Obwohl die Phase noch nicht lange währt, in der sich Eltern um Bindung bemühen, sich intensiver auf das Erleben ihrer Kinder einlassen wollen, sie als Person und Gegenüber respektieren, haben sich in der Moderne die Elternliebe und die Gestaltung der ersten Lebensjahre erheblich verändert, weil die frühe institutionalisierte Erziehung und damit verbundene Frühtrennung der Kleinstkinder von ihren Eltern zur gesellschaftlichen Norm gehören.
Der gesellschaftliche Kontext für das Großziehen von Kindern
Der gesellschaftliche Kontext für das Großziehen von Kindern baute auf die primäre Bindung an die natürliche Autorität und Intuition der Eltern, also an diejenigen, die für das Kind verantwortlich sind, ohne dass wir darüber nachdachten. Er ist/war im wahrsten Sinne des Wortes eingewoben in unsere Vorstellungen über das Menschsein, existierte innerhalb unserer Kultur immer unsichtbar. Die „Notwendigkeit“ früher Fremdbetreuung, die zunehmend selbstverständlich als zum Aufwachsen gehörend angesehen wird, geht primär nicht von den Bedürfnissen der Kleinkinder aus.
Der kanadische Entwicklungspsychologe und Bindungsforscher Gordon Neufeld betont, wenn wir in unserer postindustriellen Gesellschaft mit ihren Erziehungs- und Bildungsmodellen diesen Kontext nun verlassen, weil wir Säuglinge und Kleinstkinder vorzeitig von ihren primären Bezugspersonen trennen – egal ob sie gut oder böse waren, vollzieht sich unbemerkt ein Wandel, dessen Folgen wir noch nicht abschätzen können. Diesen Umstand sollten wir uns unbedingt vergegenwärtigen, um seine „Normalität“ angemessen beleuchten zu können.
Die Entscheidung, wie viel Zeit eine Gesellschaft den Kindern gewährt, sich so an ihre Eltern zu binden, dass sie im Dialog mit ihnen ein inneres primäres Objekt aufbauen, um sich selbst und die Welt kennen zu lernen, wird bestimmt durch die kulturellen Maßstäbe und den Lebensstandard.
Selbst wenn heutzutage deutlich günstigere und kindorientiertere Bedingungen den Krippenalltag prägen, müssen wir uns darüber klar sein, dass sich die Kinder aus der Bindung mit den „primären Bezugspersonen“ etwas zurückziehen müssen, also ihre Eltern dementsprechend weniger „besetzen“, um die neue Realität bewältigen zu können. In diesem Zusammenhang müssen wir annehmen, dass den „sekundären Bezugspersonen“ für die Entfaltung der inneren Welt ebenfalls eine prägende Rolle zukommt. Inwieweit das Kind seine primären Erfahrungen mit den Erzieher:innen fortführen und erweitern kann oder ob es zu Brüchen, zu äußerer Anpassung kommt, hängt von vielen Faktoren ab. Der Bindungsforscher Richard Bowlby (Sohn von John Bowlby) meint:
Es „müssen sich Fachleute Sorgen machen, dass in vergleichbarer Weise, wenn auch weniger traumatisch und sehr viel schwerer nachweisbar, Säuglinge und Kleinkinder analoge Entwicklungsbeeinträchtigungen (wie Pflege- und Heimkinder) erleiden, weil sie an jedem Arbeitstag für viele Stunden in Gruppen Fremdbetreuung untergebracht sind. Diese Probleme scheinen besonders ausgeprägt für Kinder im Alter zwischen 6 und 30 Monaten zu sein, sobald sie von fremden Menschen anstatt von einer Bezugsperson, die sie gut kennen und der sie vertrauen, versorgt werden. Meine Überzeugung wächst, und wird von vielen im Gesundheitswesen geteilt, dass daraus resultierende Verhaltensauffälligkeiten vielleicht nur die Spitze eines Eisbergs sind, und dem Ganzen verbreitete, unterschwellige psychische Störungen zugrunde liegen, die die zukünftige emotionale Resilienz (Widerstandsfähigkeit) und das spätere seelische Gleichgewicht von Kindern beeinflussen“ [1].
Der stille Kontextwandel der Erziehung
Dass frühe Fremdbetreuung zum „normalen“ Aufwachsen dazugehört, müssen wir als Ausdruck einer veränderten Auffassung über Elternschaft deuten, die zugleich im selbstverstärkenden Sinne das Elternsein verändert. Man könnte von einem Kontextwandel sprechen, der sich in der DDR bereits vollzogen hatte:
Für die Kindererziehung stehen primär nicht mehr natürliche Beziehungspersonen in der Verantwortung, sondern Institutionen und Experten.
2019 besuchten in Deutschland 35 % der Kinder unter drei Jahren eine Krippe, im ehemaligen Ostdeutschland waren es durchschnittlich 52 % und ginge es nach dem Wunsch der Eltern im ganzen Land, würden es 60 % gewesen sein [Statistisches Bundesamt Destatis 1.3.2019]. In Zahlen ausgedrückt wurden 829.200 Kinder (unter 3 Jahren) fremdbetreut. Gegenüber dem Vorjahr 2019 waren es im März 2020 bereits 10.700 Kinder mehr und der Trend ist steigend. Frühe Fremdbetreuung ist also weder ein Einzelfall, noch findet sie gegen den Willen der Eltern statt. Kinderkrippen können Kinder bereits ab drei Monaten in ihre Obhut nehmen. Lieber haben es die Erzieher jedoch, wenn frühestens ab einem halben Jahr das Kind in die Gruppe kommt.
Die Situation der Eltern
Die meisten Eltern geben ihre Kinder nach dem ersten Geburtstag in die Krippe. Dann endet das regulär bezahlte Elternjahr und vor allem die Mütter der Kleinen suchen neben dem finanziellen Aspekt der Erwerbstätigkeit wieder Anschluss im Berufsleben. Für viele Arbeitnehmer hieße eine dreijährige Pause einen Karriereknick oder nach der Rückkehr ins Arbeitsleben gleich die fristgemäße Kündigung zu erhalten. Unter diesem Blickwinkel streben viele Eltern wieder das Berufsleben an. Möglich ist dies oft nur durch einen Krippenplatz für das Jüngste.
Die Situation in den Krippen
Die einzigen zwei größer angelegten Studien, die es in den vergangenen Jahren über die Qualität in deutschen Kitas gibt, offenbarten alarmierende Missstände: Schon bevor der Rechtsanspruch auf einen Krippenplatz ab einem Jahr umgesetzt wurde, stellte die Nationale Untersuchung zur Bildung und Erziehung in der frühen Kindheit [NUBBEK 2015] fest, dass lediglich 3,2 % der Kitas für unter 3-Jährige einen guten bis sehr guten Qualitätsstandard aufwiesen [2]. Die DKLK-Studien 2019 und 2020 bezeichneten die Personalsituation in deutschen Kitas als dramatisch, Mehr als 90 % mussten in den vergangenen 12 Monaten zumindest zeitweise mit einer bedenklichen Personalunterdeckung arbeiten, sodass die Aufsichtspflicht nicht mehr gewährleistet war [3].
Ein Großteil der Erzieher:innen arbeiteten an ihrer Belastungsgrenze [4]. In dieser Situation verbrachten und verbringen Babys und Kleinkinder viel Zeit – häufig acht Stunden und mehr – in zu großen Gruppen mit häufig wechselnden Erzieher:innen. Die tatsächliche Fachkraft-Kind-Relation bei unter 3-Jährigen in den letzten beiden Jahren war bei weit über 90 % schlechter als die wissenschaftlich geforderte Zielgröße von 1:3. Insgesamt verschärfte sich der Fachkräftemangel in der Frühpädagogik im letzten Jahr weiter [5]. Aber wissenschaftliche Studien zeigen:
Eine feinfühlige, verlässliche Beziehung zwischen Erzieher:in und Kind ist der zentrale Faktor für eine gute Betreuungsqualität.
Aus entwicklungspsychologischen Gründen ist es daher notwendig, dass die Fachkraft-Kind-Relation von 1:3 für Kinder unter 3 Jahren nicht überschritten und möglichst ohne Betreuerwechsel bei einer Gruppengröße von 6 höchstens 8 Kindern gewährleistet wird [6, 7, 8].
Die Situation der Erzieher:innen
Die grundsätzliche Problematik des Fachkräftemangels wurde in den letzten Jahren vor allem durch die rasche Erweiterung der Krippenplätze, aber auch durch vergleichsweise geringe Bezahlung und anhaltenden Stress am Arbeitsplatz verursacht. Der hohe Krankenstand, die große Fluktuation und das häufige Aufgeben des Berufs sprechen für sich.
Bisher gibt es keine verlässliche Perspektive für eine Lösung des massiven Mangels an Erzieher:innen.
Nach einer Studie des Deutschen Jugendinstituts (DJI) mit der TU Dortmund wird es bis 2025, selbst ohne Qualitätsverbesserungen, voraussichtlich eine Personallücke von insgesamt fast 330.000 Erzieher:innen geben. Wenn Qualitätsverbesserungen eingerechnet werden, wäre es sogar eine Personallücke von insgesamt ca. 600.000 ErzieherInnen. [9]
Wörtlich heißt es in der Studie: „(…) Es wären fast genauso viele, wie es heute schon gibt (…) eine Größenordnung, die unter den heutigen Rahmenbedingungen nicht wirklich vorstellbar ist.” Die Wirkung des Gute-Kita-Gesetzes wird von den Kita-Leitungen als kritisch bewertet, weil oft falsche Prioritäten gesetzt würden. Für die Mehrheit ist das Gute-Kita-Gesetz nur „ein Tropfen auf den heißen Stein” [10]. Aufgrund des Personalmangels mussten u. a. 75 % der Befragten 2019 auf Fort- und Weiterbildung verzichten.
Eine gute Qualität in Krippen hängt hauptsächlich von einer verlässlichen, bedürfnisorientierten Begleitung der Kinder durch die Erzieher:innen ab. Unbenommen ihrer pädagogischen Kompetenz, wie der Fähigkeit zu Empathie, Geduld, Übersetzung der kindlichen Sprache, sind die Erzieher:innen auf Rahmenbedingungen angewiesen, die ihnen ermöglichen, sich sowohl auf einzelne Kinder als auch auf die Gruppe zu konzentrieren.
Sie müssen Zeit und Raum haben, die Kinder kennenzulernen und sich ihnen individuell zuwenden zu können. Nur so sind sie fähig, die Stress-Signale des Kindes zu erkennen und diese möglichst zeitnah und angemessen zu regulieren.
Dies ist unter den derzeitigen Rahmenbedingungen kaum möglich.
Von außen ist die Qualität der pädagogischen Arbeit für Eltern nicht einfach zu beurteilen z. B. ob das Kind als Persönlichkeit wahrgenommen und individuell auf seine Bedürfnisse und Emotionen eingegangen wird.
von Agathe Israel
Szenen aus dem Krippenalltag
Weitere Informationen
Dies ist ein Artikel der Beitragsserie „Wie Kinder heranwachsen – Einsichten, Irrtümer und die Lehren für die Zukunft“. Wenn Sie vor Veröffentlichung der Einzelbeiträge den Artikel in Gänze lesen möchten, finden Sie ihn in unserem Elternkurs im Baustein „Kindheit“.
Links zum Thema
Krippenkinder in der DDR. Frühe Kindheitserfahrungen und ihre Folgen für die Persönlichkeitsentwicklung und die Gesundheit, Agathe Israel, Ingrid Kertz-Rühling, Brandes & Apsel
Die Bindungsbedürfnisse von kleinen Kindern
Resilienz – Das Geheimnis der psychischen Widerstandskraft
„Findings for Children up to Age 4 1/2 Years“, Zusammenfassung der NICHD-Studienergebnisse in laienverständlicher Form
Entwicklung der Bindungsbeziehung nach Mary Ainsworth 1964/2003, Entwicklungspsychologin, Fabienne Becker-Stoll, Direktorin des Staatsinstituts für Frühpädagogik in München