Die institutionalisierte Früherziehung in Kinderkrippen, die in der DDR bereits in der dritten Generation zur Tradition gehörte, wurde ab 2012 auch gesetzlich in der vereinten Bundesrepublik eingeführt und veränderte damit die Vorstellung und Praxis der Elternschaft erheblich.
Wir müssen uns fragen, wie ehrlich meint es die Gesellschaft mit dem Recht auf Förderung und Bildung mit der sie die Frühtrennung von den primären Beziehungspersonen rechtfertigt. Geht es wirklich um die Kinder oder geht es um das Schicksal der Eltern? Wie sieht die Unterstützung eines Kleinstkindes aus? Wie lernt ein Baby?
Vielleicht bedient die aktuelle Praxis der Frühbetreuung das gesellschaftliche Unbewusste, die kollektive Verdrängung der Sehnsüchte nach Halt, Geborgenheit und Verbindung? Wird deshalb die Frühtrennung von den Eltern praktiziert, die Verantwortung an Erziehungsexpert:innen abgegeben, das Kind in Gleichaltrigengruppen untergebracht? Selbstverständlich gibt es vordergründig eine plausible Erklärung: Beide Eltern wollen so rasch wie möglich wieder in ihren Beruf zurückkehren, das bisherige Leben wieder aufgreifen, den Lebensstandard halten. Noch nie gab es eine derartig umfangreiche „Kinderindustrie” wie heutzutage, also Lehr- und Sachbücher über Erziehung und Kinderpflege, Kurse, Anleitungen, die sicheres und schmerzarmes Gebären versprechen, technische Hilfsmittel zum Tragen, Beruhigen, Pflegemittel, Bekleidung, Ernährungsprodukte. Kinder sollen mit allen Mitteln zufrieden, glücklich, abgesättigt, schmerzfrei, ausgeglichen gemacht werden. Eltern gehen ganz selbstverständlich davon aus, dass ein Baby von ihnen erwartet, „bespielt” zu werden.
Selbstverständlich wollen Eltern, die sich all dieser Dinge bedienen, damit das Beste für ihr Kind bewirken. Aber zugleich spalten sie einen Teil der Realität ab, der unweigerlich zum Menschsein gehört:
Ständig schwingen wir zwischen unterschiedlichen Daseinszuständen: wie müde-wach, hungrig-satt, sicher-bedroht, schwach-stark, aktiv-passiv, lieben-hassen usw., so wie jede Körperzelle ebenfalls zwischen Wachsen und Altern pulsiert .
Das Bewusstsein fehlt, dass diese Polarisierungen unser Leben ausmachen. Wenn aber ein schmerzfreier Dauerzustand der Befriedigung als „normal” propagiert wird, dann darf es unsichere Eltern, unzufriedene Babys nicht geben, ebenso darf keine Ungewissheit darüber aufkommen: Was erlebt mein Kind?
Ratgeber und Experten mit ihren klaren Antworten, Minutenangaben, wie lange man ein Baby mindestens halten soll und ähnliches, scheinen besser befähigt. Eltern und Angehörige verlassen sich nicht oder wenig auf ihr Fühlen und Denken, auf ihre Intuitionen und vergessen ihre einmalig prägende Beziehung.
von Agathe Israel
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Dies ist ein Artikel der Beitragsserie „Wie Kinder heranwachsen – Einsichten, Irrtümer und die Lehren für die Zukunft“. Wenn Sie vor Veröffentlichung der Einzelbeiträge den Artikel in Gänze lesen möchten, finden Sie ihn in unserem Elternkurs im Baustein „Kindheit“.
Links zum Thema
Krippenkinder in der DDR. Frühe Kindheitserfahrungen und ihre Folgen für die Persönlichkeitsentwicklung und die Gesundheit, Agathe Israel, Ingrid Kertz-Rühling, Brandes & Apsel
DDR-Erbe in der Seele – Kindheitserlebnisse verarbeiten, Interview mit Udo Baer
Die Bindungsbedürfnisse von kleinen Kindern
Resilienz – Das Geheimnis der psychischen Widerstandskraft
„Findings for Children up to Age 4 1/2 Years“, Zusammenfassung der NICHD-Studienergebnisse in laienverständlicher Form