Der Trend zur frühen institutionellen Erziehung ist m. E. unumkehrbar. Wir müssen uns ernsthaft fragen, wieso werden Kleinstkinder in die völlig unzureichend ausgestattete Kinderkrippe gegeben, obwohl wir wissen, dass diese Umstände sie zumindest behindern, wenn nicht sogar beschädigen. Wir müssen nach dem unbewussten Motiv für diesen Widerstand suchen.
Wider besseres Wissen – Unbewusste Motive für den Widerstand
Der Widerstand hat mit den „inneren Voraussetzungen” in den Eltern zu tun, nämlich mit ihrer Bereitschaft und Fähigkeit sich auf das abhängige Kind einzulassen, seine Bedürfnisse zu erkennen, ohne sich in ihnen zu verlieren oder angeödet zu sein, sich zu langweilen.
Und er hat mit den „äußeren Bedingungen” der Gesellschaft zu tun, auf die ich im Folgenden eingehen möchte:
- Dem Fehlen einer echten Wahlmöglichkeit in den ersten Lebensjahren zwischen Erziehungsarbeit und Berufstätigkeit.
- Sozialer Wohlstand und die Umverteilungssysteme der sozialen Marktwirtschaft ersetzen schrittweise die ehemaligen überlebenswichtigen Funktionen der Familie: Wesentliche Aufgaben an Dienstleistungen werden outgesourct. So etwa in der Altenpflege, Kinderpflege, unter der Geburt … und befreien den Einzelnen von familiären Bindungen.
- Der gesellschaftliche Stellenwert der Frauen misst sich an ihrer „Arbeitsplatzverwertbarkeit” für die Volkswirtschaft [vgl. 1].
- Fehlende gesellschaftliche Anerkennung der Familienarbeit, einseitige Anerkennung der Berufstätigkeit und mangelnder Respekt vor jungen Familien.
- Ausbleibende Förderung der Männer und einer grundlegenden Änderung der Elternschaft: leben zu dritt. Letzteres ist vermutlich der größte Mangel.
Woher kommen die Widerstände?
Ich möchte an dieser Stelle das „gesellschaftliche Unbewusste“ einbeziehen, weil es m. E. wesentlich den „Widerstand“ gegen Befunde und Studien erklärt, die die Risiken der Frühtrennung und institutionalisierten Frühbetreuung und die katastrophalen personellen Umstände unter denen Kleinstkinder versorgt werden, deutlich machen.
Das Bild vom Kind in der Gegenwart geht davon aus, dass ein Kind für seine Entwicklung Unterstützung braucht. Dieses Bild spricht von Einfühlung und Respekt gegenüber allem was im Kind vor sich geht, was es braucht.
Aber es gibt eine starke gesellschaftspolitische Tendenz, den Begriff „Unterstützung”, umzudeuten in „dem Kind von Geburt an frühzeitig etwas beibringen zu müssen”, wie Sprachen, Musik, Turnen, motorische Fertigkeiten, Selbstständigkeit, es frühzeitig sozial zu trainieren, es leistungsfähig zu machen, denn das Kind habe ein Recht auf Bildung! Nach der Devise „fördern und fordern”. Das können am besten Experten für Kinder. Dazu passt die Krippenbetreuung sehr gut. Die davon abgeleiteten Erziehungspraktiken und Bedingungen werden nicht nur von einer gewachsenen Empathie für kindliche Bedürfnisse getragen. Sie transportieren auch einen „unbewussten Aspekt des Bildes vom Kind”, der gesellschaftlich Unbewusstes also Tabuisiertes enthält [2], dass aus dem Bewusstsein der Gesellschaft verdrängt werden muss:
- Die Gesellschaft und ihre Mitglieder sind einer vorgegebenen Organisation ihres Lebens unterworfen, die hauptsächlich dem Konsum, der Sicherheit und dem Wohlstand dient. Die Bürger:innen sind „Organisationsmenschen”, die sich ständig ihre Zeit einteilen müssen, die flexibel und mobil sein sollen. Sie machen sich vor, sie hätten damit die Lage im Griff [vgl. 3].
- Die Bürger:innen sollen ihre „Angst vor Einsamkeit und Beziehungslosigkeit” nicht wahrnehmen, ihre Bedürfnisse nach individueller Zuwendung und Bezogenheit verleugnen. Es handelt sich um die seelischen Bewegungen, die der Unverbindlichkeit und Austauschbarkeit menschlicher Beziehungen ebenso der geforderten Flexibilität und Mobilität der modernen Leistungsgesellschaft im Wege stehen.
- Unsicherheit und Ungewissheit werden abgewehrt, denn im „Zeitalter der Information” sind das die am wenigsten tolerierten Geisteszustände. Coolness, Sicherheit, Kontrolle sind die Leitwerte der Informationsgesellschaft.
- Die Einzelnen unterwerfen sich der Mehrheit – auch, wenn sie anders denken, weil sie fürchten, geächtet und innerhalb der gesellschaftlichen Gemeinschaft isoliert zu werden: „Mit 12 Monaten in die Krippe. Es geht nicht anders, auch wenn es mir das Herz zerreißt.”
- Der weibliche-mütterliche Part im Mann soll nicht wirksam werden. Männer sollen die patriarchalischen* Machtverhältnisse erhalten und als ökonomische Außenvertretung der Familie verbleiben. In der öffentlichen Diskussion und häufig auch in den Medien wird ihnen auf primitive feministische/sexistische Weise unterstellt, dass sie die Pflege und Erziehungsarbeit nicht leisten wollen und können.
* männlich dominierenden
Vielleicht bietet aus diesen verschiedenen Gründen, die unbewusst bleiben sollen, die Politik den Eltern keine echten Wahlmöglichkeiten zwischen Familienbetreuung oder Fremdbetreuung an.
Zukunftsgedanken
Wenn ich in die Zukunft sehe, so hätte ich für die ersten Lebensjahre vor Augen, dass in den Familien ein „gleichgewichtetes Dreieck” entsteht zwischen Mutter-Vater-Kind. Väter und Mütter werden ganz selbstverständlich gleichberechtigt Verantwortung tragen und die Gesellschaft die familiäre Triade schützen.
Ich frage mich, wie kann es gelingen, in den ersten Lebensjahren die Frühtrennung, die Fremdbetreuung und den Rückzug der Eltern zu vermeiden?
Ich denke, der gesellschaftliche Beitrag könnte darin bestehen, dass sich „flächendeckend” die Krippen für die jungen Familien öffnen. Sie sollten eine respektvolle, freundliche Atmosphäre bieten. Dort könnte man täglich für einige Stunden gemeinsam den Alltag teilen in der Gemeinschaft mit anderen Familien. Man könnte gemeinsam spielen, denken, sprechen, essen, beobachten, voneinander etwas abschauen, auch Hinweise erhalten. Eine Kita für die ganze Familie. Raus aus der Isolation hinein in die Großgemeinschaft, die Anregung, Schutz und Hilfe bietet.
Ich denke daran, dass sich die Eltern „neue Werkzeuge” erschaffen müssen, die in erster Linie in der Fähigkeit bestehen, den Anderen unverzerrt wahrzunehmen. Dazu ist in der Regel die Hilfe von Dritten nötig, die diese Perspektive bestärken. In den ersten Lebensjahren ihrer Kinder sollten die Eltern unterstützt werden, sich zu üben im Nachdenken über ihre Kinder und sich selbst im Umgang mit ihren Kindern zu beobachten. Damit sie so wenig wie möglich an eigenen Ängsten und Erwartungen in die Kinder projizieren müssen und offen für das sind, was ihnen die Kinder entgegenbringen. Dann verschwinden Langeweile und Leere – besonders für Eltern mit eigenen frühen institutionellen Trennungserfahrungen.
Die Erzieherinnen im späteren Kindergarten sollten dies ebenso können: mit den Eltern gemeinsam nachdenken über das Kind, offen und fähig im gegenseitigen Austausch, Worte finden für das Erleben und Verhalten des Kindes.
Ich denke auch daran, dass die Berufstätigkeit in den ersten Lebensjahren der Kinder für beide Eltern gleichermaßen erhalten bleiben könnte, durch verkürzte Arbeitszeiten, Homeoffice, Neuerungen bei Arbeitszeitkonten, um Auszeiten etwa für Betreuungsaufgaben nehmen zu können. Vorausgesetzt, dass ein auf mindestens 24 Monate verlängertes Elterngeld die Einkommenslücke schließt.
Ich denke daran, dass Kindergärten für Kinder ab drei Jahren Orte sind, an denen ihnen genügend verständnisvolle Erwachsene zur Verfügung stehen sollten.
Wir registrieren den Kontextwandel für das Großziehen von Kindern. Wir leben in Mitteleuropa nicht in einer Weltregion, in der es um das nackte Überleben geht. Wir können uns eine empathische Reaktion auf (früh)kindliche Bedürfnisse leisten.
von Agathe Israel
Weitere Informationen
Dies ist ein Artikel der Beitragsserie „Wie Kinder heranwachsen – Einsichten, Irrtümer und die Lehren für die Zukunft“. Wenn Sie den Artikel in Gänze lesen möchten, finden Sie ihn in unserem Elternkurs im Baustein „Kindheit“.
Links zum Thema
Krippenkinder in der DDR. Frühe Kindheitserfahrungen und ihre Folgen für die Persönlichkeitsentwicklung und die Gesundheit, Agathe Israel, Ingrid Kertz-Rühling, Brandes & Apsel
Die Bindungsbedürfnisse von kleinen Kindern
Resilienz – Das Geheimnis der psychischen Widerstandskraft
„Findings for Children up to Age 4 1/2 Years“, Zusammenfassung der NICHD-Studienergebnisse in laienverständlicher Form
Kleine Kinder im Alter von 17 Monaten bis 2 Jahre und 5 Monate in kurzer Fremdbetreuung, Young children in brief separation, Robertson Films, UK