Der Aufbau des Krippensystems in der DDR war eine der wirkmächtigsten sozialpolitischen Maßnahmen der DDR-Regierung, die eine radikale Veränderung der frühen Kindheit nach sich zog, die in erster Linie den Müttern zu Gute kommen sollte. Babys konnten nach Ablauf des Mutterschutzes, also anfangs nach der 6. dann 12. Lebenswoche und schließlich ab 1986 ab dem 12. Lebensmonat – für ein minimales Entgelt – in der Krippe betreut werden. Diese Möglichkeit nahmen immer mehr Eltern in Anspruch – 1989 wurden ca 80 % der Null- bis Dreijährigen in der Krippe betreut, weil sie nicht nur zur möglichst frühzeitigen Wiederaufnahme ihrer Berufstätigkeit genötigt wurden, sondern viele es auch selbst wollten. An der traditionellen Rollenverteilung zwischen Mann und Frau, was Haushalt und Kinderbetreuung anbelangte, änderte sich in diesem Zusammenhang wenig.
Krippenbetreuung und Frühtrennung gehörte zur Normalität der frühen Kindheit in der DDR. Aber die überwiegende Mehrheit der Eltern übergab ihre Kinder nicht mit der Überzeugung in die Institution, dass dies ein besserer Ort als die Familie sei, sondern weil sie meinten, es tun zu müssen und weil es so üblich war. Bei einer Arbeitszeit von 8 ¾ Std. ging es um tägliche Trennungszeiten bis zu 10 Std., abhängig vom Arbeitsweg. Das Erziehungsprogramm sollte „das theoretische Rüstzeug für die erste Stufe des einheitlichen sozialistischen Bildungswesens schaffen“. Es wurde zwischen 1963 und 1967 unter der Federführung der Leiterin des Instituts für Hygiene des Kindes- und Jugendalters der DDR, Eva Schmidt-Kolmer, ausgearbeitet. Das Institut unterstand direkt dem Ministerium für Gesundheitswesen. Das Erziehungsprogramm erfuhr zwischen 1970 und 1974 eine immer minutiösere Ausgestaltung, so dass man von einem zeitlich straff durchgeplanten Krippenalltag und einer programmierten Erziehung sprechen muss [1].
Die Gleichschaltung von Familie und Institution
Mittels Entwicklungsbögen wurden die Ergebnisse der Erziehungsarbeit – gegliedert nach Sachgebieten – genau kontrolliert. So wurde in einem „Merkblatt zum Beschäftigungsplan“ festgehalten, ob das Kind sein Wochenziel erreichte. In diesem Zusammenhang wurde auch die Anwesenheit des Kindes überprüft, um sicherzustellen, dass alle Kinder die notwendigen Übungen absolvierten.
In den Krippen lebten die Kleinstkinder in überfüllten Gruppen – das konnten zwanzig und mehr Kinder sein, vorgesehen waren Gruppengrößen von 8 bis 10 Kindern, weil es an Erzieherinnen mangelte. So gehörten unruhige oder weinende Kinder zum Krippenalltag. Entsprechend groß war der Druck zur Anpassung und Unterordnung [2].
Aber das Erziehunsgkonzept/-programm sah auch gar keine andere Entwicklung vor, denn das gesellschaftliche „Bild vom Kind” basierte auf den Vorstellungen: Heranwachsende sind werdende Erwachsene. Sie sind nahezu grenzenlos formbare Rezipienten einer programmierten Erziehung. Sie sind zu füllen. Sie haben sich vor allem Fähigkeiten anzueignen, die die sozialistische Persönlichkeit ausmachen: mit rational-bewussten, gesellschaftsverpflichtenden, angepassten Verhalten.
Familie und Erziehungsinstitution sollten gleichsinnig funktionieren. Dafür wurde eine „einheitliche, geschlossene Erzieherfront“ geschaffen, die die „sozialistische Familienerziehung“ in eine politisch-ideologische Zielharmonie mit der gesellschaftlichen Erziehung bringen sollte [vgl. 3, 4, vgl. 5]. Entsprechend hatten sich die Eltern den Forderungen und dem Entwicklungstempo der Krippe unterzuordnen. Wünsche nach besonderer Zuwendung wurden als Extravaganzen: „Es will nur auf sich aufmerksam machen, aus der Reihe tanzen” abgelehnt.
Aus dem gesellschaftlich Bewussten wurde die Sehnsucht nach Individualität, Freiheit und Verbindung verdrängt oder abgespalten und den Kindern unterstellt, sie müssten dringend Einordnung, Gehorsam, Anpassung erlernen und dass eine Frühtrennung zum Leben dazugehört.
In den 70er-Jahren hatten die vorgegebenen Lebensstrukturen in der DDR ihr Höchstmaß an Konformität (Gleichschaltung) erreicht. Dazu gehörte auch die programmierte Früherziehung in den Kinderkrippen. Die Bedürfnisse des Einzelnen waren den Normen der Gruppe untergeordnet. Die Normen sollten die ideologisch erwünschten Erziehungsziele auch gegen die Interessen und Widerstände des Einzelnen durchsetzen. Merkmale der schwarzen Pädagogik sind hier nicht zu übersehen und setzten sich in der Schule, im Hort, den Massenverbänden der (jungen) Pioniere und Freien Deutschen Jugend u. Ä. im weiteren Lebensalter fort. So vollzog sich von frühester Kindheit bis in das Erwachsenenalter das Leben überwiegend in hierarchisch strukturierten Klein- und Großgruppen nach dem Modell: Führer – Geführter, Rede ohne Gegenrede.
Auch Feste, Feiern und kreative Gestaltungen lenkte und leitete die Erzieherin; Spontanität und Eigensinn hatten kaum einen Raum. Es wäre aber verfälschend, wenn nicht auch fröhliche und unbeschwerte Situationen genannt würden, wie Spaß beim freien Spielen und Toben, als sei die Krippe nur ein düsterer Ort gewesen.
Die Folgen eines autoritären Erziehungsstils
Mit der Akzeptanz der vorgegebenen Bevormundungsstruktur entfernte sich die DDR-Gesellschaft in ihrem unbewussten Selbstverständnis immer weiter von ihrer ursprünglichen Abkehr von den totalitären Verhältnissen der Nazizeit, deren Untaten durch Schweigen, Wegsehen, Mitläufertum und Stumpfheit gegen das Schicksal der anderen, von den normalen Bürgern mitgetragen worden waren. Es eröffnete sich ein (unbewusster) Konflikt, den Einzelne fühlten, der jedoch kaum gedacht und selten öffentlich diskutiert werden konnte:
Die Erziehungspraxis mit autoritären Strategien und Methoden von früher Kindheit an Mündigkeit, Empathie, Verantwortung „anerziehen” zu wollen, behinderte die Entfaltung gerade dieser Fähigkeiten. Denn ein entmündigtes Kind entwickelt eher gegenteilige Eigenschaften, wie „Passivität, Duckmäusertum, Heuchelei, aber auch Aggressivität“. [6]
So beförderte die Erziehungs- und Sozialpolitik der DDR die unbewusst bleibende Wiederkehr des Verdrängten.
Die entscheidenden Merkmale der DDR-Erziehungspraxis:
- Abrupte Trennung des Babys von seinen Eltern; in den 80er-Jahren dann stundenweise gestufte Eingewöhnung, aber „ohne” Mutter/Vater.
- Trennungsschmerz und Trennungsangst, die daraus entstandene Verwirrung des Kindes, seine Unfähigkeit zu spielen, werden weitestgehend ignoriert, das Kind alleine gelassen: „Es wird schon”.
- Zu große Gruppen Gleichaltriger, weil zu wenig Erwachsene für zu viele Kinder mit ihren gleichgerichtetem Interessen und Bedürfnissen zur Verfügung stehen, fehlt es dem einzelnen Kind an Hilfe und Aufmerksamkeit, dagegen Abfertigung in Eile beim Füttern oder An- und Ausziehen u. Ä., Kommandoton und harter Griff.
- Gleiches Tempo für alle Kinder wird bei den alltäglichen Verrichtungen vorgegeben und ohne Rücksicht auf das individuelle Tempo erwartet.
- Gruppennorm ist übergeordnet, Einordnung und Konformität werden belohnt, ein Dialog fehlt.
- Programmierte Erziehung: Das Lernen wird vom Erwachsenen gelenkt, geleitet und kontrolliert.
- Erziehung vermittelt Staatstreue: Verbreitung ideologischer Inhalte, Werte und Ängste im Freund-Feind-Bild.
- Die familialen und institutionellen Erziehungsziele sind weitestgehend gleichgeschaltet. Die Familie unterstützt die gesellschaftlich erwünschten Charakterstrukturen hinsichtlich Ordnung, Disziplin, Sauberkeit, Respekt vor dem Erwachsenen, der immer Recht hat.
Die Auswirkungen der DDR-Erziehungspraxis:
Meines Erachtens war (und ist) die Verweigerung der Empathie der Eltern und Erwachsenen gegenüber dem Baby der einschneidende Eingriff in die Entwicklung der Kinder.
Der Säugling musste die tägliche Trennung von seinen Eltern erleben. Wenn den damit verbundenen Trennungsschmerzen, Trennungsängsten, Bedrohungserleben der Trost versagt bleibt, das Mitgefühl verweigert wird, wirkt es seelisch vernichtend: „was willst du denn, hab` Dich nicht so, da muss man durch”, insbesondere dann, wenn Eltern und Erzieher sich gleichermaßen verhalten.
Denn den Kindern wird nicht nur ihre Not und Ängste an die Erwachsenen zu übergeben verwehrt, sondern sie fühlen sich auch „falsch” in ihrem Erleben, ohne zu verstehen weshalb und das ist für sie verwirrend.
Weil sie so wie die Erwachsenen noch nicht nachdenken können, sind sie darauf angewiesen, dass diese ihm übersetzen, den Sinn für das kindliche Befinden zu suchen.
Geschieht dies nicht, verbleibt das Kind in seinen existentiellen Ängsten, wird überflutet von seinen rohen körperlichen und seelischen Zuständen und fühlt sich bedroht. Die bleiben nicht mentalisiert im Körperstress verankert, führen zu geschwächter Immunlage oder primitiven Reaktionen wie sogenannten „Impulsdurchbrüchen” [7].
Für weniger nachhaltig wirkend und schädlich halte ich die ideologischen Einwirkungen also Geschichten, Lieder und Gedichte vom Klassenfeind und der wehrhaften Armee, den guten Sowjetsoldaten, der fürsorglichen Regierung und Appelle zum Fleißig sein, weil davon die unmittelbare Erlebniswelt des Kindes kaum betroffen war, wenngleich nach der Wende dieser Aspekt der Früherziehung von westdeutschen Kleinkindpädagogen besonders unter die Lupe genommen wurde.
Gewiss hat aber eine weniger spektakuläre Praxis die Persönlichkeitsentfaltung beeinflusst:
Der Zwang zur Konformität, der fast den ganzen Krippentag der Kleinstkinder durchzog, besonders das tägliche Warten müssen beim Füttern, Windeln, Anziehen, das Schlange stehen und Stillhalten, das Gleichmaß.
Das „liebste” Kind war das brave, welches sich am besten anpasste. Das „böse” Kind wurde bestraft.
Windeln ins Gesicht schlagen, wenn es mit dem Toilettengang nicht klappte, in der Ecke stehen, wenn es nicht schlafen oder Zwang, wenn es nicht essen wollte, waren keine Seltenheit. Jenseits solcher deutlichen Auffälligkeiten fielen im körperlichen Ausdruck der Kitakinder in der DDR ihre Unruhe auf, wobei sie zugleich wenig ausholende Bewegungen ausübten; eher waren die Arme eng am Körper, die Schulter angezogen, der Kopf leicht geneigt, das Gesicht blass, vermutlich ein unbewusster kollektiver Ausdruck früher Ängste.
von Agathe Israel
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Dies ist ein Artikel der Beitragsserie „Wie Kinder heranwachsen – Einsichten, Irrtümer und die Lehren für die Zukunft“. Wenn Sie vor Veröffentlichung der Einzelbeiträge den Artikel in Gänze lesen möchten, finden Sie ihn in unserem Elternkurs im Baustein „Kindheit“.
Links zum Thema
Krippenkinder in der DDR. Frühe Kindheitserfahrungen und ihre Folgen für die Persönlichkeitsentwicklung und die Gesundheit, Agathe Israel, Ingrid Kertz-Rühling, Brandes & Apsel
Die Bindungsbedürfnisse von kleinen Kindern
DDR-Erbe in der Seele – Kindheitserlebnisse verarbeiten, Interview mit Udo Baer
Resilienz – Das Geheimnis der psychischen Widerstandskraft
„Findings for Children up to Age 4 1/2 Years“, Zusammenfassung der NICHD-Studienergebnisse in laienverständlicher Form