Wie Kinder heranwachsen (12) Prägende Kindheitserfahrungen - Foto iStock © bukharovaDie Erfahrungen in der frühen Kindheit wirken sich auf die nächste Generation aus, indem sie unbewusst weitergegeben werden.

Vor dem Hintergrund des Erziehungskonzeptes in der DDR müssen wir davon ausgehen, dass in ihrer frühen Kindheit für mindestens zwei, eher drei Generationen Familienzeit und individuelle Zuwendung gering waren, so dass wesentliche zwischenmenschliche Erfahrungsmöglichkeiten wenig oder kaum entstanden.

„Es bedarf spezifischer Kindheitserfahrungen, um spezifische Merkmale einer Kultur aufrechtzuerhalten; sobald die betreffenden Erfahrungen fehlen, verschwindet auch das entsprechend kulturelle Merkmal.” [1]

Es sind die basalen Erfahrungen, die das Kind mit einem verstehenden verantwortlichen Anderen macht, dem es sein Erleben übergeben kann, während seiner ständig wechselnden Befindlichkeit und Körperzuständen und den damit verbundenen Affekten und hormonellen Ausschüttungen.

Bis ein Kind selbst denken kann, muss ein Anderer sich einfühlen und übersetzen, fragen: „Was ist mit dem Kind?” und danach handeln.

Diese Erfahrungen bilden die unbewussten Phantasien oder anders gesagt, sie prägen die unbewussten Motive und Einstellungen und auch unsere Beziehungen zu anderen. Diese basalen Erfahrungen stellen die Weichen, ob wir uns hoffnungsvoll oder resigniert, ständig bedroht, in Verteidigung oder aufgehoben-sicher fühlen, ob wir uns impulsiv oder überlegt-reflektierend verhalten können. Weil ein Kind diesen Anderen erkennen „will”, entwickeln sich aus dem laufenden Dialog mit ihm das Denken, Intelligenz, erste Arbeitsmodelle über den Anderen und sich selbst.

Eltern und Kind befinden sich in ihrem Austausch, wie in einem Übergangsraum oder zwischenmenschlichen Bedeutungsraum, in dem die Welt gemeinsam entdeckt und Gefühle, Handlungen, Absichten des Anderen intuitiv verstanden werden.

Wie bereits erwähnt, begründet jede Epoche mit ihrem jeweiligen Bild vom Kind die Erziehungspraktiken und Erziehungsziele. Über die gesellschaftlich favorisierten Erziehungspraktiken werden ausgewählte Erfahrungen weiter gegeben an die nächste Generation.

Was Kinder zu empathischen Mitmenschen macht

Wie Kinder heranwachsen (13) Prägende Kindheitserfahrungen - Foto iStock © petrograd99Wir bringen zwar genetisch verankerte körperliche Voraussetzungen mit, aber sie müssen erst durch den „individuellen Eltern-Kind-Dialog”, ebenso durch sanfte körperliche Berührungen aktiviert werden: Die „Spiegelneuronen”, die in Regionen der Hirnrinde angesiedelt sind, sind eine der wesentlichen körperlichen Voraussetzungen für unsere Empathiefähigkeit, des Weiteren das „zentrale Belohnungssystem”, genauer Motivationssystem, eine Verbindung verschiedener Hirnstrukturen (sogenanntes mesocortikolimbisches System), das aktiv wird, wenn wir etwas Erfreuliches vorausahnen [2]. Der Überträgerstoff ist das Dopamin und des Weiteren der Botenstoff Oxytocin (gebildet im Hypothalamus), der stressmindernd, vertrauensbildend wirkt, Einfühlungsvermögen und Anteilnahme erhöht. Das geschieht vermehrt unter der Geburt, beim Stillen und Nuckeln, durch sanftes Streicheln.

Indirekt senkt Oxytocin den Cortisolspiegel und bahnt dadurch den Weg für differenziertes Fühlen und Nachdenken.

Alles zusammen macht das (Einfühlungs-)Vermögen aus, intuitive Vorstellungen und „vertrauensbildende” Gewissheiten über die Gefühle und Absichten eines anderen Menschen zu gewinnen, also die Fähigkeit zu einer Theorie of Mind.

Was Kinder antreibt, egoistisch zu handeln

Neben der Frühtrennung und dem damit verbunden Mangel an individueller Zuwendung gilt zu beachten, dass es in der DDR-Krippe und im Erziehungsprogramm um Gleichschaltung und Anpassung ging.

Die Art der Erziehung nach dem Erziehungsprogramm beförderte Konkurrenzsituationen, die – wie wir jetzt wissen – das emotionale Lernen und die naturgegebene Fähigkeit zum Altruismus ausbremsen.

Kinder, die mit Süßigkeiten, Spielsachen, Belobigungspunkten oder Geld belohnt werden, lassen sich zu Leistungen anfeuern, aber sie sind anderen Kindern gegenüber weniger großzügig und distanzierter, weniger kreativ, bieten weniger Lösungen an.

Wenn aus Kindern Eltern werden

So beklagen viele Eltern, die in der DDR groß geworden sind, Langeweile, Leere auch fehlendes Verständnis für die Äußerungen ihres Kindes. Sie könnten sich „einfach nicht einfühlen, selbst wenn wir uns Mühe geben“. Sie sprechen von Gereiztheit, weil sie sich durch das kleine Kind „angegriffen oder tyrannisiert“ fühlen, können nicht verstehen: „Was es denn noch will“. Sie erwarten Rücksicht und setzen eine Einsichtsfähigkeit voraus – „Immer wieder erklären wir es ihm doch“, die Kleinstkinder einfach noch nicht haben können. Manche leiden darunter, manche beschweren sich, manche begründen damit, weshalb sie ihr Baby so früh als möglich in die Hände von Expert:innen geben.

von Agathe Israel

Weitere Informationen

Dies ist ein Artikel der Beitragsserie „Wie Kinder heranwachsen – Einsichten, Irrtümer und die Lehren für die Zukunft“. Wenn Sie vor Veröffentlichung der Einzelbeiträge den Artikel in Gänze lesen möchten, finden Sie ihn in unserem Elternkurs im Baustein „Kindheit“.

 

Der Umgang mit den kindlichen Grundbedürfnissen heute und in der Menschheitsgeschichte

  • Vom Schmerz sich zu binden
  • Das Bild vom Kind

Frühe Kindheit: Was erleben und brauchen Kleinstkinder?

Erziehungskonzepte verstehen

  • Die Gleichschaltung von Familie und Institution
  • Die Folgen eines autoritären Erziehungsstils
    1. Die entscheidenden Merkmale der DDR-Erziehungspraxis
    2. Die Auswirkungen der DDR-Erziehungspraxis

Prägende Kindheitserfahrungen

  • Was Kinder zu empathischen Mitmenschen macht
  • Was Kinder antreibt, egoistisch zu handeln
  • Wenn aus Kindern Eltern werden

Frühe Trennungen in der Kindheit – eine gesellschaftliche Norm

  • Der gesellschaftliche Kontext für das Großziehen von Kindern
  • Der stille Kontextwandel der Erziehung
    1. Die Situation der Eltern
    2. Die Situation in den Krippen
    3. Die Situation der Erzieher:innen
    Szenen aus dem Krippenalltag

Krippenalltag und soziale Spannungen durch frühe Trennungen?

  • Stimmen der Eltern

Die Paradoxie der Erziehung

  • Gesellschaftliche Widersprüche

Aktuelle Erziehungstrends

  • Wider besseres Wissen – Unbewusste Motive für den Widerstand
  • Woher kommen die Widerstände?
  • Zukunftsgedanken
[1] De Mouse, L.: The History of Childhood, Psychohistory Press, New York, dt. Hört ihr die Kinder weinen – eine psychogenetische Geschichte der Kindheit, Suhrkamp, FF.a.M., 1994, S. 15.

[2] Bauer, J.: Das Gedächtnis des Körpers – Wie Beziehungen und Lebensstile unsere Gene steuern, Piper, München/Zürich 2004.

Links zum Thema

Krippenkinder in der DDR. Frühe Kindheitserfahrungen und ihre Folgen für die Persönlichkeitsentwicklung und die Gesundheit, Agathe Israel, Ingrid Kertz-Rühling, Brandes & Apsel

DDR-Erbe in der Seele – Kindheitserlebnisse verarbeiten, Interview mit Udo Baer

Die Bindungsbedürfnisse von kleinen Kindern

Resilienz – Das Geheimnis der psychischen Widerstandskraft

„Findings for Children up to Age 4 1/2 Years“, Zusammenfassung der NICHD-Studienergebnisse in laienverständlicher Form