehrere Dinge schon beim Eingewöhnungsgespräch stutzig machten.
Beispielsweise machte mich die Frage, ob ich mich gut trennen könne, nachdenklich. Meine Kinder, als Frühchen geboren, hatten eine schwere Anfangszeit. Der Kaiserschnitt und fünf Wochen auf der Neonatologie waren für uns alle traumatisch. Doch bei ihrer Oma, die sie schon früh zwei Tage in der Woche betreute, fiel mir die Trennung leicht, weil ich wusste, dass sie gut umsorgt und sicher gebunden waren. Also sagte ich: „Ich kann mich trennen, wenn ich weiß, dass sie sich hier sicher fühlen.“ Darauf erfuhr ich: „Sichere Bindung ist Sache der Eltern.“ Meine Irritierung blieb nicht unbemerkt, und so beruhigte mich die Aussage: „Wenn man vier Wochen Zeit hat, dann ist das schon lang.“
Auch war die Gesprächszeit nicht ausreichend, um beide Kinder ausführlich zu besprechen – rückblickend war dies ein Vorbote für die kommenden Herausforderungen.
Die ersten Tage: Ein hoffnungsvoller Start
Die Eingewöhnung startete bei Sommerwetter. Meine Jungs genossen den großen Spielplatz, und ihre Bezugserzieher:innen schienen bemüht, ihnen Aufmerksamkeit zu schenken. Julius war neugierig und unbeschwert. Er erkundete alles, während Jasper Nähe suchte. Beide konnten sich anfangs gut von mir lösen, und ich hatte das Gefühl, sie gut vorbereitet zu haben.
Nach zwei Stunden gingen die Kinder und ich müde nach Hause. Wie das Berliner Modell vorschreibt, folgte am 4. Tag die erste Trennung. Die Verabschiedung war absolut kein Problem, ich konnte für eine Stunde nach Hause gehen, was mir als Mutter ein sehr erleichterndes Gefühl gab. Der darauffolgende Tag allerdings war der Start unserer Eingewöhnungs-Krise.
Der Wendepunkt: Unfall und Unsicherheit
Die Trennung wurde auf zwei Stunden verlängert. Als ich nach einer Stunde ein ungutes Gefühl bekam und zurückfuhr, hörte ich schon von weitem Jaspers panisches Schreien: „Ich will zu meiner Mama!” Er war vom Klettergerüst gestürzt und hatte sich verletzt. Seine Bezugserzieherin erklärte, dass sie bereits in Erwägung gezogen hatte, mich anzurufen. – Ausgerechnet Jasper, über den wir beim Eingewöhnungsgespräch aufgrund seiner Unsicherheiten gegenüber anderen Kindern ausgiebig sprachen, war auf dem Arm seiner Erzieherin und ließ sich nicht beruhigen.
Jaspers Angst und mein Versprechen
Am nächsten Tag nahm das Drama dann richtig Fahrt auf. Jasper wollte –verständlicherweise – morgens nicht in den Kindergarten und sagte zu mir „Mama bleib bei mich!“ Ich versprach es ihm – ohne zu ahnen, wie viel Kraft und Energie es mich kosten würde, dieses Versprechen einzuhalten.
Schon beim Betreten der Garderobe begann Jasper zu weinen und klammerte sich an mich. Er sagte immer wieder, dass ich dableiben soll. Im Gruppenraum verstärkte sich sein Verhalten. Als die Bezugserzieherin auf ihn zuging, schmiegte er sich noch fester an mich. Sie bestand auf die Trennung, wie es das Berliner Modell vorsah, doch ich hielt mein Versprechen, bei ihm zu bleiben. Die Erzieherin betonte, dass sie nur ohne meine Anwesenheit eine Bindung zu Jasper aufbauen könne, während ich mich unter Druck gesetzt fühlte, den Bedürfnissen meines Sohnes gerecht zu werden. Es folgten noch Sätze wie: „Ich kann und will nicht mit dir in Konkurrenz gehen – als Mutter muss man sich auch trennen können – dein Sohn muss wissen, dass du jetzt nicht mehr den ganzen Tag Zeit für ihn hast – er muss lernen, dass auch ich ihn beruhigen kann.“
Ich sagte noch einmal, dass ich ihm versprochen habe zu bleiben und dass ich mein Versprechen nicht brechen werde. Einerseits nickte die Erzieherin zustimmend, andererseits wollte sie unbedingt die Trennung herbeiführen, indem sie betonte: „Verabschiede dich und Jasper kommt zu mir auf den Arm!” Die Situation eskalierte …
Die Erzieherin sagte immer wieder: „Tschüss Mama, gib ihn mir.” und ich sagte, überwältigt und überfordert von der Situation: „Nein, das fühlt sich nicht richtig an”. Sie antwortete: „Ja, ich weiß.“ usw.
Schließlich schrie Jasper weinend: „Mama, geh nicht, ich habe Angst!” Ich blieb. Draußen auf einer Bank beruhigten wir uns beide. Die Erzieherin kam hinterher und fragte: „Vertraust du mir nicht?“ Ich überlegte.
Grundsätzlich hatte sie ja schon einen Vertrauensvorschuss von mir bekommen. Hatte ich wirklich ein Vertrauensproblem? Konnte ich nicht loslassen? Übertrug ich meine Trennungsängste auf meinen Sohn? Gleichzeitig sah ich Julius im Garten des Kindergartens alles alleine erkunden. Die Erzieherin sagte zu mir: „Dein Sohn spürt natürlich deine Unsicherheit und Trennungsangst.“ Natürlich spürte er diese.
Doch wenn Jasper sie so deutlich spürte und ich diese auf ihn übertrug, weshalb konnte sich Julius so frei bewegen?
Ich antwortete der Erzieherin, dass es mir nicht um fehlendes Vertrauen zum Kindergarten geht.
Mein Anliegen ist, das Vertrauen meines Sohnes in mich zu bewahren.
Niemals hätte ich einen meiner Jungs schreien lassen, als sie Babys waren. Jetzt waren es Kleinkinder, die ihre Gefühle schon weitestgehend benennen konnten.
Sollte Jaspers Angst einfach so abgetan werden? Weshalb sollte ich ihn nun schreien lassen? Ich versetzte mich in seine Lage: Für Jasper war es eine unübersichtliche Situation. Er hatte schon immer Angst vor fremden Kindern, bat mich darum, bei ihm zu bleiben, und als die Erzieherin den Druck aufbaute und er auch meine Überforderung spürte, bekam er vermutlich Panik. Er schrie und artikulierte seine Angst. In einer solchen Situation von seiner Mutter verlassen zu werden und sich von einer fremden Person trösten lassen zu müssen, wie furchtbar ohnmächtig müsste er sich fühlen? Ich wollte meinen Sohn vor diesen schlimmen und überwältigenden Gefühlen schützen. Ich sah es als meine mütterliche Pflicht an.
Ab diesem Tag zog sich die Bezugserzieherin von Jasper zurück.
Sie versuchte nicht mehr sein Vertrauen zu gewinnen und suchte auch zu mir keinen Kontakt mehr. Ich blieb täglich etwa eine oder zwei Stunden bei meinem Sohn bis er sich sicher fühlte, er im Spiel war und es ok war, dass ich ging. Ohne Weinen. Ohne Geschrei. Ohne „Abpflücken“ von meinem Arm. Es brauchte weitere fünf Wochen bis Jasper mit der Trennung gut umgehen konnte.
Julius gerät ins Abseits
Während ich mich auf Jasper konzentrierte, geriet Julius in den Hintergrund. Mit seiner scheinbaren selbstbewussten Art den Kindergarten zu erkunden, blendete er alle – auch mich.
Sein Bezugserzieher war nach der ersten Eingewöhnungswoche zwei Wochen krank, und es gab keine Vertretung. Später war er aufgrund eines Studiums häufig abwesend.
Julius wurde still und fast unsichtbar – er galt als unkompliziert. Spielte für sich, ging aber weder mit den Erzieher:innen oder den anderen Kindern in Kontakt. Er hatte niemanden an den er sich wenden konnte, wenn er Hilfe brauchte. So machte er im Kindergarten alles mit sich alleine aus, was als „selbstbewusst” fehlgedeutet wurde.
Aus dem früheren lebensfrohen und neugierigen Jungen wurde innerhalb kürzester Zeit ein stiller Junge, zu dem ich die Verbindung verlor. Ich sah Julius nicht mehr in seiner Not. Vermutlich spürte Julius unbewusst, dass ich keine Kapazitäten gehabt hätte, mich auch um seinen Trennungsschmerz zu kümmern.
Zuhause kam es in der Zeit häufig zu heftigen Wutanfällen. Die Wut richtete er aber meist nicht gegen mich, sondern gegen sich selbst: Er schlug sich, wollte wegrennen, sich verstecken und sprach davon sich „kaputtmachen” zu wollen. Körperkontakt ließ er kaum noch zu.
Mir blutete das Mutterherz, als ich sah, wie sehr er unbewusst nach meiner Nähe suchte und sie nicht mehr zulassen konnte.
Ich hatte Julius zu tief enttäuscht.
Die Schlüsselszene, die mich noch immer verfolgt, war, als Julius mich von der Schaukel rief: „Mama, warum kommst du denn nicht?“ Auf Anweisung der Erzieherin blieb ich sitzen. Julius verstand es nicht und verlor das Vertrauen, dass ich für ihn da bin.
Die Folgen und mein Umgang damit
Die Eingewöhnung ist nun drei Monate her. Jasper hat seine Trennungsangst überwunden und ist gegenüber anderen Kindern selbstbewusster geworden. Auch unsere Bindung wurde durch die schwierige Eingewöhnung noch einmal gestärkt. Er kann sich jetzt sicher sein, dass ich ihn ernst nehme, für ihn da bin, vor allem in schwierigen Situationen.
Julius hingegen hat seine Unbeschwertheit verloren. Er ist stiller geworden, und unsere Verbindung hat gelitten. Ich versuche, das Vertrauen wiederaufzubauen, indem ich ihm Zeit und Aufmerksamkeit schenke. Wir haben sogenannte „Bindungstage“ eingeführt, an denen wir bewusst Zeit miteinander verbringen.
Ich habe ihm auch erzählt, dass ich weiß, dass ich ihn nicht gut im Blick hatte, dass er sich vermutlich was anderes von seiner Mama gewünscht hätte. Wir sprachen auch über die Szene als er auf der Schaukel saß, er mich rief und ich nicht kam. Er weinte. Ich entschuldigte mich. Wir drückten uns. Morgens anziehen will er sich immer noch nicht. Er will nicht in den Kindergarten, sagt er. Deshalb gehen meine Jungs nur meist an drei, maximal vier Tagen hin. An den freien Tagen kuscheln, spielen, toben wir, machen gemeinsam Mittagsschlaf oder machen einen Ausflug.
Bindung und Sicherheit statt starre Betreuungsmodelle
Ich bin mir bewusst, dass viele Einrichtungen – darunter auch dieser Kindergarten – mit Herausforderungen wie Personalmangel, Zeitdruck und Überlastung zu kämpfen haben. Dennoch zeigt meine Erfahrung, dass das Berliner Modell nicht immer den individuellen Bedürfnissen der Kinder gerecht wird. Erzieher:innen benötigen mehr Flexibilität, Zeit und Freiraum, um auf die ihnen anvertrauten Kinder wirklich eingehen zu können.
Als Mutter vertraue ich darauf, dass meine Kinder in einer Umgebung betreut werden, in der sie sich wohlfühlen und in der die Erzieher:innen sie liebevoll auffangen und beruhigen können. Meine Jungs haben jedoch gezeigt, dass sie mehr brauchten als ein starres Modell mit einer starren vierwöchigen Eingewöhnungsphase.
Die Ablösung vom vertrauten Alltagsgeschehen, das Kennenlernen der neuen Umgebung sowie der Aufbau von Vertrauen zu den Erzieher:innen und anderen Kindern – all das setzt konstante und verlässliche Betreuungspersonen voraus. Nur so können Bindung und Sicherheit entstehen, die für das Wohlbefinden der Kinder unverzichtbar sind.
Alle Eltern möchte ich ermutigen, auf ihr Bauchgefühl zu hören und die Bedürfnisse ihrer Kinder ernst zu nehmen. Als Mutter wünsche ich mir, dass ich nicht gegen mein Gefühl entscheiden muss, nicht unter Druck gesetzt werde, und dass meine Anwesenheit während der Eingewöhnungsphase niemanden verunsichert. Ich möchte mich nicht für unsere „Bindungstage” rechtfertigen müssen, denn ich fühle, dass uns diese besondere gemeinsame Zeit guttut. Eltern sollten die Freiheit haben, die Eingewöhnung so zu gestalten, dass sie sich für ihr Kind und sich selbst stimmig anfühlt – ohne starre Vorgaben, die diese wichtige Phase unnötig erschweren.
Wenn das Schema wichtiger ist als das Kind – Probleme bei der Kita-Eingewöhnung
Stellungname von Anja Braekow, 1. Vorsitzende vom Verband Kitafachkräfte Baden-Württemberg und Leiterin zweier Kitas in Südbaden.
Der Erfahrungsbericht einer Mutter veranschaulicht eindrücklich, wie herausfordernd die Kita-Eingewöhnung sowohl für das Kind als auch für die Eltern sein kann. Gleichzeitig ist eine stabile und gut begleitete Eingewöhnung der Schlüssel zu einer gelungenen Kita-Zeit. Sie spielt eine zentrale Rolle für die Bindung zwischen Kind, Eltern und pädagogischer Fachkraft.
In diesem Bericht werden zentrale Themen wie Bindung, individuelle Anpassungen des Berliner Modells sowie der Umgang mit Trennungsangst und Selbstregulation beleuchtet.
Das Berliner Modell: Theorie und Praxis
Das Berliner Modell ist eines der am häufigsten verwendeten Eingewöhnungskonzepte in deutschen Kindertageseinrichtungen. Es basiert auf der schrittweisen Annäherung des Kindes an die neue Umgebung, wobei die Eltern zunächst eine begleitende Rolle übernehmen. Die pädagogischen Fachkräfte bauen in dieser Phase eine vertrauensvolle Beziehung zum Kind auf. Die Dauer der Eingewöhnung variiert individuell, und eine Ausweitung der Trennungszeiten sollte erst erfolgen, wenn das Kind Vertrauen zur neuen Bezugsperson gefasst hat.
In der Praxis stoßen viele Kitas jedoch auf Herausforderungen bei der Umsetzung. Personalmangel, Zeitdruck und große Gruppen erschweren eine flexible, kindzentrierte Eingewöhnung. Im vorliegenden Bericht wird deutlich, dass die Kita eine schematische Vorgehensweise verfolgte und wenig Raum für individuelle Anpassungen ließ.
Individuelle Bindungsbedürfnisse erkennen und berücksichtigen
Jedes Kind bringt unterschiedliche Erfahrungen und Temperamente mit. Während einige sich schnell an eine neue Umgebung gewöhnen, benötigen andere mehr Zeit und die Sicherheit einer vertrauten Bezugsperson. Besonders sensible oder ängstliche Kinder brauchen eine behutsame Begleitung.
Die Mutter beschreibt, dass ihr Sohn Jasper frühzeitig zeigte, dass er sich unwohl fühlte und Sicherheit brauchte. Dies hätte als Hinweis darauf verstanden werden müssen, dass eine intensivere Begleitung durch die Mutter notwendig war. Stattdessen wurde die Trennung trotz offensichtlicher Überforderung forciert.
Auch für Eltern ist die Eingewöhnung eine emotionale Herausforderung. Bindungstheoretisch betrachtet, kann sich ein Kind erst dann auf eine neue Bezugsperson einlassen, wenn es sich sicher fühlt. Eine abrupte Trennung unter Tränen kann zu einer stressbelasteten Erfahrung werden, die das Vertrauen des Kindes nachhaltig beeinträchtigt. Eine flexiblere, an den Signalen des Kindes orientierte Eingewöhnung hätte in diesem Fall einen besseren Verlauf begünstigt.
Die Rolle der pädagogischen Fachkräfte
Die Reaktionen der pädagogischen Fachkräfte im Bericht lassen darauf schließen, dass sie eine standardisierte und wenig feinfühlige Herangehensweise verfolgten. Aussagen wie „Ich kann und will nicht mit dir in Konkurrenz gehen“ oder „Dein Sohn muss wissen, dass du jetzt nicht mehr den ganzen Tag Zeit für ihn hast“ verdeutlichen, dass die Bedürfnisse des Kindes und der Mutter nicht ausreichend berücksichtigt wurden.
Eine gute Eingewöhnung erfordert jedoch Empathie, Feinfühligkeit und die Fähigkeit, individuell auf das Kind einzugehen.
Ein besonders kritischer Punkt war der Unfall von Jasper während der Eingewöhnung. Gerade in dieser sensiblen Phase brauchen Kinder eine verlässliche Bezugsperson, die ihnen Sicherheit gibt. Dass die Fachkraft zunächst unsicher war, ob sie die Mutter kontaktieren sollte, zeugt von einer problematischen Haltung in Bezug auf die emotionale Sicherheit des Kindes.
Besorgniserregend ist zudem, dass sich die Fachkraft nach dem Konflikt aus der Beziehungsarbeit mit Jasper zurückzog. Dies widerspricht dem eigentlichen Ziel der Eingewöhnung – den Aufbau einer sicheren Bindung. Statt sich zurückzuziehen, wäre eine reflektierte Auseinandersetzung mit der Situation notwendig gewesen. Eine gute Kommunikation unter den Erwachsenen ist gerade in der Eingewöhnung essenziell.
Julius‘ Bedürfnisse wurden übersehen
Ein weiterer kritischer Aspekt ist die unbeabsichtigte Vernachlässigung von Jaspers Zwillingsbruder Julius. Während sich die Aufmerksamkeit auf Jasper konzentrierte, geriet Julius in den Hintergrund. Dies zeigt, wie wichtig es ist, auch vermeintlich „pflegeleichte“ Kinder im Blick zu behalten.
Besonders bedenklich war, dass sein Bezugserzieher über längere Zeit fehlte und keine Ersatzperson zur Verfügung stand. Ein Kleinkind, das sich zurückzieht, wenig Kontakt sucht und sich selbst überlässt, benötigt gezielte Zuwendung und Ansprache durch die Fachkräfte.
Die Verhaltensänderungen von Julius – zunehmende Stille, Rückzug und heftige Wutanfälle zu Hause – deuten darauf hin, dass er mit seinen Emotionen allein gelassen wurde. Pädagogische Fachkräfte sollten solche Signale sensibel wahrnehmen und gezielt darauf eingehen.
Handlungsempfehlungen für eine bessere Eingewöhnung
Aus diesem Fall lassen sich mehrere wichtige Erkenntnisse ableiten:
- Mehr Flexibilität in der Eingewöhnung Die starre Anwendung des Berliner Modells kann problematisch sein. Einrichtungen sollten individuell auf Kinder und Eltern eingehen und die Eingewöhnungsdauer anpassen.
- Sensiblere Kommunikation mit Müttern und Vätern: Eltern sollten nicht unter Druck gesetzt werden, sich zu trennen, wenn das Kind noch nicht bereit ist. Eine enge Zusammenarbeit zwischen Eltern und Fachkräften ist entscheidend für eine erfolgreiche Eingewöhnung.
- Mehr Reflexion in der Fachkräftehaltung Pädagogische Fachkräfte sollten regelmäßig ihr eigenes Handeln hinterfragen: Wird genug auf die Signale des Kindes geachtet? Wie werden Trennungsängste sensibel begleitet? Werden Konflikte mit Eltern professionell bewältigt?
- Verlässliche Bezugspersonen für jedes Kind Kinder brauchen in der Eingewöhnungsphase kontinuierliche Ansprechpartner*innen. Fehlt eine Fachkraft, muss eine geeignete Vertretung vorhanden sein oder die Eingewöhnung pausiert werden.
- Bindungsorientierte Eingewöhnung statt starrer Konzepte Kinder benötigen emotionale Sicherheit. Ein Kind, das weint und klammert, sollte nicht abrupt von der Mutter „abgelöst“ werden, sondern schrittweise Vertrauen zur neuen Umgebung aufbauen.
- Auch „stille“ Kinder im Blick behalten Kinder, die sich scheinbar gut anpassen, dürfen nicht übersehen werden. Ihr Verhalten kann täuschen, und sie benötigen ebenso Begleitung und Beziehungsangebote.
Fazit
Der Erfahrungsbericht zeigt, dass das Berliner Modell nur dann gut funktioniert, wenn es individuell angepasst wird. Kinder sind keine standardisierten Wesen, die sich nach einem starren Zeitplan eingewöhnen lassen. Vielmehr braucht es eine sensible, kindzentrierte und bindungsorientierte Begleitung durch Fachkräfte, die flexibel auf die Bedürfnisse der Kinder und Eltern eingehen.
In diesem Fall hätte die Kita von einem weniger schematischen Vorgehen profitiert. Eine flexiblere Eingewöhnung, ein engerer Austausch mit den Eltern und eine feinfühligere Reaktion auf die Bedürfnisse der Kinder hätten die schwierigen Erfahrungen verhindern oder zumindest abmildern können.
Pädagogische Fachkräfte tragen die Verantwortung, nicht nur ein Konzept umzusetzen, sondern Kinder in ihrer Einzigartigkeit wahrzunehmen und ihnen eine sichere Basis für den neuen Lebensabschnitt zu bieten. Nur durch Empathie, Flexibilität und eine enge Zusammenarbeit mit den Eltern kann eine erfolgreiche und stressfreie Eingewöhnung gewährleistet werden.
von Anja Braekow
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