Vorbildlernen 10 - 123rf © oksun70Im Zusammenspiel der Vorschulkinder gibt es immer wieder Situationen, die deutlich machen, wie der Prozess des Übergangs von der unbewussten Nachahmung zum Vorbildlernen abläuft; zum Beispiel sagen Kinder zwischen vier und sechs Jahren manchmal:

Du machst mir alles nach, lass‘ das doch! Das angesprochene Kind sagt: Stimmt ja gar nicht!

Dem Kind ist seine Nachahmung nicht bewusst gewesen, es denkt jedoch über die Aussage des anderen nach und damit wird ihm seine Nachahmungstätigkeit bewusst. Gesteuert wird das jetzt zunehmende Bewusstsein über die eigene Nachahmungstätigkeit von der weiteren Entwicklung des Selbsterkennens. Mit vier Jahren beginnt das Kind, sich mit den anderen zu vergleichen in seinem Können und Wissen; was auch zum Nachdenken über das eigene Handeln führt. Die Nachahmungen der Aktivitäten anderer Kinder hat nun den Zweck, selbst so gut zu werden, wie die anderen. Um die anderen bereits als Vorbild zu nehmen, fehlt allerdings noch der reflektierende Abstand zur eigenen Person, der erst mit der Schulreife möglich ist.

Nachahmungsverhalten in der Familie

Nach der Phase des unbewussten Nachahmens zwischen zwei und drei Jahren, wonach die Kinder alles allein machen wollten, beginnen sie ab vier Jahre die Eltern genau zu beobachten, ohne dass diese es merken; denn das läuft einfach nebenbei. Erst wenn typische Sprüche oder Handlungen vom Kind nachgeahmt werden, kommt das zur Überraschung der Eltern zum Vorschein. Jetzt steuert jedoch das Interesse an den Handlungen der anderen Familienmitglieder die Nachahmungstätigkeit.

Der kleine Jannes beobachtet seine Mama ganz genau, wie sie sich am Telefon mit „Meyer“ meldet. Er nimmt sein imaginäres Telefon ans Ohr und sagt im exakt gleichen Tonfall „Meyer“. Auf die Frage wer denn Meyer heißt, antwortet er: „Das Handy“.

Dabei geht es weiterhin darum zu lernen und zu verstehen, wie etwas gemacht oder gesagt wird. Die alltäglichen Handlungen werden darüber von den Kindern unbewusst gelernt. Gezielte Nachahmungen kommen immer häufiger vor, wenn dem Kind bei einem älteren Geschwister oder den Erwachsenen etwas besonders auffällt, was es auch können will. Darüber kommt es zwischen fünf und sechs Jahren zum bewussten Vorbildlernen, wobei sich die Kinder an bestimmten Personen orientieren, die für sie eine besondere Bedeutung haben. In erster Linie sind es die Eltern. Da wird genau beobachtet, wie der Vater die Waschmaschine bestückt oder den Tisch deckt, wie die Mutter die Wäsche bügelt oder Kuchen backt, wie die Eltern mit Konflikten umgehen, wie sie über die Nachbarn reden, wie der Opa den Rasen mäht, wie der Nachbar ein Fahrrad repariert, wie die große Schwester ihre Schultasche packt oder wie der große Bruder mit seinem Freund umgeht.

Wie der kleine Ben, der die Oma mit einem Fingerzeig daran erinnert, ihre Schuhe beim Betreten der Wohnung auszuziehen: „Oma, Schuhe“.

Es wird geschaut, wann die Eltern Danke und Bitte und in welchen Fällen sie Entschuldigung sagen. Solche Umgangsformen lernen Kindern am intensivsten über das Vorbild der Erwachsenen. Ein zu frühes Antrainieren solcher Höflichkeitsformen führt eher dazu, dass diese häufiger vergessen werden. Hier können Erziehende darauf vertrauen, dass die Kinder über das vorbildliche Verhalten der Erwachsenen lernen. Es reicht dabei aus, im konkreten Fall das Fehlverhalten der Kinder zu thematisieren.

Geschlechtsbezogenes Vorbildverhalten

Vorbildlernen 11 - shutterstock © altanakaSobald das Kind sich über seine eigene Geschlechtsidentität sicher ist, orientiert es sich verstärkt an den gleichgeschlechtlichen Rollenvorbildern. Der Vater wird dann für die Jungen wichtiger und die Mutter für die Mädchen. Auch im Kindergarten tritt das gleichgeschlechtliche Vorbild in den Vordergrund. Die meisten Jungen spielen vornehmlich miteinander und die meisten Mädchen ebenso und lernen besonders von den älteren Kindern, wie sich Jungen bzw. Mädchen verhalten. Zu Beginn werden Geschlechterstereotypen eher rigide betrachtet und verstärken dadurch das geschlechtsspezifische Vorbildlernen.

Vorbildlernen des Schulkindes

Vorbildlernen 12 - iStock © waldruMit Schuleintritt zeigt sich der Entwicklungssprung auf allen Ebenen. Neben der neuen Ebene der kognitiven, emotionalen und sozialen Reife wird das Vorbildlernen differenzierter. Das Lebensumfeld der Kinder wird größer und auch der Einfluss von anderen Personen auf die Kinder nimmt zu. Das Vorbildlernen ist jetzt weitgehend bewusst und bezieht sich nicht mehr nur auf das direkte Nachahmen einer Aktion. Das Vorbild wird nun in die Gedanken und Weltvorstellungen des Kindes eingefügt und kommt häufig nur über Erzählungen zum Vorschein, wenn das Kind jemand anderen besondere Beachtung schenkt.

Die umfassendere Wahrnehmung des Grundschulkindes führt jetzt auch zur kritischeren Betrachtung des Familienlebens. Das Vorbildlernen bezieht sich jetzt auf alle Abläufe in der Familienorganisation, die vom Kind jedoch eher unterschwellig registriert werden.

Sie bemerken, wie die Wohnung sauber und in Ordnung gehalten wird, welchen Wert die Eltern der Ernährung beimessen, wie sie mit finanziellen Problemen umgehen, ob sie oft fröhlich sind oder eher sorgenvoll und wie sie für sich selbst sorgen. Wenn die Kinder guter Dinge sind, beteiligen sie sich an der Familienarbeit und üben damit das, was sie über das Vorbild der Eltern gelernt haben.

Dem Vorbildlernen in der Schule und in der Gleichaltrigengruppe kommt jetzt eine besondere Rolle zu. Damit wird das Vorbildlernen in der Familie ausdifferenziert und die Persönlichkeitsentwicklung des Kindes vorangetrieben.

Das bindungssichere Kind ist dann auch in der Lage, Vorbilder kritisch zu betrachten und orientiert sich dann eher an positiven Vorbildern.

Die Notwendigkeit gemeinsamer Zeiten für das Vorbildlernen

Es versteht sich von selbst, dass dieses Lernen auf gemeinsame Zeit mit den Vorbildern angewiesen ist.

Für das Lernen der Familienorganisation ist es von Bedeutung, dass die normalen Abläufe immer wieder von den Kindern erlebt werden können, weil das die Basis dafür ist, wie Kinder später ihren eigenen Hausstand führen.

Das Vorbildlernen ist dabei wirksamer als das frühe Antrainieren von Hausarbeiten. Je früher die Kinder diese Arbeiten unabhängig von ihrem Nachahmungsverhalten leisten müssen, je weniger nachhaltig ist dieses Lernen; besonders wenn es dabei häufig zu Konflikten zwischen Eltern und Kindern kommt. Wenn Eltern auf das Mithilfe-Angebot, das Kinder von klein auf zeigen, wie dies Natalie Rehm in ihrem Buch „Gehen, Sprechen, Denken“ sehr eindrücklich darstellt, immer wieder eingehen, wirkt das Vorbildverhalten der Eltern am besten. So wird sowohl die Motivation zur Mithilfe als auch die kindliche Selbstständigkeit gefördert.

Das volle Ausschöpfen des Potentials, über Nachahmung und Vorbild zu lernen, ist natürlich bei ganztägiger berufsbedingter Abwesenheit beider Eltern eingeschränkt. Der stressreiche Feierabend und die zwingenden Erholungszeiten an den Wochenenden und im Urlaub reichen zu einem umfassenden und persönlichkeitsstärkenden Vorbildlernen nicht aus. Das Vorbildlernen der Kinder in Gleichaltrigengruppen beschränkt sich auf die Dinge, die Kinder und Jugendliche machen, wozu allerdings eine positive Beziehung zu diesen Vorbildern nötig ist.

Erwachsene Betreuungspersonen, die eher im Hintergrund tätig sind, haben nur dann eine Funktion als Vorbild, wenn eine Bindung zum Kind entstanden ist.

Je weniger die Eltern als Vorbild zur Verfügung stehen, je eher neigen Kinder dazu, sich auch an negativen Vorbildern in der Umwelt zu orientieren. Ebenso wirksam ist natürlich auch ein negatives Vorbild durch die Eltern. Je nach Erfahrungen in der erweiterten Familie können Kinder mit zunehmendem Alter ein möglicherweise negatives Vorbild der Eltern kritisch betrachten und sich davon loslösen.

Das Vorbild der Eltern in digitalen Zeiten

Vorbildlernen 13 - shutterstock © Monkey Business ImagesDa digitale Medien faszinierend für Kinder sind, nehmen sie den Umgang der Erwachsenen damit ganz intensiv wahr, so dass das Vorbildlernen hier besonders gut funktioniert. Die Gefahr eines zu frühen und unreflektierten Umgangs mit digitalen Medien verdoppelt sich so für die Kinder dadurch.

Die Eltern sind für die Kinder bei häufiger und langzeitiger Beschäftigung mit dem Smartphone inaktiv und abwesend, geben also ein negatives Vorbild ab.

An den Reaktionen der Kinder ist das zu erkennen.

Die Kleinen werden unruhig und versuchen mit Störaktionen die Aufmerksamkeit der Eltern zu erreichen. Die größeren Kinder ziehen sich zurück oder nerven damit, dass sie auch ein Smartphone oder Tablett wollen.

Sind die Eltern auf die eine oder andere Weise nicht als Vorbild vorhanden, fehlt den Kindern ein wesentlicher Teil der Möglichkeiten, die Welt um sie herum zu verstehen.

von Erika Butzmann

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