Wie Kinder heranwachsen (1) Einsichten, Irrtümer und die Lehren für die Zukunft - Foto AdobeStock © IBEX.MediaWie Kinder heranwachsen, ob sie in Geborgenheit ihre Welt erobern können oder aber ohne sichere Bindung und Urvertrauen lernen, Dingen und Menschen zu misstrauen und sich von Ihnen abzukoppeln, prägt ihr gesamtes Leben, hinterlässt tiefe Spuren bis weit ins Erwachsenenalter.

Inzwischen ist das längst eine allgemein akzeptierte, wissenschaftlich nicht mehr bezweifelte Einsicht in die Bedeutung der (frühen) Kindheit. Umso erstaunlicher, dass die notwendigen Konsequenzen aus diesem gesicherten Wissen in der politischen und gesellschaftlichen Umwelt nach wie vor umstritten sind und oft genug ignoriert und hinter anderen Zielen und Wunschvorstellungen zurückgestellt werden.

Einen umfassenden Überblick über diese widersprüchliche Situation, ihre historischen und gesellschaftlichen Gründe und die Ansätze für Lösungen in der Zukunft gibt in den folgenden Beiträgen die Psychoanalytikerin Agatha Israel. Ihr Schwerpunkt in Forschung und Publikationen ist die Psychologie von Frühgeborenen, Säuglingen und der Eltern-Kind-Beziehung. Ausgehend von den wechselnden historischen Bedingungen der Kindheit und von den Erfahrungen mit der staatlich gelenkten Kindererziehung in der DDR blickt sie auf die frühe Kindheit von innen her, da sie in diesem Staat lernte, studierte und die längste Zeit ihres Lebens arbeitete und als Frau, Mutter und Bürgerin lebte. In dieser Beitragsserie hinterfragt sie die möglichen Veränderungen der Persönlichkeits- und Charakterstruktur, die eine frühe Trennung von Eltern und Kind mit sich bringt und wie dies sich auf das Sozialklima der Gegenwart auswirkt.

Lesen Sie in den folgenden acht Beiträgen dieser Serie, was Kinder für ein glückliches Leben brauchen, was sie zu selbstbewussten, empathischen Mitmenschen macht oder was sie antreibt, egoistisch und aggressiv zu handeln und wie gesellschaftspolitische Maßnahmen es möglich machen könnten, dass Mütter und Väter ganz selbstverständlich und ohne Benachteiligungen und unnötige Opfer für ihr Kind, ihre Kinder, gleichberechtigt Verantwortung tragen können.

von Redaktion fürKinder

Wie Kinder heranwachsen – Einsichten, Irrtümer und die Lehren für die Zukunft

Der Umgang mit den kindlichen Grundbedürfnissen heute und in der Menschheitsgeschichte

  • Vom Schmerz sich zu binden
  • Das Bild vom Kind

Frühe Kindheit: Was erleben und brauchen Kleinstkinder?

Erziehungskonzepte verstehen

  • Die Gleichschaltung von Familie und Institution
  • Die Folgen eines autoritären Erziehungsstils
    1. Die entscheidenden Merkmale der DDR-Erziehungspraxis
    2. Die Auswirkungen der DDR-Erziehungspraxis

Prägende Kindheitserfahrungen

  • Was Kinder zu empathischen Mitmenschen macht
  • Was Kinder antreibt, egoistisch zu handeln
  • Wenn aus Kindern Eltern werden

Frühe Trennungen in der Kindheit – eine gesellschaftliche Norm

  • Der gesellschaftliche Kontext für das Großziehen von Kindern
  • Der stille Kontextwandel der Erziehung
    1. Die Situation der Eltern
    2. Die Situation in den Krippen
    3. Die Situation der Erzieher:innen
    Szenen aus dem Krippenalltag

Krippenalltag und soziale Spannungen durch frühe Trennungen?

  • Stimmen der Eltern

Die Paradoxie der Erziehung

  • Gesellschaftliche Widersprüche

Aktuelle Erziehungstrends

  • Wider besseres Wissen – Unbewusste Motive für den Widerstand
  • Woher kommen die Widerstände?
  • Zukunftsgedanken

Der Umgang mit den kindlichen Grundbedürfnissen heute und in der Menschheitsgeschichte

Wie Kinder heranwachsen (2) - Der Umgang mit den kindlichen Grundbedürfnis - Foto iStock © ArtMarieSobald ein Mensch geboren wird und damit die körperliche Einheit mit seiner Mutter verliert, passt er sich – um zu überleben – mit allen Kräften, die ihm zur Verfügung stehen, an die Welt an. Weil die kindliche Welterfahrung sich anfangs noch sehr begrenzt auf seine unmittelbare Umwelt bezieht, richtet sich seine Anpassung auf deren wichtigste Repräsentanten: Mutter und Vater.

Die Anpassungsbemühungen des Kindes allein reichen jedoch nicht, um sein Überleben zu sichern, es braucht auch eine Umwelt, die sich dem Kind anpasst und auf seine Grundbedürfnisse ausreichend eingeht. Anfangs müssen sie ständig durch die Umwelt entlang der täglichen Versorgung und Pflege, Abwendung von Bedrohung oder Gefahr durch Krankheiten, ausreichende Ernährung und Schutz gestillt werden. Aber das alles reicht nicht aus, wenn die Liebe fehlt.

Es braucht Halt und Verstehen der Erwachsenen, ihre Fähigkeit zu fühlen und zu denken und angemessen zu handeln.

Das ist die Art von Liebe, auf die ein kleines Kind angewiesen ist, um sich entwickeln zu können. Sie wird ihm von den natürlichen Verantwortlichen seinen Eltern (und deren Vertretern) mehr oder weniger genügend gegeben und hat nichts zu tun mit Küsschen geben, erregenden Spielen, Training oder Herausputzen.

Elterliche Liebe zeigt sich in einer suchenden Haltung: Was erlebt und braucht unser Kind jetzt?

Die Erwachsenen müssen ihr Unwissen und ihre Unsicherheit, ein Leben in offenen Fragen aushalten, sich vornehmen: Das Kind und wir müssen die Welt gemeinsam noch einmal neu erschaffen. Das sind die notwendigen Bedingungen für ein Baby, um denken zu lernen. Davon weicht die verbreitete Vorstellung ab „Gute Mütter wissen immer und sofort, was ihre Kinder brauchen“ und „Gute Mütter sind deshalb selbstsicher, zufrieden und ausgeglichen“.

Vom Schmerz sich zu binden

Im Laufe der Menschheitsgeschichte stieg die Chance von Generation zu Generation als Neugeborenes zu überleben. Erst seit dem 20. Jahrhundert jedoch ist die Kindersterblichkeit so niedrig, dass es als Ausnahme gilt, wenn in Europa ein Kind nicht das erste Lebensjahr erreicht. Bis dahin schützten sich Eltern vor dem Schmerz, ihr Kind zu verlieren, indem sie sich an die Kinder weniger banden oder sie in den ersten Lebensjahren an Ammen und Pflegestellen weggaben oder sie ihnen noch keine Menschenwürde, kein menschliches Erleben und Fühlen zustanden, sie eher wie einen Haushaltsgegenstand betrachteten, den man abstoßen kann oder wie Tiere verkaufen kann. In der Antike war der Infantizid (Kindstötung) eine legitime Form, zu viele Kinder loszuwerden. Im römischen Kaiserreich nannte man Familia das Hab und Gut, dazu zählten Immobilien, Vermögen, ebenso Kinder, Tiere und Sklaven.

Das Bild vom Kind

Wie Kinder heranwachsen (3) - Öl auf Leinwand - Johann Baptist Lampi d. Ä. 1783- Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum InnsbruckAuch wandelte sich über die Jahrhunderte hinweg der Auftrag der Gesellschaft, den Kinder für Erwachsene zu erfüllen hatten. Im „Bild vom Kind“ transformierte jede Epoche ihr gesellschaftliches Unbewusstes – also das, was nicht ins gesellschaftliche Bewusstsein dringen sollte – und begründete damit ihre Erziehungsziele und -methoden [1].

Zum Beispiel diente das Kind mit seinen Bedürfnissen im Mittelalter unbewusst als Projektionsort für das Böse in den Erwachsenen, wie Völlerei, Gelüste, Brutalität. Die Erziehungsaufgaben zielten darauf dem Kind „das Böse” auszutreiben und sich selbst dadurch auf diese Weise befreien zu wollen. Oder in der Zeit der Aufklärung im 18. Jahrhundert bedeutete Erziehung, das „leere” Kind mit Wissen anzufüllen. Es ist noch gar nicht lange her, seit man Säuglingen und kleinen Kindern ein eigenes Erleben und Fühlen zubilligt. Dass erst so spät bis ins 19. Jahrhundert hinein kaum Interesse für die Psyche und das Bindungsbedürfnis von Säuglingen und Kleinkindern bestand, sie kaum als fühlend-denkendes Gegenüber behandelt wurden, hatte mit der hohen Kindersterblichkeit bis zum Ende des 19. Jahrhundert zu tun. Denn der Schmerz, sein Baby zu verlieren ist geringer, wenn man nicht so gebunden ist und im Kind noch eher ein Tierchen oder Engelchen sieht. Das Bild vom Kind bezog sich auf seine „Assozialität” und seine „Sozialisierung durch Erziehung”.

Erst in den 30er-Jahren des 20. Jahrhunderts erkannte man, wie Säuglinge auf einen lebendigen Austausch mit den pflegenden Erwachsenen – insbesondere seiner Mutter – angewiesen sind, um nicht zu verkümmern oder zu sterben, dass Säuglinge Beziehung brauchen, um zu überleben und dass Menschen vom Lebensanfang an ein seelisches und körperliches Schmerzempfinden haben [vgl. 2]. (Und dennoch erhielten erst in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts Neugeborene, wenn man sie operieren musste, eine Narkose.) In der 12 Jahre währenden Nazizeit beherrschte das Bild vom „stählernen deutschen Kind” die Erziehung, die körperliche und seelische Schwachheit überwindet [vgl. 3].

Den politisch sowie pädagogisch Verantwortlichen ging es in erster Linie um das „Heranzüchten kerngesunder Körper“, um die Vorarbeit zu soldatischer Kampf- und Opferbereitschaft, dem alle anderen erzieherischen Aspekte untergeordnet waren. Um ein nützliches, tüchtiges und zugleich gut verwendbares Mitglied der nationalsozialistischen Volksgemeinschaft zu werden, sollten die Kinder zu den typischen „deutschen (germanischen) Charaktereigenschaften” hin erzogen werden, wie: Anpassungsfähigkeit, Gemeinschaftssinn, Gehorsam, Fleiß, Verträglichkeit, Ordnungsliebe und Disziplin, Sauberkeit, Pflichtbewusstsein, Leistungsbereitschaft, Fügsamkeit und Ehrfurcht gegenüber Autoritäten, Liebe zum Vaterland und seinem Führer, Sparsamkeit, Verzichtbarkeit, Opfersinn, Härte usw. [4].

Ich zitiere diese Erziehungsziele deshalb ausführlicher, weil in beiden deutschen Staaten noch Jahrzehnte später, aber besonders systematisch in der DDR die postulierten Erziehungsziele im Sprachduktus* fast gleich lauteten. Deshalb könnte man davon ausgehen, dass trotz der unterschiedlichen politischen Verhältnisse in beiden Teilstaaten die Angst vor Bindung, Beziehung und Verletzlichkeit gesellschaftlich unbewusst bleiben sollte.

* Sprachduktus ist ein Ausdruck für die gesprochene oder geschriebene Sprache und bezeichnet den Sprachstil, das Charakteristische einer persönlichen Sprache, d.h. die Art zu sprechen, zu reden, zu schreiben.

Die Sensibilisierung für Bindung, Trennung und Abhängigkeit hat eine relativ junge Geschichte, die bereits wieder zu enden droht, denn der Zeitgeist Ende des 20. Jahrhunderts propagierte:

Alles ist machbar, alles ist ersetzbar, auch Beziehungen sind ersetzbar, austauschbar durch andere Personen oder Dinge. Nötig sind Flexibilität, Mobilität, Anpassung, überschussorientierte Produktivität und Konsum.

Konträr dazu standen die anwachsenden Erkenntnisse über die Beziehungsbedürfnisse vom Lebensanfang an, über die Einmaligkeit der frühen Eltern-Kind-Kommunikation, die das Kind lebenslang körperlich und seelisch prägen. Der gesellschaftliche Alltag machte es Müttern und Vätern schwer für ihre Berufung als Eltern da zu sein: ein individuelles Tempo zu finden, Zuwendung, Verstehen, Geduld, Einüben, also die individuelle Liebe zu geben.

In unserem Jahrhundert existiert ein Bild vom Kind, als einer Person, die Unterstützung braucht und deren vorhandene Anlagen Förderung brauchen. Davon ausgehend wurden Rechte des Kindes gefordert u. a. das Recht auf körperliche Unversehrtheit und besonders ein Recht auf Förderung und Bildung vom Lebensanfang an. Die davon abgeleiteten Erziehungspraktiken werden nicht nur von Empathie getragen, sondern bedienen auch Projektionen der Erwachsenen: Im Kind wird die Angst, sich nicht selbst verwirklichen zu können, sich nicht voll entfalten zu können, deponiert. Aber auch die Umkehrung ist anzutreffen: Die existentielle Angst, abhängig zu sein vom Wohlwollen anderer und die Angst vor Nähe, vor Verbindung, Identitätsverlust sobald man sich nahekommt.

von Agathe Israel

Weitere Informationen

Wenn Sie vor Veröffentlichung der Einzelbeiträge den Artikel „Wie Kinder heranwachsen – Einsichten, Irrtümer und die Lehren für die Zukunft“ in Gänze lesen möchten, finden Sie ihn in unserem Elternkurs im Baustein „Kindheit“.

[1] Als Begriff taucht das Unbewusste häufig im Alltagsgeschehen auf. Wir meinem damit das persönliche Unbewusste, und es wird nicht selten mit einem Augenzwinkern dafür verantwortlich gemacht, wenn wir uns unerwartet anders verhalten, einen Fehler gemacht, etwas unterlassen haben. Das gesellschaftliche Unbewusste enthält Gefühle, Themen und Umstände innerhalb einer Gesellschaft, die verdrängt werden und nicht ins Bewusstsein der Gesellschaft dringen dürfen, weil sie die bestehenden Kräfte, Werte, Moral aushebeln, stören könnten oder mit Zielen des bestehenden Macht- und Wirtschaftssystems kollidieren. Ein solches tabuisiertes Thema ist der Zweifel an der Notwendigkeit der frühen Fremdbetreuung für die frühkindliche Entwicklung in den ersten 24-36 Lebensmonaten.

[2] René Spitz 1995: Bilder über „Vom Säugling zum Kleinkind: Naturgeschichte der Mutter-Kind-Beziehungen im ersten Lebensjahr, Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 1996.

[3] Schleißinger, Alexander (o.J.): Der Kindergarten und die Nationalsozialisten – Auswirkungen der NS-Ideologie auf die öffentliche Kleinkindbetreuung in den Jahren 1933- 1945, http://www.kindergartenpaedagogik.de/1735.html (18.1.2016).

[4] Berger, Manfred: „Heil Hitler Dir! Du bist und bleibst der beste Freund von mir“. Zur Kindergartenpädagogik im Nazi-Deutschland (1933-1945) – unter besonderer Berücksichtigung der Fachzeitschrift Kindergarten (1933-1942) www. Kindergartenpaedagogik.de/fachartikel geschichte-der-kinderbetreuung, 2021.

Links zum Thema

Krippenkinder in der DDR. Frühe Kindheitserfahrungen und ihre Folgen für die Persönlichkeitsentwicklung und die Gesundheit, Agathe Israel, Ingrid Kertz-Rühling, Brandes & Apsel

DDR-Erbe in der Seele – Kindheitserlebnisse verarbeiten, Interview mit Udo Baer

Die Bindungsbedürfnisse von kleinen Kindern

Resilienz – Das Geheimnis der psychischen Widerstandskraft

„Findings for Children up to Age 4 1/2 Years“, Zusammenfassung der NICHD-Studienergebnisse in laienverständlicher Form