Milchpulver statt Muttermilch 1a - Foto iStock © ArtMarieEin neues Werbeverbot soll Kinder vor Ungesundem schützen. Aber für Muttermilchersatz darf trotzdem weiter geworben werden?

In puncto Gummibärchen, Chips und Co. will der Minister jetzt durchgreifen: An Kinder gerichtete Werbung für ungesunde Lebensmittel mit zu viel Zucker, Salz oder Fett soll es in Deutschland künftig nicht mehr geben. Das nicht unumstrittene Vorhaben ist nach einem Gesetzentwurf des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) im Koalitionsvertrag fest verankert. Minister Cem Özdemir stellte die Pläne kürzlich öffentlichkeitswirksam vor und rechtfertigte sein Vorhaben mit ernährungsbedingten Erkrankungen wie Adipositas und Diabetes, die auf dem Vormarsch seien. „Gerade im Kindesalter wird Ernährungsverhalten entscheidend für das weitere Leben geprägt“, hieß es in einer Pressemitteilung seines Ministeriums. Darin wurde der Minister auch mit den Worten zitiert, dass „Kinder das Wertvollste sind, was wir haben – sie zu schützen, ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe und auch die Verantwortung des Staates“.

Wer schützt Interessen der Kleinsten?

So ist es, möchte man ihm zustimmend zurufen. Wie wunderbar, dass der Anspruch der Kinder auf ein gesundes Ernährungsverhalten jetzt endlich einmal von höchster politischer Ebene bedacht wird! Der Jubel bleibt einem allerdings umgehend im Halse stecken, wenn man den dicken Wermutstropfen erblickt, der weiterhin existieren darf: Denn ausgeklammert werden nach wie vor die Interessen der Allerkleinsten, die selbst von der Werbung noch nicht beeinflusst werden, und hier stellvertretend deren Eltern, vor allem die Mütter.

Lukrativer Markt für industriell hergestellte Babymilch

Gemeint ist der so riesige wie lukrative Markt für industriell hergestellte Säuglingsnahrung, der sich in den vergangenen zwei Jahrzehnten weltweit fast verdoppelt hat. Laut Bundeszentrum für Ernährung (BZfE) lag der Umsatz allein 2019 bei 55 Milliarden Dollar. Je nach Land investieren Hersteller zwischen fünf und zehn Prozent ihres Umsatzes in Marketingaktivitäten d. h. bis zu 5,5 Milliarden Dollar.

Auf diesen dicken Wermutstropfen aufmerksam gemacht hat nun kein geringeres Magazin als The Lancet, also eine renommierte englischsprachige Fachzeitschrift. In einer aktuellen Artikel-Serie zeigt das Magazin detailliert auf, welch riesiges Potenzial der Markt für Muttermilch-Ersatzprodukte darstellt und welche subtilen Taktiken die Hersteller anwenden, um junge Familien zum Kauf ihrer Produkte zu bewegen.

Irreführende Werbeaussagen

Bereits im vergangenen Frühjahr hatte ein Bericht der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zum wiederholten Male die Marketingstrategien der Säuglingsnahrungshersteller kritisiert. Auch die Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendheilkunde (DGKJ) beklagte im vergangenen Sommer in einem Positionspapier, dass Formula-Hersteller mit irreführenden und unzulässigen Aussagen zu den Inhaltsstoffen ihrer Produkte werben.

„Milchpulver ist ein Milliardengeschäft“

Worum geht es den Kritikern? Die gängigen Geschäftspraktiken verletzen den „WHO-Kodex“, das ist der Internationale Kodex zur Vermarktung von Muttermilch-Ersatzprodukten. Dieser Kodex soll das Stillen und junge Familien vor kommerziellen Interessen schützen „Denn Milchpulver zu vermarkten ist ein Milliardengeschäft, während an einer gelingenden Stillbeziehung niemand verdient“, betont das BZfE. Zugleich sei wissenschaftlich gut belegt, dass das Stillen lebenslange positive Auswirkungen auf die Gesundheit von Mutter und Kind hat, auch in Industrieländern wie Deutschland.

Neben diesen unmittelbaren und langfristigen gesundheitlichen Auswirkungen des Stillens auf Mutter und Kind, wobei das Stillen mehr ist als einen Säugling an der Brust Muttermilch trinken zu lassen, kommen die viel zu selten erwähnten sozialen, ökologischen und ökonomischen sowie volkswirtschaftlichen Vorteile der gesamten Gesellschaft zugute.

Sind Muttermilch-Ersatzprodukte gleichwertig?

Ein Blick auf die Inhalte macht es sichtbar: Die Fette in der Muttermilch bestehen zu 47 Prozent aus ungesättigten Fettsäuren d. h. sie sind sehr leicht aufzunehmen. Im Gegensatz dazu ist das Fett im Milchpulver schwer verdaulich und wird schlechter ausgenutzt. Der Milchzucker in der Muttermilch ist optimal auf den Organismus des Kindes abgestimmt und fördert das Wachstum von Lactobacillus bifidus. Dieses Bakterium sorgt für eine gesunde Darmflora, indem es pathologische Keime zurückdrängt. [1]

Die Ergebnisse vieler Studien legen einen kausalen Zusammenhang zwischen Nicht-Stillen und späterer Adipositas und Diabetes nahe. [2] Je länger gestillt wurde, desto seltener kam es später zu Übergewicht. Bereits 1999 wiesen Wissenschaftler darauf hin, dass die Wahrscheinlichkeit, später übergewichtig zu werden, bei Kindern, die länger als 12 Monate gestillt wurden, bei 0,8 Prozent lag.

Da derzeit in Deutschland 47 Prozent der Frauen und 60 Prozent der Männer übergewichtig sind, wie das BMEL schreibt, und bei Kindern und Jugendlichen 15 Prozent übergewichtig sind, sind die Zukunftsaussichten nicht gut, denn hinzu kommt noch, dass übergewichtige Frauen im Vergleich zu Normalgewichtigen kürzer stillen, obwohl gerade sie vom Stillen besonders stark profitieren. [3] Da bei übergewichtigen Frauen und Diabetikerinnen häufiger Stillprobleme auftreten, benötigen sie vermehrt auch professionelle Hilfe im Stillmanagement.

Nur „moralische Empfehlung“

Die Krux: der Kodex, der Werbung für industrielle Nahrung für Kleinkinder bis zu drei Jahren verbietet, hat weltweit nur den Status einer „moralischen Empfehlung“. In Deutschland ist er teilweise als EU-Verordnung in geltendes Recht umgesetzt. Werbung ist hierzulande daher nur für Säuglingsanfangsnahrung verboten. Folglich floriert der Markt für die Folgenahrung. Die Hersteller nutzen geschickt Wege in den sozialen Medien, um dort intensiv mit Schwangeren, jungen Müttern und Familien in Kontakt zu kommen.

Mitgehangen, mitgefangen?

Eine Anfrage beim BMEL, warum es hierzulande immer noch kein Werbeverbot auch für die Folgenahrung gebe, beantwortete die Sprecherin mit dem Hinweis, dass eine solche Möglichkeit „in dieser EU-weit geltenden Verordnung nicht eingeräumt“ würde. Mitgehangen, mitgefangen sozusagen. Mit anderen Worten: was die EU als Minimalstandard beschlossen hat, darf ein einzelnes Land wie Deutschland nicht überbieten. Stattdessen verweist die Sprecherin auf die „Nationale Strategie zur Stillförderung“, die die „Stillmotivation in Deutschland steigern und die Frauen nach ihrem individuellen Bedarf beim Stillen unterstützen“ soll.

Was taugt die Nationale Stillstrategie?

Dabei stellt sich die Frage: muss der „Kinderschutz“, von dem Cem Özdemir jetzt so publikumswirksam mit seinem geplanten Werbeverbot für Süßes, Fettes und Salziges aufzutrumpfen gedenkt, nicht auch Babys mit einbeziehen? Wer schützt die Allerkleinsten und natürlich vor allem ihre Mütter vor den aggressiven und subtilen Werbebotschaften der Formula-Industrie? Dass die Bemühungen der Nationalen Stillstrategie allein – so lobenswert sie (zusätzlich) sind – nicht mit einem generellen Werbeverbot für industrielle Babynahrung konkurrieren kann, zeigt allein schon die Tatsache, dass hierzulande nicht mal jedes zweite Baby vier Monate lang ausschließlich mit Muttermilch ernährt wird, sondern höchstens 40 Prozent. Die Empfehlung laute aber eigentlich sechs Monate, schreibt das Ministerium selbst auf seiner Website. Müsste es daher nicht alles daransetzen, um das selbst propagierte Ziel zu erreichen? Man trete „für eine weitere Berücksichtigung des WHO-Kodex in diesem harmonisierten, seit Februar 2020 geltenden EU-Recht ein“ und stehe hierzu „im Austausch mit der EU-Kommission“, versichert eine BMEL-Sprecherin. Immerhin. Ein vollständiges Werbeverbot gemäß WHO-Kodex wäre längst überfällig.

von Birgitta vom Lehn

weitere Informationen

[1] Handbuch für die Stillberatung, Mohrbacher, N., Stock, J., La Leche Liga Deutschland, 1. Auflage 2000

[2] von Kries, R. et al. „Breast feeding and obesity: cross sectional study.“ BMJ 1999; 319: 147-150, Doi: 10.1136/bmj.319.7203.147

[3] Elliott KG etal. „Duration of breastfeeding associated with obesity during adolescence.“ Obes Res 1997; 5(6):538-541, Doi: 10.1002/j.1550-8528.1997.tb00574.x.

Links zum Thema

Die Argumente in einer Infographik: The 2023 Lancet Series on Breastfeeding

Lesen Sie mehr über die unmittelbaren und langfristigen Auswirkungen des Stillens im Beitrag: „Stillen fördern – die Ziele der Agenda 2030 umsetzen“.

Natürliche Argumente für’s Stillen

Langes Stillen dient der ganzen Gesellschaft

Broschüre: Stillen – Für einen guten Start

Übergewicht schon im Mutterleib!

Stillen: So wichtig ist das Gewicht der Mutter. Adipöse Mütter stillen seltener und kürzer – aber warum? DocCheck, Forschern aus Pennsylvania, 2022

Brust vs. Flasche – Wie nah kommt Milchpulver ans Muttermilch-Original? Die in Muttermilch enthaltenen Nährstoffe sind perfekt auf Säuglinge abgestimmt. Diese komplexe Zusammensetzung versuchen Flaschenmilch-Hersteller zu imitieren. Doch welche Komponenten enthält das Milchpulver überhaupt und was sollen sie bewirken? Kathrin Burger, Spektrum, 2023